Die „Duldung“ des Autors

Schriftsteller im Netz des Ausländerrechts – Rainer Maria Rilke und Hans Mayer in der Schweiz

 I. Der halblegale Aufenthalt als „Duldung“

Goethe schreibt in den »Maximen und Reflexionen«: „Toleranz muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“.[1]

Er meinte damit nicht den spezifisch-neuzeitlichen Begriff des „Aufenthaltstitels“ Duldung. Das mit der Entstehung von Nationalstaaten einhergehende Aufenthalts- oder Ausländerrecht war zu seiner Zeit noch kaum entwickelt: Und doch passt dieser Begriff exakt für diesen „Titel“, wenngleich er unter diesem Aspekt von der Literaturwissenschaft bis heute kaum untersucht wurde.

Bisweilen jedoch sollten jedoch Literaturwissenschaftler bei der Analyse der Biografie von Autoren Vertretern anderer Fachrichtungen den Vortritt lassen, ja vielleicht sogar deren Erkenntnisse zum Anlass eigener Untersuchungen nehmen. Dies gilt vor allem dann, wenn Umstände im Leben eines Autors mit literaturwissenschaftlichen Mitteln weder geklärt noch auf ihre Bedeutung für dessen Werk untersucht werden können.

Im Gegenteil: Dem Nur–Literaturwissenschaftler bleiben manche Umstände im Leben des Autors bisweilen gänzlich verborgen oder werden von ihnen in ihrer Bedeutung für das Werk des Autors nicht erkannt.

Mir fiel dies aufgrund eigener jahrelanger Erfahrungen als „Ausländeranwalt“ bei der kritischen Analyse der Biografien Rainer Maria Rilkes und des Literaturwissenschaftlers (!) und Autors Hans Mayer auf. Beide hatten – wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Intensität – Begegnungen mit einem illegalen oder – schlimmer noch – halblegalen Aufenthalt. Und zwar in Gestalt einer behördlichen Willkür freien Lauf lassenden „Duldung“. In ihrem Fall in der Schweiz. Diese „Duldungen“ hatten – wie bei allen Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben – zweifellos gravierende Folgen für ihr Leben, für ihr Sicherheitsempfinden, für ihre Arbeit. Dabei war und ist es vor allem das Gefühl des Ausgeliefert-Seins an die Willkür einer unberechenbaren Behörde und der schwierige Kampf um die Sicherung des Aufenthaltes, die ihre Lage kennzeichnete.

Das was man als „illegalen Aufenthalt“ bezeichnet, ist für den Betroffenen nicht nur von fundamentaler existenzieller Bedeutung. Es ist gleichzeitig – trotz aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Rechtsordnungen – zu nahe zu allen Zeiten ein gleichbleibendes Phänomen: Es fängt an bei der illegalen Einreise in ein Land, die auf zweifacher Weise vorkommen kann: Die Einreise ohne Pass oder die Einreise ohne Visum. Es geht weiter zum illegalen Aufenthalt der – solange der Betroffene nicht abgeschoben wird oder abgeschoben werden kann – übergeht in den unsicheren Status der bloßen Duldung.

Geändert hat sich dies nach 1945 nur durch das Recht der politischen Flüchtlinge, das aufgrund der Erfahrungen politisch Verfolgter im Exil einen scheinbaren sicheren Status erfuhr. Doch wurde das Asylrecht bekanntlich nicht nur in Deutschland weitgehend zurückgeschraubt, auch die Struktur und die Funktionsweise des Aufenthaltsrechts stammt immer noch aus der Zeit von vor 1945.

II.  Die Duldung des Juden und „Roten Kämpfers“ Hans Mayer
Im Gegenteil: In manchen Bereichen werden das Aufenthaltsrecht und das Grenzregime noch strikter gehandhabt als dies zuvor der Fall war: Ohne Pass und ohne gültige Papiere reiste der politisch Verfolgte Hans Mayer 1933 über Belgien und Luxemburg nach Strasbourg.[2] In Belgien fragte ihn niemand im Hotel nach seinen Papieren.[3] Der Deutsch-Schweizer Dr. Leo Jenni brachte ihn ohne Pass und Visum von Frankreich nach Genf, bevor er im Laufe der folgenden Jahre mehrfach ohne jede Kontrolle „die Grenze im Jura und Savoyen“[4] überschritt.

Hingegen war die aktuelle Lage an der deutschen Grenze noch v o r der Flüchtlingswelle 2015 und auch vor Corona gekennzeichnet von der „Unsichtbarkeit“ der Grenzorgane bei ihrer gleichzeitigen Effektivität. Ich erinnere mich, wie ich etwa um das Jahr 2000 mit dem Fahrrad bei Højer in Dänemark auf dem Deich ein unbemanntes Grenzhäuschen passierte und in exakt in dem Moment des Grenzübertritts ein unter einer Linde versteckter Pkw der Bundespolizei auf den Deich schoss, um mich zu kontrollieren. Ich war deutscher Staatsangehöriger und „reiste“ mit deutschem Pass nach Deutschland ein…

Die Legenden um den Wegfall von Grenzen und die Liberalisierung des Aufenthaltsregimes halten sich hartnäckig. Doch sie sind nur bei denen verbreitet, die das tatsächliche Ausländerrecht und die Realität der Passlosigkeit nicht kennen. Dies gilt z. B. für die mir als Anwalt immer wieder begegnete Bestrafung des passlosen, abgelehnten Asylbewerbers. Darunter waren und sind Ausländer, deren „Duldung“ 30 Jahre lang (!) alle 3 Monate verlängert wurden und die zigmal zum Konsulat ihres Heimatlandes geschickt wurden, um sich Ersatzpapiere ausstellen zu lassen, aber die Papiere nicht bekamen und dann wieder „zu Straftätern“ wurden (wobei natürlich dem „Geduldeten“ jegliche Arbeitsaufnahme verwehrt wurde…).

Was dieses und Ähnliches für einen freien Autor bedeutet oder bedeuten kann, lässt sich unschwer erahnen. Als Hans Mayer schließlich 1938 freier Mitarbeiter der Zeitschrift „Tat“ in Zürich wurde, war ihm „jegliche Tätigkeit gegen Entgelt …“ streng untersagt.[5]

Zu der sozialen und ökonomischen Unsicherheit kommt beim „Geduldeten“ die Unsicherheit der formellen Existenz, die Ungewissheit des Aufenthaltsstatus, der grundsätzlich jederzeit zur Abschiebung in das Heimatland oder in ein anderes Land führen kann. Nachdem die Illegalität Hans Mayers den Schweizer Behörden schließlich 1939 bekannt wurde, wurde er nach Frankreich „ausgeschafft“.[6] Am Vorabend des 2. Weltkrieges war die Grenze nach Frankreich bereits geschlossen und er konnte und durfte die Grenze nur deshalb nicht übertreten. Durch die Intervention eines Genfer Staatsrats wurde schließlich die Ausweisung zurückgenommen.[7]

Doch das schützte ihn vor der Internierung in einem „Arbeitslager für Emigranten“ nicht. 1942 ging an alle Grenzstellen in der Schweiz die Weisung, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen und alle, die die Grenze illegal überschritten hatten, wieder „zurückzustellen“.[8] Das aber bedeutete für die Betroffenen den sicheren Tod. Hans Mayer war politisch Verfolgter und er war a u c h Jude. Als Emigrant, der v o r dieser Maßnahme die Schweiz betreten hatte, war er nicht ganz papierlos. Das schützte ihn einstweilen. Doch sicher konnte er auch dadurch nicht sein.

In dieser Lage erlahmten all jene Kräfte, die zum Schreiben erforderlich waren. Er sagte später über diese Zeit: „Ich ließ mich hinleben.“[9] Er glaubte an eine noch vor ihm liegende Zukunft. Er war noch jung und gesund. Und als Hauptgrund für seine (scheinbare) Indifferenz gegenüber dem Migrantenschicksal erkannte er, „dass ich kein Heimweh hatte“.[10] Er musste also „nur“ warten. Und er wartete. Aber Warten ist keine Arbeit. Und auch nicht die Arbeit eines Autors.

Es sei daran erinnert, dass diese Ungewissheit und dieses unproduktive Warten auf etwas, das noch kommt, entgegen allen anderslautenden Gerüchten auch heute noch vorkommt. Wer ohne Dauervisum in die Bundesrepublik Deutschland einreist, kann keinen Daueraufenthalt begründen. Wer als Tourist kommt, muss auch als Tourist gehen und darf nicht einwandern. Und wessen Pass ungültig ist, kann gar keinen Aufenthalt bekommen und ihn auch nicht verlängern lassen. Pass – Visum – Aufenthalt; das sind die wesentlichen Elemente dieses Systems. Sie hängen alle miteinander zusammen. Dazwischen steht die Ungewissheit des Aufenthalts als bloße Duldung. Ein Zustand dauerhafter Ungewissheit. Ein Zustand des ungewissen Wartens.

Wie oft fragen wir einen im Exil lebenden Autor nach „seinem“ Status? Er ist uns unbekannt. Es kann ein sicherer sein. Aber auch ein völlig ungewisser. Offenbar geht dieser Status nur ihn – den Exilanten – etwas an. Wir jedenfalls fragen nicht danach.

III. Flucht und Duldung Rainer Maria Rilkes
Rainer Maria Rilke verließ Deutschland am 11.06.1919. Es ist unklar, ob dies auch subjektiv ein endgültiger Abschied (aus München) war und ob er letztlich politisch motiviert war. Rilke hat sich dazu später gegenüber Ernst Toller wie folgt geäußert:

„Ich bin auch nicht aus München vertrieben worden, wo ich mich 1919 aufhielt. Eine Hausdurchsuchung war die einzige mir dort bereitete Unannehmlichkeit. Aber man zwang mich nicht, die Stadt zu verlassen. Ich folgte einer Einladung in die Schweiz.“[11]

Doch was will das heißen? Auch Hans Mayer „zwang man nicht, Deutschland zu verlassen. Er hatte noch am 04.07.1933 die große juristische Staatsprüfung im Preußischen Justizministerium abgelegt, und zwar mit einem Beisitzer namens Roland Freißler.[12] Aber er ahnte natürlich, was auf ihn zukommen würde, denn er bezeichnete sich gern und offen als „Roter Kämpfer“[13] und er war bei aller Intellektualität ein durch und durch politischer Mensch.

Anders als Rilke, der erst kurz vor der Novemberrevolution vor 1918 „begann … linke Positionen zu unterstützen“[14]. Seiner Frau Clara Westhoff schrieb er zwar, dass man nicht anders als zugeben könne, „dass die Zeit Recht hat, wenn sie große Schritte zu machen versucht.“[15] Und eröffnete seine Atelierwohnung in der Ainmillerstraße in München auch für inoffizielle Treffen revolutionärer Schriftsteller, zu denen Ernst Toller gehörte.[16] Er kannte Kurt Eisner und korrespondierte mit diesem. Doch bekannte er seine Überzeugungen keineswegs gegenüber allen Freunden. Vor allem gegenüber dem Verlegerehepaar Kippenberg zeigte er sich verschlossen und hielt sich mit seiner politischen Meinung zurück.[17]

Vorbereitungen für eine Vortragsreise in die Schweiz hatte er auf Drängen Kippenbergs getroffen.[18] Aber der Abreise selbst war nicht – wie Rilke später gegenüber Toller bekannte – e i n e Hausdurchsuchung vorausgegangen, sondern zwei! Daraufhin hatte er es abgelehnt, Toller bei sich zu verstecken. Er wusste, dass man ihn „auf dem Zettel“ hatte.

