Die Richterin und der «Anarchist»

Dankrede der Preisträgerin Foto: hbn

Die Schriftstellerin und promovierte Juristin Juli Zeh hat am 8. November 2019 den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln erhalten. In ihrer Dankrede[1] ging sie auf die Rolle des politischen Schriftstellers in der Gesellschaft, ausgehend „vom Fluchtpunkt «Heinrich Böll» ein und nahm „die jüngere Entwicklung von politischer Autorenschaft … während der letzten zwanzig Jahre, in den Blick“. Sie stellte fest: „Literatur und zu einem gewissen Grade auch die Literaten selbst, sind Zeitgeist-Seismographen. Ob die Autoren wollen oder nicht – in ihrem Denken, Reden und Schreiben scheint immer auch eine verdichtete Form von kollektiver Befindlichkeit auf…. Die Frage nach dem Zustand politischer Autorenschaft misst also gleichzeitig dem gesamtgesellschaftlichen politischen Selbstverständnis den Puls.“ Zu Beginn des 21. Jahrhunderts konstatiert sie eine „flächendeckende De-Politisierung von Nachwuchsschriftstellern und anderen Intellektuellen … als eine überhebliche Abwendung des Individuums von der Gemeinschaft. Am treffendsten fasst man es mit einem auf den ersten Blick oberflächlichen, auf den zweiten jedoch verdammt abgründigen Begriff: Politik war irgendwie “uncool” geworden.“

Zunehmend wurde „Politikverdrossenheit zur mehrheitsfälligen Politikverachtung“. Und weiter: „Auf einmal waren die Intellektuellen nicht mehr nur auf coole Weise desinteressiert an Politik – sie waren ausdrücklich dagegen. Nicht gegen ein bestimmtes politisches Programm (das sie ja auch gar nicht gelesen hatten), sondern gegen Politik an sich. Vor allem gegen Politiker, alle Politiker, die immer unverfrorener als minderwertiger Menschenschlag geschildert wurden.“

Unter Bezug auf Heinrich Böll stellt Juli Zeh dazu fest:

„Man muss sich nur einmal vor Augen halten, wie kilometerweit dieses verächtliche Benehmen, diese zynischen Äußerungen entfernt sind von dem, was einst Heinrich Böll unter politischem Engagement verstand. Böll war ganz bewusst kein Mitglied einer Partei. Auch war er genug Kind seiner Zeit, um jeder Form von Obrigkeit mindestens skeptisch gegenüberzustehen. Er wird teilweise sogar als Anarchist bezeichnet, was ich persönlich nicht so treffend finde. Oder höchstens in dem Sinn, in dem Böll selbst den Anarchisten definiert hat, nämlich als einen „Menschen, [der] verschiedene Lebensstile und Interessen in einer Gesellschaft (zusammen)denken“ kann. Bei allem gepflegten Einzelgängertum – Heinrich Böll vertrat zeit seines Lebens das Ideal des aufgeklärten, verantwortungsbewussten Citoyens. Er wirkte im Herzen der bundesrepublikanischen Demokratie und nicht gegen sie.“

Über das, was Bölls Verständnis von Anarchismus war, hätte Juli Zeh in der Dankesrede des ersten Böll-Preis-Trägers, Hans Mayer, fündig werden können.[2] Dort verweist Mayer auf das Vorwort Bernd Balzers zum ersten Band von Bölls gesammelten Romanen und Erzählungen. Es steht unter dem Titel »Anarchie und Zärtlichkeit«. Bölls Verständnis davon wird am Beispiel seiner Werke ausführlich analysiert. Unter Bezug auf einen seiner letzten großen Romane «Gruppenbild mit Dame» heißt es dort: „Das Modell einer – weiterhin anarchistisch strukturierten – Gegengesellschaft ist nach Bölls Ansicht »realisierbar, wenn Solidarität entsteht mit gleichzeitiger Analyse der Umwelt. Nicht auf romantische Weise …man muß schon ganz genau wissen, in welcher Welt man lebt…. Als eine »profitlose und klassenlose Gesellschaft« will er dieses Modell verstanden wissen;…“[3]

Hans Mayer in seiner Dankesrede: „Leni Gruyten und Katharina Blum stehen für viele. Hier hat einer, in unseren Tagen, das alte Thema »Köln und die Literatur« neu behandelt. Nichts ging verloren von der plebejischen Tradition, von der Parteinahme für die kleinen Leute, vom Neinsagertum und von der Widersetzlichkeit.  Alles aber wurde zugleich zum Bestandteil der Weltliteratur.“ Und in Bezug auf „die so gewaltigen Kräfte des Neubeginns“ nach 1945 konstatiert Mayer: „Den Ausschlag gab das plebejische und nach wie vor bäuerliche Element des Vorgebirges und des Niederrheins. Dorther kam auch das Moment der süßen Anarchie, einer fundamentalen Aufsässigkeit, die es offenbar immer wieder gegeben hat.“[4]

Das Fazit der ehrenamtlichen Verfassungsrichterin Juli Zeh:

„Wir, jeder Einzelne von uns, als Schriftsteller, als Bürger, sind das Rückgrat der Demokratie, sofern wir selbst ein Rückgrat besitzen. Die demokratische Freiheit hat meine Generation geschenkt bekommen. Jetzt müssen wir noch stark genug werden, um uns selbst und einander in Freiheit zu ertragen. Denn das ist Politischsein im besten demokratischen Sinne: immer wieder das Anders-Sein des Anderen als Äquivalent und Bedingung der eigenen Selbstverwirklichung zu erkennen. Heinrich Böll hat vorgemacht, wie das geht: verschiedene Lebensstile und Interessen in einer Gesellschaft zusammendenken.“

Freude über den Heinrich-Böll-Preis (Foto: hbn)

 

[1] Juli Zeh, Wir tragen alle Mitschuld, in: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-11/politikverdruss-juli-zeh-heinrich-boell-demokratie-intellektuelle

[2] Siehe Hans Mayer Aufklärung heute – Reden und Vorträge 1978-1984, Frankfurt am Main1985, S. 131

[3] Heinrich Böll, Romane und Erzählungen 1, S. [134]

[4] Hans Mayer, Köln: eine Stadt, die auch ihr Gegenteil ist, in: Hans Mayer, Stadtansichten, Frankfurt am Main 1989, S. 44f