Die Veröffentlichung des Tagungsberichts über die Tagung „Die hilflose Einsamkeit in einer Welt der Anderen“ oder „Aussenseiter“ bei Hans Mayer“ erfolgt mit einer Zeitverzögerung, da wir der Autorin des Berichts die Gelegenheit geben wollten, ihren Beitrag als Erstveröffentlichung in der Zeitschrift „H-Soz-Kult“ zu publizieren. (Siehe: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-158466)
Die gut besuchte Tagung im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln ist sowohl bei den Referent*innen als auch Teilnehmer*innen auf großen Zuspruch gestoßen. Die Vorträge werden im kommenden Jahr in der Zeitschrift „literaturkritik.de“ veröffentlicht.
Heinrich Bleicher
Tagungsbericht: „Die hilflose Einsamkeit in einer Welt der Anderen“ oder „Aussenseiter“ bei Hans Mayer
Autorin: Helen Sotowic, Universität zu Köln,
„Die bürgerliche Aufklärung [ist] gescheitert. […] Sie versagte vor den Außenseitern“, postulierte Hans Mayer in seinem 1975 erschienen Buch Außenseiter.[1] Das 50-jährige Jubiläum der Veröffentlichung des Buches nahm die Hans-Mayer-Gesellschaft zum Anlass für eine Tagung unter dem Titel: „‚Die hilflose Einsamkeit in einer Welt der Anderen‘ oder ‚Aussenseiter‘ bei Hans Mayer“. Am 19. und 20. September 2025 diskutierten Wissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln über das Konzept des Außenseiter:innentums bei Hans Mayer und entwickelten seine Überlegungen unter Einbezug neuerer Forschungsstränge weiter. Ziel war es, neue Zugänge zu Mayers Theorie zu entwickeln und die historische Rolle von Außenseiter:innen in Gesellschaft, Kunst und Kultur kritisch zu hinterfragen.
Einen wichtigen Ausgangspunkt fand die Tagung in Mayers eigener Biographie. Er studierte Geschichte, Philosophie, Literaturgeschichte, war promovierter Jurist und vor allem Autor. Seine Erfahrungen als politisch verfolgter Linker, Jude und Homosexueller unter den Nationalsozialisten prägten sein Interesse an gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen. Sein Buch von 1975 behandelt eine Geschichte der Ausgrenzung und zeichnet diese anhand von drei zentralen Beispielgruppen in literarischen Werken nach: Frauen, Homosexuelle und jüdische Menschen. Mayer stellt darin außerdem eine Theorie zum Außenseiter:innentum auf: Seine Unterscheidung zwischen „intentionellen“ und „existenziellen“ Außenseiter:innen sowie sein Fokus auf verschiedene Typen bildeten den leitenden Rahmen der Konferenz.

HEINRICH BLEICHER (Köln) umriss diesen Rahmen mit Blick auf die Entstehung des Buches. Mayers Begegnung mit den Aborigines in Australien sowie seine Erfahrungen in den Vereinigten Staaten beeinflussten den Entstehungsprozess von Außenseiter. Bleicher skizzierte das Leben Hans Mayers: Von Exilstationen in Paris und Genf über seine Professuren in Leipzig, Tübingen und Hannover bis zu seiner Emigration aus der DDR in die Bundesrepublik spiegelte sein Leben ein mehrfaches Außenseitertum wider. Dieses biographische Fundament war für die gesamte Tagung von zentraler Bedeutung, da es den theoretischen Überlegungen Mayers eine substanzielle Dimension verlieh und seine Positionierung in der intellektuellen Landschaft der Bundesrepublik greifbar macht. So legte Bleicher die Grundlage für den weiteren Verlauf der Tagung, die in vielen Aspekten Bezug auf Mayers Leben und Werk nahm.

Unter dem Titel „Frau mit der Waffe“ widmete sich BILL NIVEN (Nottingham) in seinem Vortrag Mayers erstem Fallbeispiel: Frauen, die Resilienz zeigten und Widerstand leisteten. Er verdeutlichte wie jüdische Frauen in der deutschen Literatur sexualisiert, dämonisiert und als zerstörerische Instanzen dargestellt wurden – etwa die Figur der Kundry in Richard Wagners Parsifal. Zwar sei sie nicht explizit als Jüdin bezeichnet worden, doch spiegelten sich in ihr zahlreiche tradierte antijüdische Stereotype wider, indem sie die Grenze zwischen Gut und Böse überschreite, ihre Sexualität als Waffe nutze, sich leicht bekleidet zeige und zersetzend auf die Gemeinschaft wirke. Später formulierte stigmatisierende Narrative seien als Gegenbewegung zur „neuen Frau“ in der Weimarer Republik zu lesen und ließen sich mit antisemitischen Vorurteilen verknüpfen. Besondere Aufmerksamkeit widmete Niven dem intersektionellen Zusammenspiel von Geschlecht und Antisemitismus: Nichtjüdische Frauen wurden zum Beispiel weniger stark sexualisiert. In der anschließenden Diskussion entwickelte sich die Idee, dass Außenseiter:innen nur zu solchen gemacht werden, wenn es eine „Innenseite“ gibt, die diese Grenzen zieht – eine Überlegung, die viele weitere Beiträge aufgriffen. Nivens Beitrag war somit nicht nur eine literaturhistorische Bestandsaufnahme, sondern auch ein Anstoß zur methodischen Reflexion.