Die Entscheidung, Deutschland zu verlassen, musste auch aus einem anderen Grund endgültig gewesen sein, denn bei seiner Rückkehr wäre der aus Prag stammende Rilke als „Ausländer“ ausgewiesen worden oder gar nicht erst ins Land gelassen worden. Er hatte sich nicht nur politisch verdächtig gemacht, sondern er galt auch wegen des Endes der österreich-ungarischen Monarchie als staatenlos. Damit hätte er nie die Grenze zu Deutschland überqueren können. Später erhielt er einen tschechoslowakischen Pass, betrat aber nie tschechoslowakischen Boden. Auch nicht seine Heimatstadt Prag. Mit dem Pass verbesserte sich zwar der Status Rilkes, aber gleichzeitig verschlechterte er sich auch. Denn er konnte nun in die Tschechoslowakei abgeschoben werden, was er unter allen Umständen vermeiden wollte.

Stattdessen begann eine komplizierte Odyssee durch die Gefilde des Schweizer Fremdenrechts. Der Aufenthalt war zunächst nur für 10 Tage (!) bewilligt worden.[19] Doch schon in einem Brief vom 14.05.1919 an den Organisator seiner Vortragsreise, den Schweizer Dr. Hans Bodmer, drängte er darauf, „dass ein längerer Aufenthalt bewilligt wird oder doch Verlängerungsmöglichkeit gegeben ist“.[20] Ein weiterer Hinweis für die Absicht eines Daueraufenthaltes in der Schweiz und eines dauerhaften Verlassens Deutschlands. In einem weiteren Brief an Dr. Bodmer vom 16.06.1919 äußerte er die Idee nach genauer Überlegung, „die Verlängerung meines Aufenthaltes in der Schweiz durch ein ärztliches Attest zu bewirken“.[21] Damit er sich damit nicht zu dem Zweck seiner Reise (Vorträge) in einen Gegensatz setzen würde, schlug er vor, gegenüber der Behörde geltend zu machen, er sei genötigt, seine Vorlesungen „zunächst wegen schlechter Gesundheit aufzuschieben“.[22] Er schließt: „Hoffen wir, dass Bern sich geneigt erweist“.[23] Er hing an einem seidenen Faden. Er machte sich abhängig von der ihm zu attestierenden Krankheit, der Möglichkeit, die Vorträge zu verschieben, u n d einer „geneigten“ Fremdenpolizei. Und dies war und ist keineswegs etwas Untypisches für Menschen, die sich im Status der Halblegalität befinden. Sehr oft wird die Krankheit als Aufenthaltsgrund aufgeführt. Das ist auch heute noch so. Die Krankheit als Argument ist aber ein zweischneidiges Schwert. Einerseits bedeutet die eigentlich angestrebte Genesung den Wegfall des Aufenthaltes nach ihrem Eintritt, andererseits kann die Krankheit eben deshalb nie ein Argument für einen dauerhaften Aufenthalt sein. Und tatsächlich dient das Argument teils nur einem gewissen Zeitgewinn, wobei jederzeit die Gefahr besteht, dass die Fremdenpolizei oder Ausländerbehörde eine dauerhafte Erkrankung des Betroffenen zum Anlass nimmt, den Aufenthalt ganz abzulehnen und bei „Transportfähigkeit“ sogar eine Abschiebung vornimmt.

Um die behördliche Willkür, von der er ja letztlich abhing, zu minimieren, schaltete Rilke eine Reihe von Freunden ein, die über Beziehungen zu den Behörden verfügten. Nach Dr. Bodmer war dies vor allem Hanns Buchli. Diesem schreibt er ein Jahr später, er sei in die Schweiz gekommen mit einer Bewilligung für nur 10 Tage und diese sei „mittels ärztlichem Attest“ dreimal für je 3 Monate verlängert worden.[24] Aus der Vortragsreise von 10 Tagen war also ein Aufenthalt mittels Krankheit von 9 Monaten geworden. Aber das erscheint, wenn es so dahingesagt wird, viel leichter als es getan war und irgendwann würde auch diese „Lösung“ erschöpft sein. Das wusste Rilke nur zu genau. Am 07.04.1920 schreibt er an Hanns Buchli:

„Tun Sie … bitte für mich keine weiteren Schritte. Ich versuch es, mich mit diesen Aussichten auszusöhnen … Jede Möglichkeit …, die ich den Verhältnissen der Schweiz jetzt noch abringen vermöchte, wäre doch am Ende nur ein Provisorium“.[25] Doch dann schreibt er nur knapp 3 Wochen später an Buchli, er läge doch Wert darauf, „noch bleiben zu dürfen“.[26] Zwei Gründe nennt er: Eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und die Ausweisung aller nach dem 01. August 1914 zugezogenen Ausländer in München.

N u n wird die Verschlechterung der Gesundheit zum Verlängerungsgrund. Mehr als Hoffnungen kann er an diese Argumentation nicht knüpfen und bezeichnender Weise schreibt er an Buchli: „Vielleicht kommen Sie in die Lage, dieses bei den Behörden in ein rechtes Licht zu setzen.“[27]

Plötzlich tritt eine Besserung seines Zustandes ein und er erkennt sofort den Widerspruch zu dem von ihm genannten Aufenthaltsgrund [28] Dieses Mal verzichtet er aber auf ein Attest und hebt den geplanten Besuch „Baseler Bibliotheken und Sammlungen“ hervor. Er endet mit dem Satz: „Hoffen wir also.[29] Schließlich erhält er eine Aufenthaltsbewilligung. Die Schweiz und vor allem das Walis wird ihm zur letzten Heimat. Im Turm von Muzot vollendet er seine Duineser Elegien.

IV. Krankheit und Duldung
Hans Mayer schreibt über eine Reise im März 1943 in das Wallis: „Da lag das Türmchen von Muzot, wo Rilke gewohnt hatte, aber man wurde nicht eingelassen. Dorthin durften nur richtige Dichter.“[30] Er war noch kein „richtiger“ Literat und er empfand sich auch nicht so. Rilke hingegen war schon Legende. Er vollendete sein Werk in der Schweiz so gut es eben ging. Als die letzte Elegie fertig war, verschlimmerte sich sein Leiden. 1926 verstarb er nach schwerer Krankheit. Die Krankheit begleitete ihn auch in seinem Ringen um einen legalen Aufenthalt in der Schweiz. Es kann kaum geleugnet werden, dass die positive Rolle einer „Verschlimmerung“ seiner Krankheit im Zusammenhang mit der Verlängerung seines Aufenthaltes Auswirkungen auf seine Psyche gehabt haben muss. Nur Mediziner können die Frage beantworten, ob diese „positive Rolle“ auch den Krankheitsverlauf selbst beeinflusst hat. Wer seinen Aufenthalt und damit einen Teil seines Lebensglücks an eine schwere Krankheit kettet, begibt sich in kaum beherrschbare Gefahren. Doch dies war alles andere als ein Rilkescher Charakterzug, es waren vielmehr die Zwänge des zu allen Zeiten inhumanen Aufenthaltsrechts, denen er auf andere Weise nicht Herr zu werden vermochte. Hans Mayer hingegen befand sich vom Zeitpunkt seiner Internierung an in einer eher passiven Rolle. Er ließ sich „dahinleben“ und wartete, wenn auch in ständiger Angst, auf bessere Zeiten. Die kamen dann auch für ihn. Er war in der Schweiz der Hölle des Nazi-Terrors entronnen und mit dem Ende dieses Terrors brach für ihn eine neue Zeit an.  Rilke befand sich in einer vergleichsweisen komfortablen Lage auf seinem Turm von Muzot, aber er hatte, nachdem sein Aufenthalt gesichert war, den Tod vor Augen. Beider Leben wären mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders verlaufen, wenn ihre Existenz nicht über Jahre hinweg von der Willkür des Aufenthaltsrechts gekennzeichnet gewesen wäre.

Goethe hatte –ohne zu wissen – Recht gegenüber dem ihm noch unbekannten „Ausländerrecht“. Toleranz muß zur Anerkennung führen, d.h. zum R e c h t auf Aufenthalt. Ohne dieses Recht ist der A u s länder nicht „anerkannt“. Duldung ist kein Recht, sondern blosse Willkür, die nicht nur den freien Autor seiner eigentlichen Freiheit beraubt. Duldung verdunkelt die freie Sicht auf das was geschrieben werden soll und geschrieben werden kann.

Rolf Geffken

* Dr. Rolf Gefken, ist ein deutscher Rechtsanwalt für Arbeitsrecht, Autor und Verleger, Dozent, China- und Schifffahrtsexperte. Er stand einige Jahre vor Hans Mayers Tod mit diesem in Verbindung. Das beide beschäftigende Thema war das (juristische) Problem der „Grenze“ und die damit verbundenen Arbeits- und Lebensbedingungen.
Wir freuen uns sehr, dass Dr. Geffken seinen Beitrag für die Veröffentlichung zum »Tag der Menschenrechte« dem 10. Dezember zur Verfügung gestellt hat.

[1] Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 151, in: Goethe, Hamburger Ausgabe, Band 12, 12. Auflage München 1982, S. 385
[2] Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen, Band 1, Frankfurt 1988, S. 164
[3] A.a.O., S. 167
[4] A.a.O., S. 193
[5] A.a.O., S. 229
[6] A.a.O., S. 256
[7] A.a.O., S. 257
[8] A.a.O., S. 261
[9] A.a.O., S. 190
[10] Ebd.
[11] Schnack, Rilke – Chronik seines Lebens und Werkes, 2. Auflage 1996, S. 639
[12] Mayer, a.a.O., S. 126
[13] A.a.O., S. 122 ff.
[14] Freedman, Rainer Maria Rilke – Der Meister 1906 – 1926, Frankfurt 2002, S. 276
[15] Brief an Clara Rilke-Westhoff, 7.11.1918, zit.n. Freedman, Band 2, S. 279
[16] Freedman a.a.O., S. 280
[17] A.a.O., S. 277
[18] A.a.O., S. 278
[19] Schnack, a.a.O., S. 643
[20] Rainer Maria Rilke, Briefe an Schweizer Freunde (Hrsg. Rätus Luck), Frankfurt 1990, S.15
[21] Ebd.
[22] A.a.O., S. 16
[23] Ebd.
[24] A.a.O., S. 50
[25] A.a.O., S. 56
[26] A.a.O., S. 61
[27] A.a.O., S. 63
[28] A.a.O., S. 68
[29] A.a.O., S. 70
[30] Mayer, a.a.O., S. 287

»Die starke Linke«

Friedrich Engels zum 200. Geburtstag
„Der schmale Fluß ergießt bald rasch, bald stockend seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theologische Federn und wortreiche alte Weiber gewöhnlich um des Kaisers Bart; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen, obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig und allein von den vielen Türkischrot-Färbereien.“[1]

Mit diesen wenig schmeichelhaften Worten beschreibt der 18jährige Fabrikantensohn aus Wuppertal in einer Zeitungsserie – allerdings unter dem Pseudomym Friedrich Oswald – seine Heimatstadt und die Lage der arbeitenden Klasse. Geboren am 28. November 1820 in Barmen, ist er auf Wunsch des reichen Fabrikantenvaters mit 17 Jahren zunächst im väterlichen Betrieb und dann in einem Bremer Großhandelskontor tätig; später in des Vaters Niederlassung in Manchester. Aufgrund der dortigen Erfahrungen schreibt Friedrich unter seinem richtigen Namen eine der frühesten soziologischen Studien über das Industrieproletariat in einem der ersten Industriezentren der damaligen Welt.[2]

In unmittelbar praktischer Begegnung mit den Arbeiterinnen und Arbeitern, der Anschauung ihrer Lebens- und Produktionsbedingungen sowie dem Studium klassischer Ökonomen verschafft er sich das Fundament zu einer fundierten Kritik des Kapitalismus und seiner Entwicklung. Im Vorwort zum ersten Heft »Zur Kritik der politischen Ökonomie« erklärt Karl Marx 1859: „Friedrich Engels, mit dem ich seit dem Erscheinen seiner genialen Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien … einen steten schriftlichen Austausch unterhielt, war auf anderem Wege … mit mir zu demselben Resultat gelangt und als er sich im Frühling 1845 ebenfalls in Brüssel niederließ, beschlossen wir, den Gegensatz unserer Ansicht gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten…“[3]

Zum Druck des Textes ist es zu Marx´ Lebzeiten nicht gekommen. 1868 veröffentlicht Engels einen Auszug, der zwanzig Jahre später als Sonderdruck unter dem Titel »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« erscheint. Im Vorwort zitiert Engels noch einmal aus Marxens Vorwort zur »Kritik«: „Wir überließen das Vorwort der nagenden Kritik der Mäuse umso williger, als wir unseren Hauptzweck erreicht hatten – Selbstverständigung.“[4] Allerdings ergänzt Engels in dem Sonderdruck den Text um Marx´ berühmte »Thesen über Feuerbach« vom Frühjahr 1845.

Sie sind dann auch in dem Band zur »Deutschen Ideologie« der ersten von David Rjazanov herausgegebenen MEGA von 1932 erschienen, der die weitgehend kompletten »Feuerbachtexte« veröffentlichte. Diese 1932 erschienene Ausgabe ist ein „Lieblingsbuch[5] von Hans Mayer geblieben, der sich seit 1926 in das intensive Studium der Marx-Engelschen Schriften vertieft hatte. „Das mag kennzeichnend gewesen sein für mein Verhältnis zum Marxismus.“[6]

Den Mäusen die Kritik überlassend, stürzen sich Marx und Engels in das politische Geschäft. 1847 treten sie dem von Wilhelm Weitling gegründeten »Bund der Gerechten« bei und erhalten so eine internationale Plattform zur Verbreitung ihrer kommunistischen Ideen.

Alfred Hrdlicka “Die starke Linke” (Foto: HB)

Im Dezember 1847 und Januar 1849 verfasst Marx auf der Basis von Vorarbeiten Friedrich Engels das »Manifest der Kommunistischen Partei«, das am 21. Februar 1849 veröffentlicht wird und seit 2013 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO gehört. Kurz danach beginnt die Februarrevolution in Frankreich und die Märzrevolution im Deutschen Bund.

Am 11. April 1848 treffen Marx und Engels sowie Ernst Dronke in Köln ein. Mit fast 90.000 Einwohnern und viertausend Soldaten ist Köln nach Berlin und Breslau die drittgrößte preußische Stadt. Marx hatte dort schon 1842/43 als Chefredakteur der »Rheinischen Zeitung« bis zu seiner Ausweitung mit dem Verbot der Zeitung verbracht. Jetzt kommt er zurück und gründet mit Unterstützern eine neue revolutionär-demokratisch Zeitung.[7] „Die Neue Rheinische Zeitung erschien ein knappes Jahr lang, vom 1. Juni 1848 bis zum 19. Mai 1849, in Köln als »Organ der Demokratie«. Es gelang ihr als einziger republikanischer Tagesszeitung, sich in den Revolutionsjahren als großes Blatt mit gesamtdeutscher Verantwortung zu etablieren, das auch im Ausland wahrgenommen wurde. Die Zeitung, die anfangs sogar sieben Mal in der Woche veröffentlicht und in den Nachmittagsstunden mit dem Datum des folgenden Tages ausgegeben wurde, erreichte eine Auflage von fünf- bis sechstausend Exemplaren, stand aber dauernd vor dem finanziellen Scheitern.“[8]

Die Vorteile für die Zulassung der Zeitung und ihr politisches Agieren liegen darin, dass in der preußischen Rheinprovinz das französische Recht gilt. Außerdem war die bis März 1848 geltende Vorzensur fortgefallen. Neben der Deutschlandberichterstattung hatte die »Neue Rheinische Zeitung« auch eine umfassende Auslandsberichterstattung und ein Feuilleton, das von Georg Weerth und Ferdinand Freiligrath gestaltet wird. Letzterer berichtet auch regelmäßig aus Großbritannien, Amerika und Italien. Marx und Engels treten kontinuierlich als Verfasser von Kommentaren und Leitartikeln hervor.

Engels behauptet im Rückblick, 1884, die »Neue Rheinische Zeitung« „konnte nur die der Demokratie sein, aber die einer Demokratie, die überall den spezifisch proletarischen Charakter im einzelnen hervorhob, den sie noch nicht ein für allemal aufs Banner schreiben konnte. Wollten wir das nicht, wollten wir nicht die Bewegung an ihrem vorgefundenen, fortgeschrittensten, tatsächlich proletarischen Ende aufnehmen und weiter vorantreiben, so blieb uns nichts, als Kommunismus in einem kleinen Winkelblättchen dozieren und statt einer großen Aktionspartei eine kleine Sekte stiften. Zu Predigern in der Wüste aber waren wir verdorben; dazu hatten wir die Utopisten zu gut studiert.“[9] Man kämpft also auf dem äußerten linken Flügel der demokratischen Bewegung.

Im April 1949 spitzen sich die revolutionären Kämpfe zu. Friedrich Engels, der 1841/1842 eine einjährige militärische Ausbildung in Berlin absolviert aber dort auch als nicht zugelassener Student Philosophie bei Hegelschülern studiert hatte, ging am 11. Mai in seine Heimatstadt Elberfeld, um sich dort den Aufständischen im bewaffneten Kampf anzuschließen.[10] Nach wenigen Tagen muss er aber wegen drohender Verhaftung fliehen und schließt sich den Aufständischen in Baden an. Dort diente er als Adjutant in Oberst Willichs Freikorpseinheit.[11] Nach der endgültigen Niederschlagung der Revolution flieht er am 12. Juli über die Schweizer Grenze und geht zurück nach England.

Die »Neue Rheinische Zeitung« wird verboten, der Chefredakteur Marx muss als Staatenloser fliehen und geht nach London, wo er Friedrich Engels wiedertrifft.

Am 19. Mai 1849 erscheint- gedruckt in roter Farbe – die letzte Nummer der »Neuen Rheinischen Zeitung« mit den Abschiedsworten von Ferdinand Freiligrath:

„Wenn das Volk sein letztes „Schuldig!“ spricht,
Dann stehn wir wieder zusammen!
Mit dem Wort, mit dem Schwert, an der Donau, am Rhein, —
Eine allzeit treue Gesellin
Wird dem Throne zerschmetternden Volke sein
Die Geächtete, die Rebellin!“[12]

100 Jahre später erscheint 1948 im Ostberliner Dietzverlag ein Buch mit dem Titel »Revolution und Konterrevolution in Deutschland« als Band 5 der Bücherei des »Marxismus-Leninismus«. In der Einleitung die Hans Mayer im Mai 1948 in Frankfurt verfasste, zitiert er eine Satz aus den „unheimlich hellsichtigen Jugendschriften von Karl Marx“: »Der Kampf gegen die deutsche politische Gegenwart ist der Kampf gegen die Vergangenheit der modernen Völker…«[13] Es geht um die „deutsche Misere“ deren Betrachtung sich Hans Mayers Einleitung im Rückblick auf 1848/49 aber auch 1948 widmet. Die Artikelreihe »Revolution und Konterrevolution in Deutschland« war zuerst 1951 bis 1852 auf Englisch in der »New York Daily Tribune« unter dem Namen Karl Marx erschienen. Mayer wusste allerding schon 1948, dass der Anteil Engels an diesen Schriften ungleich größer war als der von Marx. Die erste Buchausgabe gab Marx Tochter Eleanor Marx-Aveling 1896 in englischer Sprache heraus.

Während Engels also federführend in der Frage der Betrachtung der deutschen Revolution war, war es Marx im Hinblick auf die Französischen. Auch sein »Achtzehnter Brumaire des Louis Bonaparte« erschien zuerst in Amerika; in der von Joseph Weydemeyer herausgegebenen Monatsschrift »Die Revolution«. In Betrachtung der beiden Studien stellt Hans Mayer fest: „in ihrer Gesamtheit ergeben sie dann nichts weniger als eine Theorie der bürgerlichen Revolution, ihrer Möglichkeiten und Abschlüsse – und ihres Verhältnisses zu den kleinbürgerlichen Mittelschichten und den revolutionären Bestrebungen der Arbeiterklasse.“[14] Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen macht Mayer deutlich, wie intensiv Marx und Engels aufgrund der weiteren historischen und ökonomischen Entwicklungen zu Präzisierungen und zum Teil Neubewertung ihrer eigenen Einschätzungen früherer Ausführungen kommen. Dies wird in späteren Vor- oder Nachworten ihrer Schriften hervorgehoben.

Resümierend stellt Hans Mayer im Mai 1948 fest: „Wenn heute die Frage der deutschen Einheit auf der Grundlage jener Tatsachen gestellt werden muß, die uns der Zusammenbruch des Hitlerreiches als furchtbare Erbschaft hinterließ, so ist damit ebenfalls gesagt, daß die Debatten über eine „großdeutsche“ oder „kleindeutsche“ Lösung nicht mehr beschäftigen können. Geblieben aber ist die Notwendigkeit einer deutschen Lösung; geblieben ist die Forderung einer demokratischen Lösung im Sinne jener gesellschaftlichen Erkenntnisse, die wir durch hundert Jahre deutscher Fehlentwicklung immer wieder aus den von Reaktion und Konterrevolution erstickten Freiheitsbewegungen gelernt haben.“[15]

Diese Einschätzung reflektierend historischer Rückbesinnung, die Mayer hier anspricht, deckt sich mit der Bewertung der Schriften von Marx und Engels durch Jürgen Herres. Er stellt heraus, dass die beiden in einer Epoche großer Umbrüche und Widersprüchlichkeiten ihre Analysen der gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse mit einer radikalen politischen Perspektive verbinden. Irrtümer waren dabei nicht ausgeschlossen.[16] „Der historische Engels kann unseren Blick für die Prozesse und Mechanismen der Ideologien des 20. Jahrhunderts schärfen. Der Engels des 20. Jahrhunderts unseren Blick für den Facettenreichtum und die Widersprüche seiner Diskussions- und Theorieangebote.“[17]

Über Engels, theoretische, ökonomische, historische und auch literarischen Arbeiten gibt es tausende von Seiten. Über sein Privatleben nur weniges. Bekannt ist, dass er wohl zahlreiche Liebschaften hatte, aber eine festere „romantische Beziehung“ nur mit den beiden irischen Arbeiterinnen Mary und Lydia Burns, mit denen er in Manchester bzw. London jahrelang zusammenlebte.[18] Beide waren irische Freiheitskämpferinnen und man kann davon ausgehen, dass sie Engels viel zum Verständnis der arbeitenden Klasse als auch zur irischen Geschichte und dem Freiheitskampf vermittelt haben. Beide starben 1863 und 1878 noch relativ jung. Engels starb im August 1895 in London. Die Urne mit seiner Asche wurde gemäß seinem Wunsch vor Eastbourne (Beachy Head) im Meer versenkt.

Nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch nach seinem Tode beschäftigten die Auseinandersetzungen um ihn die Bürger seiner Heimatstadt.
Seit Juli 1981 steht als Denkmal für Friedrich Engels vor seinem Geburtshaus eine Skulptur verschlungener Körper und Gliedmaßen nackter Menschen aus Marmor von Carrara, herausgehauen durch den berühmten Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka. Titel: »Die starke Linke«. Eine überzeugende Betrachtung und Analyse dazu liefert Dieter Schubert in seinem Beitrag »Alfred Hrdlickas Denkmal für Friedrich Engels«.[19]

[1] „Briefe aus dem Wuppertal” erschienen im „Telegraph für Deutschland” im März und April 1839, MEW Band 1, Berlin/DDR 1976, S. 413
[2] Zur aktuellen Bewertung siehe Clemens Zimmermann, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: Friedrich Engels, Ein Gespenst geht um in Europa – Begleitband zur Engelsausstellung 2020. Hg. Lars Bluma, Wuppertal 2020, S.70-83
[3] Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in MEGA2, II/2, S. 101
[4] A.a.O., S. 102
[5] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Band 1, Frankfurt 1985, S. 100
[6] ebenda
[7] Siehe dazu im Einzelnen, Jürgen Herres, Marx und Engels – Porträt einer intellektuellen Freundschaft, Ditzingen 2018, S, 104-130
[8] Herres, Marx und Engels, S.110
[9] MEW 21, S. 18
[10] Zu den Einzelheiten siehe Detlef Vonde, Von Barrikaden und blutigen Possen – Friedrich Engels und die Geschichte der gescheiterten Revolution 1848/49, in: Friedrich Engels – ein Gespenst geht um in Europa, S. 126-140
[11] Diese Tätigkeit und die militärischen Arbeiten trugen ihm später den Titel eines „Generals“ ein.
[12] Abschiedswort der Neuen Rheinischen Zeitung. Zitiert nach der digitalen Ausgabe http://www.deutschestextarchiv.de/nrhz/?d=nn_nrhz301_1849.txt.xml Zugriff 27.11.2020
[13] K. Marx / F. Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland, Berlin 1948, S.5
[14] A.a.O., S. 9
[15] Ebenda, S. 19. Dass dieses Buch eine Art Besteller gewesen zu sein scheint zeigt, dass 1953 die dritte Auflage (51.-80. Tausend) erschien. In den Anmerkungen sorgfältiger bearbeitet, aber mit verändertem Titelbild. Die erste Auflage zieren die vier Säulenheiligen Marx, Engels, Lenin und Stalin mit Marx im Vordergrund. Bei der dritten Ausgabe ist die Reihenfolge umgekehrt. Haare und Bärte aller beteiligten sind sorgfältig gestutzt und als erste Person ist vor den anderen Stalin zu sehen.
[16]Siehe Jürgen Herres, Friedrich Engels, republikanischer Kommunist und europäischer Gesellschaftskritiker, in: Fridrich Engels, Ein Gespenst geht um in Europa, S. 16-29. Ebenso Jürgen Herres, Marx und Engels (wie Fn. 7)
[17] Herres, Friedrich Engels, a.a.O, S.21
[18] Siehe hierzu: Marina Mohr, „In der Familie ist der Mann der Bürger und die Frau der Proletarier“ – Die Frauen des Friedrich Engels, in: Friedrich Engels, Ein Gespenst geht um in Europa, S. 196-205.
[19] http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/artdok/3077/1/Schubert_Alfred_Hrdlickas_Denkmal_fuer_Friedrich_Engels_1983.pdf

Die ideologiebeladene Debatte hat seinerzeit u.a. ausführlich „Der Spiegel“ geschildert. Siehe: https://www.denkmal-wuppertal.de/tag/alfred-hrdlicka

»Dieser Dichter, der in Czernowitz zwischen den Sprachen aufwuchs« [1]

Paul Celan zum 100. Geburtstag 23.11. 1920 – 2020

Paul Celan geboren als Paul Antschel (rumänisch „Ancel“ daraus bildete er später als Anagramm seinen Dichternamen Celan) in Czernowitz in der Bukowina damals Rumänien, davor Teil von Österreich-Ungarn, später aufgeteilt zwischen Rumänien und der Sowjetunion heute zu Rumänien und der Ukraine gehörend. Dieses Gebiet war über lange Zeiten hinweg vielsprachig: Rumänisch, Deutsch, Russisch, Polnisch, Jiddisch und einiges mehr und es war Heimat vieler bedeutender Dichter*innen: Rose Ausländer, die schon in ihrer Jugend Paul Celan kannte, Selma Meerbaum, Cousine 2. Grades von Paul Celan, umgekommen im gleichen transnistrischen Konzentrationslager wie Paul Celans Eltern, Alfred Margul-Sperber, Moses Rosenkranz und viele mehr. In der Bukowina wuchs man vielsprachig auf so auch Paul Celan, der später sieben Sprachen beherrscht und aus ihnen und in sie übersetzt.

Paul Celan gilt als einer, wenn nicht „der“ bedeutendste/n Lyriker der deutschen Sprache der vergangenen 100 Jahre. Seine Mutter war sehr belesen und seine Bindung zu ihr sehr eng. Schon in der Jugend beginnt er zu dichten. Nach dem Abitur zieht es ihn nach Frankreich zum Medizinstudium in Tours. Auf dem Weg dorthin passiert er Krakau und Berlin unmittelbar vor der Reichspogromnacht 1938.  Darüber schrieb er 1962 das Gedicht „La Contrescarpe“ in dem man diese Zeilen
findet:

„Über Krakau
bist du gekommen, am Anhalter
Bahnhof
floß deinen Blicken ein Rauch zu
der war schon von morgen“.[2]

Paul Celans Dichtung ist nicht immer leicht zu verstehen; ohne seine Geschichte und die seiner Familie zu kennen, ist es unmöglich.
Wegen des von den deutschen Faschisten begonnenen 2. Weltkriegs kehrt er in die Heimat zurück und studiert dort Romanistik. 1940 besetzt die Rote Armee Stalins die Bukowina. Die Nationalsozialisten hatten mit Stalin im sogenannten Hitler-Stalin-Pakt die Annexion vereinbart. Ein Jahr später wird Czernowitz durch die SS besetzt. Rumänien ist inzwischen mit Nazi-Deutschland verbündet.  Die jüdische Bevölkerung wird ghettoisiert und ab Oktober 1941 werden über 55.000 von ihnen in die Vernichtungslager Transnistriens deportiert und umgebracht, darunter Paul Celans Eltern. Er selbst kommt in ein Arbeitslager und wird als Straßenbauer eingesetzt.
Von der Ermordung seiner Eltern erfährt er erst wesentlich später. Für ihn ist das ein lebenslanges Trauma, er verzeiht sich nicht, dass er den Eltern nicht zur Flucht riet.
Nach dem Krieg zieht er zunächst nach Bukarest, arbeitet als Lektor und Übersetzer. 1947 flieht er vor den Kommunisten über Ungarn zunächst nach Wien, wo er Ingeborg Bachmann kennen- und lieben lernt. Für sie schreibt er einige Gedichte. 1948, zu Beginn ihrer Beziehung, u. a. „Corona“; daraus eine Strophe:

„Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben uns einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.“[3]

Er reist weiter nach Paris und lässt sich dort nieder. Seine Gedichte schreibt er in deutscher Sprache, obwohl er später von dieser Sprache als „Mördersprache“ spricht. In seiner Ansprache zur Entgegennahme des Literaturpreises der Stadt Bremen 1958 (ein Jahr zuvor war dort Ingeborg Bachmann ausgezeichnet worden) formuliert er seine Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache: „Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Sie die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz alledem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „angereichert“ von all dem.“[4]

1952 heiratet er die französische Malerin Gisèle de Lestrange, was ihn nicht hindert, weiter zahlreiche Beziehungen zu haben. Er arbeitet als Übersetzer, schreibt Gedichte, freundet sich mit vielen Schriftsteller*innen an und entzweit sich immer wieder mit einigen von ihnen. Er ist hypersensibel und sehr leicht gekränkt, leidet an Depressionen. Diese Eigenschaften hatte er schon in seiner Jugend. Eine Jugendfreundin, Edith Silbermann, äußerte über ihn: „Paul konnte sehr lustig und ausgelassen sein, aber seine Stimmung schlug oft jäh um, und dann wurde er entweder grüblerisch, in sich gekehrt oder ironisch, sarkastisch. Er war ein leicht verstimmbares Instrument, von mimosenhafter Empfindsamkeit, narzisstischer Eitelkeit, unduldsam, wenn ihm etwas wider den Strich ging oder ihm jemand nicht passte, zu keinerlei Konzession bereit. Das trug ihm oft den Ruf ein, hochmütig zu sein.“ [5]

Celan lernt u. a. René Char, den großen französischen Poeten, kennen, der als der bedeutendste zeitgenössische französische Dichter gilt. Celan zollt ihm großen Respekt dafür, dass er in der Résistance gekämpft hat, übersetzt dessen Aufzeichnungen aus dem Maquis »Hypnos« ins Deutsche, ebenso kongenial wie viele von Shakespeares Sonetten.

In seinen Gedichten spielt die Shoah, die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Faschisten, eine Hauptrolle. Sein bekanntestes Gedicht ist »Todesfuge« geschrieben im Mai 1945. Es beschreibt das Unbeschreibliche:

„Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends
wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts
wir trinken und trinken
wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng
Ein Mann wohnt im Haus, der spielt mit den Schlangen der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland dein goldenes Haar
Margarete
er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne er
pfeift seine Rüden herbei
er pfeift seine Juden hervor läßt schaufeln ein Grab in der Erde
er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz
[…]
der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau
er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau
ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete
er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft
er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister
aus Deutschland
dein goldenes Haar Margarete
dein aschenes Haar Sulamith.[6]

Als er dieses Gedicht bei seiner ersten Teilnahme bei einem Treffen der legendären »Gruppe 47« in Niendorf an der Ostsee 1952 vorträgt, und dort nicht die von ihm erhoffte Anerkennung erhielt, war er zutiefst enttäuscht.
Im gleichen Jahr erscheint sein Gedichtband »Mohn und Gedächtnis«, darin die „Todesfuge“ und damit gelingt ihm der literarische Durchbruch, nicht nur im deutschsprachigen Bereich auch weit darüber hinaus.
Mit seinen Gedichten über die Shoah widerlegte er das Diktum des Philosophen Theodor W. Adorno, der 1951 schrieb, „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“[7]
Jürgen Wertheimer, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen und Herausgeber der Tübinger Celan-Ausgabe, äußert über Celan: „Die Shoah ist in Celans Gedichten mit jedem Wort, mit jeder Silbe eingeschrieben. Vor allem blieb die Deportation seiner Eltern in Czernowitz, die er nicht verhindern konnte, ein lebenslanges Trauma. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sein Werk eine Art in Sprache gefasstes Holocaust-Mahnmal ist – weit wirkmächtiger als in Stein gehauene Denkmäler es sind. Seine Texte sind keine Versöhnungsautomaten, sondern Protokolle der Verletztheit.“[8]
Celan leidet an Depressionen, versucht zweimal in wahnhaften Anfällen seine Frau umzubringen, Er kommt längere Zeit in psychiatrische Anstalten. Wahrscheinlich nimmt er sich in der Nacht vom 19. auf den 20. April 1970 durch einen Sprung von der Pariser »Pont Mirabeau« in die Seine das Leben; seine Leiche wird erst Tage später von einem Fischer gefunden.
Seine getrennt von ihm lebende Frau, Gisèle de Lestrange, schreibt am 10. Mai 1970 an die ehemalige Geliebte Ingeborg Bachmann: „Er hat sich den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.“[9]
Hans Mayer schrieb in seinen »Erinnerungen an Paul Celan«: „Die Wahrheit ist, dass er unfähig war zum Vergessen. Alles war stets gegenwärtig. Kein Lebensmoment, der nicht bedroht gewesen wäre von unheilvollen anderen Augenblicken, die jeder andere als Vergangenheit und abgetan fortgeschoben hätte. Er konnte es nicht. Das Vernichtungslager ebenso wie eine belanglose Unbill aus späteren Jahren: alles war in jedem Augenblick virulent.“[10]

Hans Mayer und Paul Celan kannten und schätzten sich. Celan widmet Mayer ein Gedicht: »Weißgeräusche« und Mayer schätzte den Dichter und Autor Celan sehr; so schrieb er über dessen »Meridian-Rede« anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 1960; sie „überrage, wie mir scheint, all diese anderen bedeutenden Literaturerzeugnisse durch ihre Tiefe und ihre Büchner-Nähe.“ Und weiter: „Man muss das nachlesen. Es ist großartig.“ [11]