ARNO METELING (Köln) exemplifizierte die den Mayerschen Außenseiter:innen inhärente Monstrosität anhand von Vampir-Darstellungen. Er stellte den Vampir als „Theoriefigur“ vor, die unterschiedliche Gruppen wie Jugendliche, die Konsumgesellschaft oder auch Homosexuelle repräsentiere. Der Vampir als „Untoter“ störe die Ordnung von Leben und Tod, sei mit Homosexualität und Tiermetaphern (darunter Fledermäuse und Ratten) verknüpft und sei so mit anderen Außenseiter:innen verbunden. Meteling verdeutlichte dies mit dem Vergleich des Blutvergießens und -saugens zwischen Männern als sexuellen Akt in verschiedenen Filmen des 20. Jahrhunderts. Dies verband er mit Voltaire und Marx, die ihrerzeit Börsenspekulanten und das Kapital als „vampirmäßig“ beschrieben. Durch die Verbindung des Vampirs mit Geld und Gold werde sichtbar, wie literarische und kulturelle Monstren gesellschaftliche Ängste bündeln und Normalität durch Abgrenzung schaffen.

Die Beziehung von Außenseiter:innentum und Autor:innenschaft stand im Zentrum der Überlegungen von HEINER WITTMANN (Pforta) zu Jean Genet. Dessen nonkonformes Leben, geprägt von Kriminalität und Homosexualität, wurde von Jean-Paul Sartre wie auch von Mayer als paradigmatisch für Außenseiter:innnenfiguren interpretiert. Sartre beschrieb Genets Weg vom Verbrecher zum Schriftsteller als Prozess, in dem er sein „Monstrumsein“ akzeptierte und daraus schöpfte. Sartre beschäftigte sich häufig mit Verbrechern und zeichnete ihren Weg vom Individuum zum Künstler nach, indem er die Grenzen psychoanalytischer Methoden mit marxistischen Ansätzen fokussierte. In der Diskussion wurde erneut die Frage nach der Unterscheidung zwischen intentionellem und existenziellem Außenseiter:innentum virulent: Als Autor könne Genet als intentioneller Außenseiter gelten, als Krimineller und Homosexueller hingegen als existenzieller. Ein klarer Trennstrich ließ sich nicht ziehen – ein Befund, der auch auf Mayer selbst zutrifft.

Einen Einblick in die Rezeption Mayers in den Gay Studies bot der Vortrag von ANDREAS KRAß (Berlin). Zunächst zeichnete er die Geschichte des Paragraphen 175 nach, der von 1872 bis 1994 in verschiedenen Versionen Anwendung fand. Da der Paragraph in der Fassung des Kaiserreichs von der DDR und in der des Nationalsozialismus von der Bundesrepublik übernommen wurde, erlebte Hans Mayer, der 2001 starb, als homosexueller Mann all diese Fassungen sowie die Abschaffung des Paragraphen mit. Vor diesem Hintergrund erkannte er in Homosexualität nicht nur ein individuelles, sondern auch ein politisches Thema. Mayer gehörte einem humanistisch-liberalen Diskurs an, der Homosexualität sexualwissenschaftlich betrachtete und im Kontrast stand zu einem maskulinistisch-konservativen Diskurs, der Homosexualität als gesteigerte Männlichkeit und somit aus einem antifemininen und antisemitischen Blickpunkt betrachtete. Gleichwohl sei Außenseiter in den Gay Studies lange kaum beachtet worden. Zwar sei Mayer in den 1990er Jahren stellenweise zitiert worden, eine substanzielle Auseinandersetzung blieb jedoch aus. Kraß erklärte dies damit, dass Mayer durch seine stark historisch-literaturwissenschaftliche Perspektive in einem methodischen Feld verortet sei, das sich nur bedingt mit poststrukturalistisch geprägten Ansätzen verbinden lasse.