Claudia Wörmann-Adam

¹ Hans Mayer, „Augenblicke – Ein Lesebuch“, Herausgegeben von Wolfgang Hofer und Hans Dieter Zimmermann, Frankfurt 1987; S. 110
[2] Paul Celan, „Die Gedichte“, kommentierte Gesamtausgabe, Herausgabe und Kommentar: Barbara Wiedemann, Frankfurt 2005
[3] Paul Celan, Die Gedichte, S. 39
[4] Paul Celan, Gesammelte Werke Band 7; Frankfurt 1978, S. 185 f
[5] Zitiert in Deutschlandfunk Kultur, „Alle Dichter sind Juden“, Autor Helmut Böttiger vom 21.05.2017
[6] Paul Celan, Die Gedichte, S. 40f
[7] T. W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt 1951
[8] Interview mit Jürgen Wertheimer von Friederike Invernizzi: https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/sprechen-zwischen-wunde-und-narbe-2703/ Zugriff am 22.11.2020
[9] Zitiert in Iris Radisch „Etwas ist faul im Staate D-Mark“, in: »Die Zeit« Nr. 17/2020
[10] Hans Mayer, Augenblicke, S.110
[11] Hans Mayer, „Der Büchner-Bazillus in unserer Literatur“, in: »Die Zeit« Nr. 44/1964

Benjamins letzte Grenze

10 Minuten geht er den immer steiler werdenden Weg voran. Mit festem, kontinuierlichen Schritt. Dann eine Minute Pause. Luft und Kräfte sammeln. Die nächsten 10 Minuten und so fort. Im Weinberg wird der Anstieg zu steil. Er wird es nicht schaffen. Doch die Weggefährten stützen ihn von beiden Seiten. Ziehen ihn mit hinauf. Die schwarze Aktentasche mit dem Manuskript wird schwer und schwerer. Das Manuskript muss gerettet werden. Das ist entscheidend. „Es ist“, so sagt er zu Lisa Fittko, seiner Fluchthelferin, „wichtiger als meine eigene Person.“[1]

Der Blick auf Portbou    (Foto: HB)

Mit Hilfe von Lisa Fittko, dem 16jährigen Joseph und seiner Mutter Henny Gurland schafft es der 48jährige Herzkranke bis auf das 500 Meter hohe Felsplateau. Vom Pass aus sieht man beides: Das zurückgelassene Frankreich mit ihrem Ausgangspunkt Banyuls-sur-Mer und das nordostspanische Portbou mit der Grenzstation.

Der Weg dorthin hatte vom Ausgangsort fast zehn Stunden gedauert. Für Benjamin sieben, da er die Nacht bereits auf einer Lichtung der Fluchtroute – „la route Lister“ – verbracht hatte. Man war ein Drittel des Weges bereits aus Erkundungsgründen am Vortag gegangen. Benjamin hatte sich geweigert mit den anderen wieder zurück nach Banyuls-sur-Mer zu gehen, weil er seine Kräfte schonen musste. Der schwierigste Teil des Weges war bis zum Plateau geschafft. Ein holpriger Weg führte hinab nach Portbou. Lisa Fittko musste sich von ihren Schützlingen trennen, da sie selbst sich ohne gültige Papiere in Spanien nicht aufhalten durfte.

An der rettenden Grenze zu Spanien war jedoch die Passage für Benjamin und die beiden Gurlands zu Ende. Ihnen und weiteren Flüchtlingen wie Grete Freund und Carina Biermann fehlte das inzwischen erforderliche französische Ausreisevisum.[2] Sie wurden von der Polizei im Hotel »Fonda de Francia« für die Nacht einquartiert und sollten am nächsten Tag zurück ins Innere Frankreichs gebracht und möglicherweise der Gestapo übergeben werden.

Das Hotel “Fonda de Francia”             (Foto: HB)

Benjamin ist vom Unglück verfolgt, das schon dem Kind in Gestalt des »bucklicht Männlein« das praktische Leben oft erschwert hatte.[3] In der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« hat er ihm die abschließende Geschichte zugewiesen. „Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte sich´s in den Weg.“ Es heißt: „Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht.“ In einer Bemerkung der Mutter lautete das »Ungeschickt läßt grüßen.«[4] Mit dem Kapitel „Der Bucklige“ leitet Hannah Arendt ihren Benjamin-Essay ein. Zum Ende kommt sie auf die Visasperre, die Benjamins Passieren der französisch-spanischen Grenze verhindert hat. „Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewußt, dass man zur Zeit nicht durch Spanien kommen konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.“[5]

Grabkammern auf dem Friedhof von Portbou  (Foto: HB)

Die Lage erschien für Benjamin absolut aussichtlos. Der Gestapo, die einen Sitz im Ort hat, will er nicht in die Hände fallen. Konsequent hat er auch für eine solche Situation vorgesorgt. In der Nacht vom 25. auf den 26 September 1940 nimmt er eine Überdosis Morphium. Der herbeigerufene Arzt stellt Gehirnblutungen als Todesursache fest. Vermutlich hat Henny Gurland, die bei ihm war, den Arzt den Umständen entsprechend informiert. Nur keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Ein katholischer Priester gibt Benjamin die letzte Ölung. Henny Gurland sorgt für das Begräbnis. Eine Gruft für fünf Jahre wird bezahlt. Auf dem Friedhof von Portbou wird er als Benjamin Walter bestattet. Die Eintragungen im Totenbuch der Gemeinde und die Aufbewahrung des persönlichen Eigentums von Benjamin werden richterlich veranlasst und aktenmäßig festgehalten.[6]  Am 28. September 1940 wird Herr Benjamin Walter auf dem katholischen Friedhof von Portbou begraben. Das Grab erhält allerdings keine namentliche Bezeichnung. Hannah Arendt, die den Friedhof noch im Oktober besucht hat, kann es deshalb nicht finden.

Als er starb war Benjamin trotz Fittkos Bezeichnung noch kein „alter Mann“. Geboren am 15. Juli 1892 in Berlin war der schwer herzkranke Mann gerade 48 Jahre. Sein größtes Opus, das »Passagen-Werk«, blieb unvollendet. Auch wenn man nicht weiß, welches Manuskript sich in der schwarzen Aktentasche befand, gelang es seinen Freundinnen und Freunden doch über die Jahre eine umfangreiche Sammlung seiner Werke und Briefe zu veröffentlichen. Der 1940 in Portbou unbekannte „Dr. Benjamin Walter“ gilt heute zu Recht als einer der weltweit berühmtesten Philosophen und Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts.

Am 25. September 1940 hatte Walter Benjamin eine Postkarte aus Portbou an das »Sekretariat des Instituts für Sozialforschung« in Genf geschickt. Juliane Faves informierte von dort Hans Mayer, um mit ihm zu beraten, was man zur Rettung Benjamins tun könne.[7] Wie man dann Anfang Oktober erfuhr, war Benjamin aber inzwischen gestorben. Hans Mayer veröffentlichte in der schweizerischen Zeitschrift »Die Tat« einen Nachruf auf Walter Benjamin. Adorno im »Aufbau« in New York. Brecht schrieb zwei Gedichte für den toten Freund. In dem »Zum Freitod des Flüchtlings W.B.« heißt es: „Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast / Dem Schlächter zuvorkommend. / Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend / Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben / Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.“

Die “Passage” zum Meer (Foto: HB)

Es war mitnichten das „Bucklichte Männlein“, das Walter Benjamin in den Tod getrieben hat. Das waren das faschistische Deutschland, das Frankreich Petains und das faschistische Spanien Francos. Es gab auch keine Chance für so viele bekannte und unbekannte andere Emigrantinnen und Emigranten. In Banyuls-sur-Mer beginnt der 16 Kilometer lange »Walter-Benjamin-Weg« der am Friedhof von Portbou endet. Dort hat der jüdische Künstler Dani Karavan ein beeindruckendes Denkmal geschaffen. Es ist eine Hommage an Walter Benjamin aber auch an alle anderen vom Faschismus Verfolgten. Eine »Passage«, die vom Friedhof hinab zum Meer führt, endet an einer Glaswand. Darauf steht: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren, als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.«

> Für Walter Benjamin – Erinnern und Eingedenken.
Eine Veranstaltung der Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG)
3. Oktober 2020 um 18:30 Uhr
Im „Brunosaal“ Klettenberggürtel 65 in Köln

[1] Zitiert nach den Aussagen von Lisa Fittko, in ihrem Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“, München Wien 1985, S. 133. Die Informationen über den Fluchtweg entstammen dem Kapitel „Der alte Benjamin“ in diesem Buch.
[2] Zu dem Sachverhalt im Einzelnen siehe Carina Birmann, Müde der Verfolgung, in: Begegnungen mit Benjamin, herausgegeben von Erdmut Wizisla, Leipzig 2015, S. 357-368. Carina Birmann war Rechtsanwältin und zwischen 1926 und 1938 Botschaftsrätin für Rechtsfragen in der Österreichischen Botschaft in Paris. Ebenso Grete Freund, Brief an eine unbekannte Person, in: Begegnungen mit Benjamin, S. 348-350.
[3] Siehe Hannah Arendt, Der Bucklige, in Arendt und Benjamin – Texte, Brief, Dokumente, herausgegeben von Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main 2006, S. 47ff
[4] Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Berlin 2017, S.77 und 76
[5] Hannah Arendt, a.a.O., S. 65
[6] Die inzwischen genauer bekannten Umstände des Todes und der Beerdigung sind detailliert dargestellt in dem Buch „Für Walter Benjamin“ herausgegeben von Ingrid und Konrad Scheuermann, Frankfurt am Main 1992. Dort wird auch der 27. September als Todestag in Erwägung gezogen.
[7] Siehe Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt 1982, S. 259

Für Walter Benjamin – Erinnern und Eingedenken: Eine Veranstaltung der Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG)

Dokumentation der Veranstaltung:
> »Für Walter Benjamin – Erinnern und Eingedenken «

Für Walter Benjamin – Erinnern und Eingedenken
Eine Veranstaltung der Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG)
23. Oktober 2020 um 18:30 Uhr
Im „Brunosaal“ Klettenberggürtel 65 in Köln

> Medieninfo: Benjamin-Veranstaltung am 23. Oktober 2020

»Dem Absoluten empfiehlt sich schönstens zu freundlicher Aufnahme das Urphänomen«

Das Hegel-Haus in Stuttgart am 27. August 2020.
Das Hegel-Haus in Stuttgart am 27. August 2020 (Foto: HW)

„Noch am Abend seines letzten Geburtstages, am 27. August 1831, hatte Georg Wilhelm Hegel, wie stets in den früheren Jahren, um Mitternacht sein Glas erheben können, um des Geburtstagskindes vom 28. August, um Goethes in alter Verehrung zu gedenken.“ Vermutlich haben die jungen Studentinnen und Studenten sowie weitere Zuhörerinnen und Zuhörer bei der Antrittsrede des 42jährigen Professors am 20. Juli 1949 in Leipzig sich über diesen nicht gerade akademisch anmutenden Hinweis zum Beginn des Vortrages über »Goethe und Hegel« gewundert. Der diente einer „pädagogischen Neudeutung und Klärung“, wie es in der Erläuterung zur Erstveröffentlichung in dem Buch mit Goethestudien unter dem Titel »Unendliche Kette«[1] 1949 heißt.

Als Mayer seine Antrittsvorlesung mit anderen Reden und Aufsätzen acht Jahre später 1957 unter dem Sammeltitel »Deutsche Literatur und Weltliteratur«[2] erneut veröffentlichte, hatte sich die politische Situation in der DDR nicht nur in der philosophischen Diskussion verändert. Es fehlen, erläutert er, einige „Eingangsbemerkungen, die sich auf den ursprünglichen akademischen Anlaß bezogen.“[3] Dort heißt es 1949, entsprechend dem Konzept von Konstellationen[4], die das Schreiben Mayers mit bestimmen: „Wenn wir nunmehr der inneren Beziehung zwischen diesen zwei gewaltigen Potenzen nachgehen, so sei zugleich auch vorangestellt, daß wir die Antriebe unserer Deutung vor allem zwei Männern schuldig bleiben, deren Wort seit Jahrzenten unsere eigene geistige Entwicklung zu formen vermochte, die uns und einer ganzen Generation, wie es scheint, den Ansatzpunkt für ein neues Goethebild und Hegelbild in unserer Zeit geliefert haben: Georg Lukács und Ernst Bloch. Es bleibt einfachstes Gebot der Dankbarkeit, diese geistige Schuld hier voranzustellen.“[5]

Das Hegel-Haus in Stuttgart am 27. August 2020.
Das Hegel-Haus in Stuttgart am 27. August 2020 (Foto: HW)

Aus der für Mayer, Bloch und andere hoffnungsvollen Aufbruchssituation in der Anfangszeit der DDR war eine politische Lage entstanden, in der die herrschende Parteidoktrin eine marxistisch-leninistische Philosophie durchgesetzt hatte, die eine positive marxistische Hegel-Rezeption im Sinne Blochs und Lukács ausgeschaltet hatte.[6] Mit der sowjetischen Niederschlagung des Ungarnaufstandes am 4. November 1956 war Lukács verhaftet und außer Gefecht gesetzt worden und Ernst Bloch wurde im März 1957 zwangsemeritiert.

Der Anlass der Dankbarkeit Hans Mayers gegenüber Georg Lukács hatte begonnen mit der Lektüre seines berühmten Buches »Geschichte und Klassenbewußtsein«. Es war 1923 in kleiner Auflage in Wieland Herzfeldes Malik-Verlag als Band 9 der „Kleinen revolutionären Bibliothek“ erschienen. Wie für viele andere junge Intellektuelle, wurde es 1928 die „Erweckungslektüre“ des jungen Sozialisten Hans Mayer. In seinen Erinnerungen stellt er fest, dass es eine „schwerverständliche und manchmal fast obskure Diktion“ besaß. „Es hatte mit der Hegelei auch die hegelisierende Diktion übernommen.“[7] Zwei Jahre später, nach ausführlicher Marx-Lektüre, war der junge Marxist dann allerdings sattelfester. In einem Marxismus-Seminar unter Leitung von Helmuth Plessner referierte er über das Thema „Was ist orthodoxer Marxismus?“, dem ersten Kapitel aus »Geschichte und Klassenbewußtsein«. „Als ich geschlossen hatte, meinte Plessner belustigt, aber auch nachdenklich: Wenn man das akzeptiere was soeben vorgetragen wurde, so laute die Folgerung, daß man orthodoxer Hegelianer sein müsse, um ein orthodoxer Marxist zu werden.“[8]

Ähnlich formuliert es Ernst Bloch in der 1947 geschriebenen Einleitung und im 1949 im Aufbau-Verlag Berlin veröffentlichten Buch »Subjekt-Objekt Erläuterungen zu Hegel«: „Wer beim Studium der historisch-materialistischen Dialektik Hegel ausläßt, hat keine Aussicht, den historisch-dialektischen Materialismus voll zu erobern….Wer der Wahrheit nach will, muß in diese Philosophie, auch wenn die Wahrheit: der lebendige, das Neue enthaltende Materialismus nicht dabei anhielt und anhält. Hegel leugnete die Zukunft, keine Zukunft wird Hegel verleugnen.“[9]

Das Hegel-Haus in Stuttgart am 27. August 2020.
Das Hegel-Haus in Stuttgart am 27. August 2020 mit dem Nebeneingang an der Rückseite (Foto: HW)

Kehren wir zum Geburtstagskind Hegel zurück. Im weiteren Verlauf seiner Antrittsvorlesung schildert Mayer, wie es zur inhaltlichen Annäherung zwischen dem Privatdozenten der Philosophie und dem schon weltberühmten Dichter kommt. Am 21. Oktober 1801 macht Hegel seinen Antrittsbesuch bei Goethe, der sich vor allem für Hegels solide naturwissenschaftliche Kenntnis interessiert. 1806 treffen sie sich mehrfach in Jena und vertiefen ihre geistige Annäherung. Ein Jahr später ist die »Phänomenologie des Geistes« fertig, die, so Marx, „wahre Geburtsstätte und das Geheimnis der Hegelschem Philosophie“.[10] Goethe erhält ein Exemplar zugeschickt, liest es aber wohl nicht. Die „endgültige und positive Beziehung“ zwischen Hegel und Goethe erfolgt über die »Farbenlehre«. Goethe notiert mit Freude in seinem Tagebuch die ihm zugegangenen Ausführungen des inzwischen berühmten Professors anlässlich dessen Auseinandersetzungen mit Newton zum Thema.

Hans Mayer geht in seinem Vortrag nicht auf die zahlreichen Goetheschen Elemente in Hegels Ästhetik ein – eine Ausnahme, die Person des Mephisto im Faust als personifizierter Negation – sondern stellt sich die Aufgabe, das dialektische Denken in Goethes Weltbild aufzuzeigen.

Zur Demonstration der Farbenlehre sendet Goethe Hegel zwei Objekte: „ein milchiges Trinkglas, das Licht gelb erscheinen läßt, dazu ein Stück schwarzer Seide, die zu demonstrieren vermag, daß solche Finsternis, durch Licht erhellt, blau erscheint. Den Objekten war folgender Zettel von Goethes Hand beigefügt: »Dem Absoluten empfiehlt sich schönstens zu freundlicher Aufnahme das Urphänomen.«

 

Diesen Begriff des Urphänomens hat Goethe im didaktischen Teil seiner Farbenlehrer erläutert. Dort heißt es: „Kann dagegen der Physiker zur Erkenntnis desjenigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben; so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; Er, denn er überzeugt sich, daß er an die Grenze seiner Wissenschaft gelangt sei, daß er sich auf der empirischen Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfahrungen in allen ihren Stufen überschauen, und vorwärts in das Reich der Theorie, wo er nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist geborgen: denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, dass bei ihm nun ein Erstes wird. Er bekümmert sich nun mit Recht nicht mehr um die Erscheinung, wenn man darunter das Abgeleitete versteht, wie man es entweder schon wissenschaftlich zusammengestellt findet, oder wie es gar in empirischen Fällen zerstreut und verworren vor die Sinne tritt.“[11]

Mayer stellt fest, dass Goethe das Urphänomen als eigentümlich verwandt mit Hegels absolutem Geist verstand. Entsprechend analoge Überlegungen finden sich auch in Goethes Studien zur Metamorphose der Pflanze. „Goethe als Dichter als Naturforscher, als Ästhetiker… empfand sein Wirken und Werk als eine große Einheit, als eine ʹkonkrete Totalitätʹ, um es in der Sprache Hegels zu sagen.

Die Metamorphose der Pflanze, die Wandlungen von Keim, Blüte und Frucht ist bei Goethe als dialektischer Prozess dargestellt. Er sieht das als ein „ewiges Gesetz der Natur“, das sich in der organischen Natur und im menschlichen Leben ankündige.

Beispielgebend zitiert Mayer dann Gedichte Goethes über die Metamorphose der Tiere aber auch zum Denken und Handeln des Menschen. Das gleiche Thema findet sich in der »Geschichte der Philosophie« bei Hegel, aus dem Mayer entsprechend zitiert. Die entscheidende Differenz zwischen beiden formuliert er dann so:

„Aber als Ausgangspunkt ist bei Hegel das Bewußtsein, die Einsicht, die bloße Erkenntnis gesetzt. Auch Goethes Metamorphosen sind dialektisch gefasst; allein als Ausgangspunkt steht entschieden die Objektivität der Natur. Der Prozess ist bei ihm immer wieder ein solcher menschlicher Tätigkeit. Des Menschen Verhältnis zu Pflanze und Tier ist nicht bloß ein solches der Einsicht, sondern des Wirkens: »Bildsam ändere der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.« Auch hier also möchten wir meinen, daß Goethe nicht bloß dem Materialismus nähersteht als Hegel, sondern dass er auch die Dialektik in diese Deutung nach Tat und Wahrheit einbezogen hat.“[12]

Ausführlich hat sich auch Georg Lukács, den Mayer in seinem Vortrag wiederholt zitiert, mit dem Verhältnis Hegel und Goethe beschäftigt. Unter Bezug auf ihn hält Mayer fest, daß die menschliche Arbeit als Selbsterzeugungsprozess des Menschen für beide eine entscheidende Rolle spielt.[13]

Resümierend beendet Mayer seine Antrittsvorlesung: „Goethe aber sah die Dialektik des Widerspruchs als schöpferisches Prinzip der Veränderung durch den Menschen, als Einheit aus Erkennen und Wirken. Das »Urphänomen« Goethes führt zur Praxis, dass »Absolute« Hegels aber zu Determination und bloß duldender Erkenntnis.…
Erst die Zerbrechung der Form, die Freisetzung der dialektischen Methode durch Marx und Engels, konnte den zukunftsweisenden Erkenntnissen Hegels wieder die Freiheit zurückgeben. Vor Goethes Weltbild ist ein solches Zerbrechen der Form, solche schöpferische Aufhebung in weit geringerem Maße nötig…“[14]

Auch während der Folgezeit setzt sich Mayer weiterhin für ein angemessenes und im Sinne von Lukács und Bloch progressiv begriffenes Verständnis von Hegel ein. Zu den »III. Weltfestspielen der Jugend und Studenten für den Frieden«, das vom 5. bis 19. August 1951 in Berlin stattfand erschien eine Sonderausgabe der von Peter Huchel herausgegebenen Zeitschrift »Sinn und Form«, in der auch zahlreiche Beiträge aus dem Ausland von Pablo Neruda über Mao Tse-Tung bis zu Martin Andersen Nexö enthalten waren. Ernst Bloch schrieb über den „Studenten Marx“ und Hans Mayer über das 1844 entstandene Gedicht »Doktrin« von Heinrich Heine.[15]

„Schlage die Trommel und fürchte dich nicht,
und küsse die Marketenderin!
Das ist die ganze Wissenschaft,

Trommle die Leute aus dem Schlaf,
trommle Reveille mit Jugendkraft,
marschiere trommelnd immer voran,
das ist die ganze Wissenschaft.