Das didaktische Potential von Mayers Theorie stellte MARK-OLIVER CARL (Frankfurt) heraus. Aus Perspektive einer machtkritischen, postkolonial informierten Literaturdidaktik fragte er, wie Außenseiter schon früher in eine Pädagogik der Diversität hätte einfließen können. Carl erläuterte die Grundlagen der machtkritischen Literaturdidaktik und betonte die Schnittmenge zu Mayer, der sich gegen Rassismus, Homophobie, Sexismus und Ableismus positioniert und die Literatur als prädestiniertes Mittel für die Darstellung von Außenseiter:innen gesehen habe. Mayer interpretiere literarische Texte, aber formuliere keine didaktische Theorie. Heute, so folgerte Carl, sei Mayer durch die Entpolitisierung der Lehramtsdidaktik und die zunehmende Schüler:innenschaft mit Migrationshintergrund nicht mehr leicht an die Literaturdidaktik anzuschließen. Wenn aus Mayers Ansatz eine Theorie entstehen würde, wäre also keine Synthese, sondern eher Konkurrenz der beiden Theorien denkbar – eine Konkurrenz, die belebend wirken, aber auch zu gegenseitiger Zersetzung führen könne.
Die Konflikte zwischen Mayer und dem juristischen System des Nationalsozialismus leuchtete HANS-ERNST BÖTTCHER (Lübeck) mit seinem Vortrag über den juristischen Außenseiter Mayer aus. Anhand von Mayers Autobiografie Ein Deutscher auf Widerruf skizzierte Böttcher sein Leben als Jurist und setzte dieses in Verbindung mit der Justiz in der Weimarer Republik. Während viele Jurist:innen die Republik formal schützten, sie aber innerlich ablehnten, verteidigte Mayer die Verfassung – und wurde zugleich von ihr marginalisiert. Anhand des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ von 1934 exemplifizierte Böttcher die einsetzende Ausgrenzung vor allem von jüdischen Menschen als Außenseiter:innnen im juristischen Bereich. Der Vortrag warf die Frage auf, wie ein:e Feind:in definiert werde. Die Diskussion nahm die Problematik der aktuellen politischen Landschaft und die Handlungsfähigkeit der Judikative in den Blick.

Die Entscheidung Mayers, seinen Nachlass an das historische Archiv der Stadt Köln zu geben, nahm ANNE BENDEL (Köln) zum Anlass, um nach dem Archiv als Ort der Erinnerung und der „Wiedergutmachung“ zu fragen. Obwohl Mayer nach seiner Vertreibung Köln nicht mehr als seine Heimat empfand – diese Rolle übernahmen stattdessen Leipzig und Tübingen als für ihn nicht vorbelastete Orte –, überließ er dem Historischen Archiv seinen Nachlass. Bendel erörterte, dass das Archiv gleichzeitig Formen des Erinnerns, des Erfahrens und der „Wiedergutmachung“ ermögliche. Der Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 markiere die Ambivalenz zwischen Bewahrung und Gefährdung. Mayers Nachlass sei dabei glücklicherweise nur geringfügig beschädigt worden. Bendel betonte, auch Außenseiter:innen hätten ein Recht auf die Archivierung ihrer Nachlässe, um erinnert zu werden.

ROLF FÜLLMANN (Köln) rückte die Außenseiter:innnenfiguren in den Filmen Veit Harlans, der unter anderem bei Jud Süß Regie führte, ins Zentrum seines Vortrags. Jüdische Menschen, Frauen und Homosexuelle erscheinen in dessen Filmen als virulente Bedrohungen des Bürgertums. Im NS-Staat seien keine Horrorfilme produziert worden, sondern vielmehr antisemitische Propagandafilme, die Juden als Gefahr für die „arische Rasse“ inszenierten – insbesondere dann, wenn sie nicht von der übrigen Bevölkerung zu unterscheiden waren. Seine Thesen untermauerte Füllmann anhand zahlreicher Filmausschnitte. Jud Süß wurde zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung nicht als radikale Hetze empfunden, sondern symbolisierte die Normalisierung von Ausschluss. Harlans Nachkriegsfilme perpetuierten zudem weitere Außenseiter:innnennarrative, indem sie andere Feindbilder in Szene setzten, etwa Frauen und Homosexuelle. Häufig sexualisiert, wurden sie in der Narration gerade durch ihr Außenseiter:innentum zur Gefahr stilisiert.