Das ist die Hegelsche Philosophie,
das ist der Bücher tiefster Sinn!“

Für Heine ging es mit diesem Gedicht um den „Vormarsch der Menschen für eine bessere Welt“, für die reale Verwirklichung einer neuen Humanität; in ihrer Verwirklichung erfüllt sich für ihn die ganze, die echte Wissenschaft. „In diesem, so verstandenen Fortschreiten aber erfüllt sich für ihn auch »die Hegelsche Philosophie«.[16] Heine hat als Hegelschüler trotz dessen „scheinbarer oder echter Konservativität … die revolutionäre Spannkraft der dialektischen Methode erkannt.“[17] Das hindert ihn nicht in seinen »Vermischten Schriften« ironisch und spöttisch doch im wahren Verständnis sehr anerkennend über „den Meister“ zu sprechen. „Ich war nie abstracter Denker, und ich nahm die Synthese der Hegel´schen Doktrin ungeprüft an, da ihre Folgerungen meiner Eitelkeit schmeichelten. Ich war jung und stolz und es tat meinem Hochmuth wohl, als ich von Hegel erfuhr, daß nicht, wie meine Großmutter meinte, der liebe Gott, der im Himmel residirt, sondern ich selbst hier auf Erden der liebe Gott sei.“[18] In einer Rede unter dem Titel »In der Matratzengruft. Der Weg Heinrich Heines« erläuterte Mayer, dass Heines Begegnung mit Hegel dazu geführt habe, daß sein späteres Buch »Zur Geschichte der Philosophie und Religion in Deutschland« auf der Grundlage einer Hegelschen Geschichtsauffassung abgefaßt wurde. „Auch dieses Heine-Buch präsentiert sich als eine »Phänomenologie des Geistes«. Als eine Geschichte der dialektischen Vorwärts- und Aufwärtsbewegung.“[19]

Die Beschäftigung Hans Mayers mit Hegel und dessen Würdigung ließe sich vertieft und weitergefasst fortsetzen. Abschließend sei ein letztes Buch angesprochen, dass wohl nicht mehr so bekannt ist. Es ist »Rameaus Neffe«, ein Dialogroman von Denis Diderot[20] geschrieben zwischen 1761 und 1774. Karl Marx schickt das Buch an Friedrich Engels und schreibt darüber in einem Brief an diesen vom 15. April 1869: „Das einzige Meisterwerk wird Dir von neuem Genuß gewähren. ʹDie ihrer selbst bewußte und sich aussprechende Zerrissenheit des Bewußtseinsʹ, sagt old Hegel darüber, „ist das Hohngelächter über das Dasein sowie über die Verwirrung des Ganzen und über sich selbst; es ist zugleich das sich noch vernehmende Verklingen dieser ganzen Verwirrung… Es ist die sich selbst zerreißende Natur aller Verhältnisse und das bewußte Zerreißen derselben… Das ehrliche Bewußtsein (Rolle, die Diderot sich selbst im Dialog gibt) nimmt jedes Moment als eine bleibende Wesenheit und ist die ungebildete Gedankenlosigkeit nicht zu wissen, daß es ebenso das Verkehrte tut. Das zerrißne Bewußtsein aber ist das Bewußtsein der Verkehrung, und zwar der absoluten Verkehrung; der Begriff ist das Herrschende in ihm, der die Gedanken zusammenbringt, welche der Ehrlichkeit weit auseinanderliegen, und dessen Sprache daher geistreich ist. Der Inhalt der Rede des Geistes von und über sich selbst ist also die Verkehrung aller Begriffe und Realitäten, der allgemeine Betrug seiner selbst und der Andern, und die Schamlosigkeit, diesen Betrug zu sagen, ist eben darum die größte Wahrheit …“[21]

Das Buch Diderots hat, wie Mayer beschreibt, eine interessante Publikationsgeschichte. Über Schiller kam 1804 eine französische Abschrift an Goethe, der sie mit großem Vergnügen übersetzte. Da das französische Original verloren gegangen war, wurde Goethes Fassung ins französische zurückübersetzt. Bis zum Auffinden des originalen Textes von Diderot diente die Goethe-Fassung lange als maßgebliche Ausgabe. Sie war auch für Hegel ein exzellentes Beispiel dialektischer Literatur. In dem Kapitel »Der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben« in der »Phänomenologie des Geistes« zitiert Hegel aus Goethes Übersetzung von Diderots Roman und zieht folgende Einschätzung für das maßgeblich literarische Beispiel:

»Das Reich der Natur setzt sich ganz sachte fest, das Reich meiner Dreieinigkeit, gegen welche die Pforten der Hölle nichts vermögen. Das Wahre, das der Vater ist, der das Gute zeugt, das der Sohn ist, aus dem das Schöne hervorgeht, dass der Heilige Geist ist. Dieser fremde Gott setzt sich bescheiden auf den Altar an die Seite des Landesgötzen. Nach und nach gewinnt er Platz, und an einem hübschen Morgen gibt er mit dem Ellenbogen seinem Kameraden einen Schub, und bautz! baradauz! der Götze liegt am Boden.«[22]

Da dieser Beitrag letztlich aus Anlass des 250. Geburtstags Hegels geschrieben wurde, sei die Ermutigung ausgesprochen, einen Blick in die »Phänomenologie des Geistes« zu wagen. Wem das, wie dem Verfasser dieser Zeilen dann partiell zu mühsam ist, sei auf die Hegelbücher von Bloch und Lukács verwiesen. Nach kleinen Anlaufschwierigkeiten lassen diese sich mit Freude und Gewinn lesen.

[1] Hans Mayer, Unendliche Kette, Dresden 1949
[2] Hans Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur, Rütten & Löning Berlin 1957
[3] A.a.O., S. 711
[4] Siehe Hans Mayer, Der Repräsentant und der Märtyrer. Konstellationen der Literatur, Frankfurt am Main 1971. „Konstellationen meint den subjektiven Faktor, repräsentiert durch künstlerische und wissenschaftliche Kreativität, ebenso wie die Objektivität von Texten, Lehrmeinungen, politischen Positionen.“, a.a.O., S. 11f
[5] Hans Mayer, Unendliche Kette, S. 44
[6] Sehr differenziert und mit detaillierter Schilderung beider Sichtweisen hat Camilla Warnke diese Entwicklung in ihrem Aufsatz „Das Problem Hegel ist längst gelöst“ nachgezeichnet. Siehe: http://www.peter-ruben.de/schriften/DDR/Warnke%20-%20Das%20Problem%20Hegel%20ist%20laengst%20geloest.pdf. Zugriff 12.8.2020
[7] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf Erinnerungen I, Frankfurt a. Main 1985, S. 104
[8] Hans Mayer, Erinnerungen I, S. 105
[9] Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, Berlin 1952, S. 10
[10] Karl Marx, Kritik der Hegelschen Dialektik und Philosophie überhaupt, in: Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEGA I/2, Berlin 1982, S. 401
[11] Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, in: Sämtliche Werke Band 10, München 1989, S. 216
[12] Hans Mayer, Goethe und Hegel, in Deutsche Literatur, S. 42
[13] Siehe Georg Lukács, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft, Berlin 1954, S. 654f. Dieses Buch konnte in der DDR erst nach Stalins Tod erscheinen. Mayer war aber sicherlich die bereits 1948 in der Schweiz erschienene Ausgabe des Buches bekannt, als er seine Antrittsvorlesung schrieb.
[14] Hans Mayer, Goethe und Hegel, in: Deutsche Literatur, S. 42
[15] Der Gedichtauszug und die folgenden Zitate stammen aus dem Buch Hans Mayer, Der Weg Heinrich Heines, Frankfurt am Main 1998, S. 7-17
[16] A.a.O., S. 12
[17] ebenda
[18] Vermischte Schriften von Heinrich Heine, Erster Band, [Hamburg 1854] Reprint Hildesheim 2005, S. 64
[19] Hans Mayer, Der Weg Heinrich Heines, S. 110
[20] Denis Diderot (1713-1784) war ein französischer Schriftsteller, Philosoph und Aufklärer und Herausgeber der ersten großen französischen Enzyklopedie.
[21] Marx Engels Werke, Band 32, S. 303
[22] Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952. Darin der Abschnitt (B.B.) Der Geist, Der Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben, S. 389

Fotos: Heiner Wittmann

Glanz statt Hetze – Stolpersteine reinigen

„Im Jahre 1947 stand ich in Köln vor dem schönen Familienhaus meiner Großmutter und meiner vertriebenen Eltern. Die entsetzten und feindseligen Blicke der damaligen Bewohner, als ich mich als Erbe zu erkennen gab. Ich habe dann diese Erbschaft nicht antreten wollen. Ein Widerruf des Widerrufs war nicht möglich.“[1]
So erzählt Hans Mayer über seinen ersten Besuch in Köln nach den Jahren des Exils.

Die Stolpersteine für die Familie Mayer in der Siemensstraße 60 (Foto: HB)

Vor dem Haus seiner Großmutter in Köln Neu-Ehrenfeld in der Siemensstraße 60,
nicht weit entfernt von der letzten Wohnadresse Hans Mayers am jetzigen Ehrenfeldgürtel 171, liegen sieben Stolpersteine: für seine Eltern Rudolf und Ida Mayer sowie weitere Familienmitglieder. Seine Eltern wurden 1941 zunächst nach Lodz (Litzmannstadt) dann nach Chelmo (Kulmhof) deportiert und dort ermordet.

Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt „Stolpersteine“ seit 1995 zunächst in Köln und mittlerweile europaweit über 70.000 zum Gedenken an von den Nazis verfolgte Menschen z.B.  für Roma und Sinti, für Jüdinnen und Juden, Homosexuelle, politisch und „rassisch“ Verfolgte, Menschen mit Behinderungen usw. Eine Liste aller bisher verlegten Stolpersteine ist einsehbar auf der Internetseite des NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln.[2]

Unter dem Motto „Glanz statt Hetze“ riefen auf Initiative der Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker,  das NS Dokumentationszentrum der Stadt Köln und sein Förderverein „EL-DE-Haus Verein“, die Kölner Schwulen- und Lesbentage, die Kölnische Gesellschaft für Christlich Jüdische Zusammenarbeit, die Jüdisch Liberale Gemeinde Gescher LaMassoret, Maro Drom, der Rom e.V. und die Synagogengemeinde Köln dazu auf,  in einer Aktionswoche vom 11.-17.8. 2020 die in Köln verlegten „Stolpersteine“ zu reinigen.[3]

Der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft und die Autorin dieses Artikels sind dem Aufruf „Glanz statt Hetze“ gefolgt und haben die „Stolpersteine“ für die Familie von Hans Mayer gereinigt und wieder zum Glänzen gebracht.

Claudia Wörmann-Adam
Mitglied Hans-Mayer-Gesellschaft
Gründungs- und Vorstandsmitglied des Verein EL-DE-Haus

[1] Hans Mayer, Der Widerruf Über Deutsche und Juden; Frankfurt 1994, S. 442
[2] nsdok@stadt-koeln.de
[3] https://www.stadt-koeln.de/leben-in-koeln/kultur/stolpersteine/index.html
(Zugriff am 16.8.2020)

Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland. Zum Vortrag Hans Mayers vor dem Collège de Sociologie

Bekannt ist von Hans Mayer seine Herkunft als promovierter Jurist und späterer Literaturwissenschaftler. Gerade in seiner Exilzeit zeigt er sich aber auch als ausgezeichneter Historiker und Soziologe. Das zeigen u.a. seine Arbeiten für das Horkheimersche »Institut für Sozialforschung« und seine Begegnungen am Collège de Sociologie mit herausragenden Wissenschaftlern wie Bataille, Klosowski und Benjamin. Natürlich war der Nationalsozialismus in Deutschland ein zentrales Thema.

„Was bloße Ideologie und sektiererische Verschwörung war, hat er [Hitler] in eine Taktik, eine Politik des Erfolgs überführt.“ In bestechender Analyse zieht Hans Mayer in seinem Vortrag am 18. April 1939 vor den Mitgliedern und Gästen des Collège de Sociologie[1] die historische Linie von den „Ressentiments, Emotionen und Erinnerungen […], die die deutsche Geschichte und insbesondere die Geschichte der Einigung Deutschland im letzten Jahrhundert (i. e. das 19. Jh., H.W.) produziert und komponiert“[2] haben zum Nationalsozialismus.

Wie Mayer in einem Brief an Denis Hollier berichtet, der die Vorträge im Collège de Sociologie veröffentlicht hat, folgte die Einladung zu diesem Vortrag seinen regelmäßigen Begegnungen mit Georges Bataille. In seiner Autobiographie Ein Deutscher auf Widerruf hat Mayer über die Treffen mit Georges Bataille berichtet: „Georges Bataille war viel ,deutscher‘, als ich es hätte je sein können.“[3] Mayer bedauerte in seiner Biographie sein „Versagen vor ihm und seinem Werben, hatte doch Bataille schon 1933 über „Die psychologische Struktur des Faschismus“ geschrieben und darin festgestellt, dass das »erwachte« Deutschland eine Entgrenzung des Denkens verlange, „um die Entgrenzungen, die folgen würden, vom tradierten Handbeil bis zur perfektionierten Gaskammer, begreifbar zu machen.“[4] „Ich bin ausgewichen, ohne zu verstehen,“ bedauert Mayer. Hatten sich zwei Intellektuelle verpasst? Die Frage ist berechtigt, da Mayers Vortrag durch seine Erklärungsversuche, Interpretationen der Erfolge Hitlers zu formulieren, auf großes Interesse stoßen musste, zumal Bücher der von Mayer genannten Autoren wie Arthur Moeller van den Bruck (1876-1926), Das Dritte Reich, 1923, schon seit 1933 auf Französisch vorlagen oder kurz darauf erschienen wie Hermann Rauschning, Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich, 1938 (Gallimard 1939).

Mayer bezieht sich in seinem Vortrag im April 1939 auf die Rezeption Hitler-Deutschlands durch französische Soziologen und Politiker. Das erste Erklärungsmuster derjenigen, die Hitler in der Theorie des »ewigen« Germanen sehen, dass die mittelbaren Anlässe wie Massenarbeitslosigkeit oder Irrtümer der Parteien, die als Erklärung für den Erfolg Hitlers bemüht werden, verwirft Mayer als zu oberflächlich. Hitlers Erfolg insbesondere bei den Mittelschichten will Mayer mit einer zweiten These deuten, die auf Mythen zielt, die an die Reichsidee und ein mittelalterliches Deutschland gepaart mit dem Nationalismus vieler Gruppen anschließen: „ein Historismus, der sich seiner selbst nicht bewußt ist“[5].

Die Idee des »Dritten Reichs« stamme nicht von Hitler, sondern von Arthur Moeller van den Bruck. Moeller war es auch, der 1922 die Außenpolitik des Dritten Reichs unter dem Titel Sozialismus und Außenpolitik formulierte. Ein Jahr später spreche Moeller van den Bruck vom Anbruch des deutschen Zeitalters. Mayer nennt auch Ernst von Salomons Buch über die Freicorps, Die Geächteteten (Berlin 1930), das 1931 in Paris unter dem Titel Les réprouvés erschien. Mayer zitiert Hermann Rauschning, der das Fehlen eines Programms und fester Werte feststellte. Auch Nihilisten gelinge es, so Mayer, eine Zauberformel anzuwenden. Folgerichtig negiere der Nationalsozialismus alle Formen der Differenzierung in der Gesellschaft; Hierarchien ebne er vordergründig ein, um sie im nationalsozialistischen Staat nur umso stärker wieder entstehen zulassen. Gleichschaltung ist das Stichwort. Dieser geistige deutsch-französische Austausch noch Ende der 30er Jahren auf diesem Niveau wäre eine eigene Untersuchung wert.

Zu dem Erklärungsansatz Mayers gehört der Hinweis, dass Hitler es wohl verstanden hat, die vielen Gruppierungen „Bloße Ideologie und sektiererische Verschwörung“ (S. 239) zu einen, hatte ihm doch der gescheiterte Putsch von 1923 in München die negativen Aspekte geheimbündlerischer Aktionen aufgezeigt.

Auf der Spurensuche nach dem Nationalismus hitlerscher Prägung verzeichnet Mayer den vollständigen Bruch der Nationalsozialisten mit den führenden Schichten der Weimarer Republik. Hitler wendet sich gegen die Parteien; „das Individuum wird dem bürgerlichen, zivilen Leben entrissen“ (S. 534). In einem Halbsatz bringt Mayer seine ganze Empörung auf den Punkt und deutet nebenher, wie trotz der Niedertracht der „Bewegung“ ihr Erfolg zustande kam: „ … es (i.e. das Individuum) ist als Empörer mit anderen Empörten verbunden.“ (ib.) Gleichzeitig werde der bürgerliche Nationalismus aus der Vorkriegszeit negiert.

Mayers These lautet, der integrale Nationalismus der Kriegsheimkehrer wende sich zu den ersten Bünden, die Anfang des 19. Jh. die nationale Idee in Deutschland gestalteten. Mayer kann der Ansicht, Hitler habe sich nordischer, germanischer oder neuheidnischer Mythen bedient, nicht teilen, hingegen zeigt sich Mayer überzeugt, dass Mythen der deutschen Geschichte, die an die Reichsidee oder an das mittelalterliche Deutschland anknüpften „bedeutungsvoller“ waren.

Es folgt als Hauptteil des Vortrags zum Nationalgefühl von seinem Erwachen bis 1871 (S. 535-546), mit dem Mayer die Anfänge des „Integralen Nationalismus in Deutschland“ (S. 549) darstellen wollte. Er unterstreicht mit Nachdruck den Unterschied zwischen Kulturnation und Staatsnation. Nach einer wechselvollen Geschichte vollziehe sich 1807 nach der Schlacht von Jena und dem Frieden von Tilsit, so Mayer, der Wandel vom Kampf um die Kultur zum Kampf um den deutschen Nationalstaat. Aus diesem Jahr stammt auch der „Tugendbund“ mit Stein, Scharnhorst, Gneisenau u. a. In diesem Umfeld entstand das Freikorps des Majors Ferdinand von Schills (1776-1809) und sein Versuch, Stralsund zu erobern, den er mit dem Leben bezahlte. Es entstanden weitere Bünde, alle mit dem Ziel, Deutschland von fremder Herrschaft zu befreien, wie die „Deutsche Gesellschaft, auch „Deutscher Orden“ genannt. Die „schwarzen Jäger“ des Generalmajors von Lützow. Ernst Moritz Arndt mit seinem Entwurf einer »teutschen Gesellschaft« (1814) gehörte zu den theoretischen Köpfen dieser Bewegungen.

1815 entstand ein patriotischer Studentenbund unter dem Namen „Burschenschaft“ mit Ablegern in vielen Städten, die die deutsche Frage für sich in den Mittelpunkt rückte. 1818 kam es zu einem Streit um den Nationalismus zwischen den Älteren und dem Anführer der jungen Burschenschaftler, Karl Follen[6] (1796-1840), der sich mit seinem Eintreten für die Revolution und die Republik durchsetzen kann und so künftig den jungen deutschen Nationalismus anführe. Hinter Follen stand eine Art Organisation geeint durch Treue und Verschwiegenheit: darunter die „Unbedingten“ und die „Unbeugsamen“, Karl Ludwig Sand (1795-1820) ist auch mit dabei. Was sie alle einte war ein revolutionäres Eintreten für Demokratie, antifranzösischer, christlicher und antisemitischer Nationalismus, angefacht von der radikalen Kritik an der Französischen Revolution. Mayer unterstreicht „die bizarre Mischung rationaler und irrationaler, liberaler und antiliberaler Begriffe.“ Bei dem Wartburgfest[7] 1817 mit der Bücherverbrennung jüdischer Autoren wurden auch die „Urfeinde eines deutschen Volkssturmes“ (S. 546) verbal angegriffen. Mayer erinnert an die Feme die „eine sehr eigenartige Vorstellung von den Geheimtribunalen der Germanen“ hervorrief.

Die Bewegung scheiterte 1819, als Karl Ludwig Sand am 23. März 1819 August von Kotzebue ermordete.[9] Mit den daraufhin verkündeten Karlsbader Beschlüssen von 23. März 1819 wurde den Burschenschaften und damit ihrem Versuch „einen integralen Nationalismus“ (S. 549) zu fördern, ein Ende gesetzt. Die gleiche Geisteshaltung, mit der Sand mordete, erkennt Mayer bei den Mördern von Rathenau und Erzberger wieder.

Es ist der Nationalliberalismus, der an das Hambacher Fest von 1832 erinnert, der die Politik in der Weimarer Republik kennzeichnet, aber schon begann, so Mayer der Geist von 1819, „der Geist des Unbeugsamen, der Mythen und der direkten Aktion“ (S. 549) sich wieder auszubreiten. Erst nach 1918 beginne, so Mayer, „dieses seltsame Spektakel“: „Die Erhaltung der Energie, diese Rückkehr zu den Riten“, dazu kommt die Jugendbewegung und wieder der Geist von 1819: „der Geist der Unbeugsamen, der Mythen und der direkten Aktion“. (S. 549).

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[1] Das Collège de Sociologie 1937-1939, hg. v. Denis Hollier, Berlin 2012. Zu Benjamins Kritik an den Vertretern des Collège de Sociologie: vgl. Gérard Raulet, Kojève, Bataille, Caillois und das Collège de sociologie. Antifaschisten, welcher Art? Die Mimesis als politische Waffe, in: Das befristete Dasein der Gebildeten. Walter Benjamin und die französische Intelligenz, Konstanz 2020 (235-281). Das Collège de Sociologie entstand als Idee Anfang 1937 und existierte dann von November 1927 bis Juli 1939. Die Idee zu seinem Namen geht ging auf Jules Monnerot zurück: man wollte Soziologie nicht lehren, „sondern sie weihen … sakralisieren“, so Dennis Hollier in seiner Einleitung zu dieser Sammlung von Vorträgen, die in diesen beiden Jahren im Collège de Sociologie gehalten wurde. Zum Leitungsgremium gehörten Georges Bataille, Michel Leiris und Roger Caillois. Im zweiten Jahr wurden außer René Guastalla, Pierre Klosowski, Denis de Rougemont u. a. auch Jean Paulhan und Hans Mayer zum Vortrag im Hinterzimmer der Rue Gay-Lussac, Hausnummer 15, eingeladen. Die Veranstaltungen waren öffentlich: Eintrittspreis 4 Fr.
[2] Hans Mayer, Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland, in: Denis Hollier, Hg., Das Collége de Sociologie, a. a. O (521-550)., hier: S. 526.
[3] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Band I, Frankfurt/Main ²1982, (236-242), vgl. im Folgenden, S. 241 ff.
[4] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, a. a. O., S. 242.
[5] Hans Mayer, Die Riten, S. 525.
[6] Zur Rolle von Karl Follen, vgl. Hans Mayer, Georg Büchner und seine Zeit, Frankfurt/M 1972, S: 122 und ders., Georg Büchner und seine Zeit, Wiesbaden 1946, S, 136 f., In Jena wurde 1815 die erste Burschenschaft gegründet. Neben dem Hass auf Frankreich entwickelte sie auch einen ausgeprägten Antisemitismus bei der Frage, ob jüdische Studenten aufgenommen werden sollten Vgl.: Ulrich Wyrwa, Deutsche Burschenschaften, in: Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bad 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin/Boston 2012 (138-140), S. 138: „Maßgeblichen Eindruck hatten nicht nur die deutsch-völkischen Stichwortgeber Friedrich Ludwig Jahn und Ernst Moritz Arndt so­wie der Philosoph Johann Gottlieb Fichte hinterlassen, sondern auch der in Heidelberg lehrende Philosoph Jakob Friedrich Fries und der in Berlin tätige Historiker Friedrich Christian Rühs, die beide durch ihre vehemente Judenfeindschaft hervorgetreten sind. Innerhalb der deutschen Burschenschaften war es paradoxerweise vor allem die demo­kratische Gießener Gruppe unter Karl Follen, die sich am stärksten gegen die Aufnah­me von jüdischen Studenten stemmte.“
[6] Dazu: Ulrich Wyrwa, Deutsche Burschenschaften, a. a. O. S: 139:„Zu einem antijüdischen Eklat kam es auf dem von den Burschenschaften initiierten Wartburgfest im Oktober 1817 zur Feier des 4. Jahrestages der Schlacht von Leipzig und zum Gedenken an die Reformation vor 300 Jahren, auf dem Bücher jüdischer Autoren unter begeisterten Zurufen christlich-deutscher Studenten verbrannt wurden.“ Vgl. auch Alexandra Kurth, Männer – Bünde – Rituale, Frankfurt/New York, bes. Kap.4: „Korporationen im 19. Jahrhundert: Vom Urburschenschaftler zum Corpsstudenten als „Idealbild des wilhelminischen Kaiserreiches“, S. 83-119 und Kap. 5: „Verbindungsstudentische Männerbünde als Protagonisten der völkischen Antimoderne im 19. und 20. Jahrhundert Antisemitismus S. 12-135, bes. 5.1. Antisemitismus; S. 122-128.
[7]Vgl. dazu auch: Jost Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1988, S. 42.