Schließlich referierte BENEDIKT WOLF (Bielefeld) über Thomas Mann und seine Darstellung einer anderen gesellschaftlichen Randgruppe, die er mit Mayers Konzept des Außenseiter:innentums in Beziehung setzte. Dafür ordnete er vorerst den Begriff „Z*“ ein und erklärte, inwiefern er sich von der Bezeichnung Sinti und Roma unterscheide: Den Begriff verwende er nicht ethnographisch, sondern in einem soziographischen Sinne für eine Gruppe, die nicht mit der ethnischen Gruppe der Sinti und Roma übereinstimme. In Manns Werk Tonio Kröger komme die Formulierung „Z* im grünen Wagen“ viermal vor, um eine Außenseiter:innengruppe zu beschreiben, von der sich die Figuren in der Novelle klar abgrenzen. Der Protagonist sei sowohl ein existenzieller als auch ein intentioneller Außenseiter, womit Thomas Mann den Zusammenhang der beiden Formen des Außenseiter:innentums nach Mayer erfasse. Somit kam Wolf erneut auf dessen Außenseiter:innen-Theorie zurück – und auf die zu Beginn der Tagung aufgeworfene Frage, inwiefern intentionelles und existenzielles Außenseiter:innentum zusammenhängen und sich mehrfache Außenseiter:innen, wie Hans Mayer selbst es war, in dieses Konzept einordnen lassen.
Zwei von spannenden Vorträgen und Diskussionen begleitete Tage zeigten, dass das Werk Außenseiter von Hans Mayer noch zahlreiche Fragen und Anknüpfungspunkte bietet, die mit einer Schärfung der Begrifflichkeit beginnen. Die Tagung verdeutlichte, dass die Figur des Außenseiters intersektionell verbreitet, von großer Bedeutung und besonders prägend für die historische Literaturwissenschaft ist. Nicht nur definitorische Fragen, sondern auch Einblicke in Mayers Leben als Außenseiter und in anderer Außenseiter:innengruppen, eröffneten neue Interpretationsweisen und Forschungsmöglichkeiten auf und zeigten, dass sich Mayers Theorie weiterhin als anschlussfähig erweist.
Anmerkungen
Weitere Informationen zur Tagung finden sich auf der Homepage der Hans-Mayer-Gesellschaft: https://www.hans-mayer-gesellschaft.de/aussenseiter-tagung/
[1] Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt am Main 1975.
Kurzübersicht des Tagungsablaufs:
Heinrich Bleicher (Köln): „Der Wind heult über den Michigansee“ – Zur Entstehung des Buches „Aussenseiter“
William Niven (Nottingham): Die Frau mit der Waffe: jüdische und nichtjüdische Figuren im Vergleich
Arno Meteling (Köln): Monster in der Bibliothek – Gelesene Außenseiter
Heiner Wittmann (Pforta) „… Befreiung über Arbeit und Genie“ – Sartre und Mayer über Jean Genet
Andreas Kraß (Berlin): Queere Außenseiter: Zur Rezeption Hans Mayers in den literaturwissenschaftlichen Gay Studies (1975-95)
Mark-Oliver Carl (Frankfurt): Didaktische Aspekte der Außenseiter-Theorie Hans Mayers
Hans-Ernst Böttcher (Lübeck): Der juristische Außenseiter Hans Mayer
Anne Bendel (Köln): Die Rückkehr des Außenseiters Hans Mayer in seine Heimatstadt
Rolf Füllmann (Köln): Juden, Frauen, Homosexuelle – Außenseiter im Zwielicht bei Veit Harlan
Benedikt Wolf (Bielefeld): Thomas Manns ‚zigeunerische‘ Außenseiter
(Fotos: Onno May und Claudia Wörmann)
An der Aktionswoche „verbrannt&verbannt – Autor*innen und ihre Bücher“ die vom Verein EL-DE-Haus, dem Förderverein des NS-Dok, zur Erinnerung an die Bücherberbrennung vor 90 Jahren im Mai 1933 durch die Nazis veranstaltet wurde, hat sich auch die Hans-Mayer-Gesellschaft beteiligt. Sowohl als Kooperationspartner bei der Durchführung als auch bei Veranstaltungen.
In Kooperation mit der „Anna-Seghers-Gesellschaft“ hat die HMG am 11. Mai eine Veranstaltung unter dem Titel »Rückfall in die Barberei« veranstaltet. Hans-Willi Ohl, der Vorsitzende der „Anna-Seghers-Gesellschaft“ und Heinrich Bleicher, der Vorsitzende der HMG, haben Texte der beiden Namensgeber der Gesellschaften zu Köln und zur Bücherverbrennung sowie Auszüge aus „Transit“ vorgetragen. Die Texte:
- Hans Mayer: „Die deutsche Literatur auf dem Scheiterhaufen“
- Anna Seghers in und über Köln
- Anna Seghers – Transit
- Hans Mayer – Köln: Eine Stadt, die auch ihr Gegenteil ist.

Die Veranstaltung fand im Anitquariat Languth in Köln-Nippes vor sehr interessierten Zuhörerinnen und Zuhörern statt, mit denen sich nach der Lesung noch eine interessante Diskussion entwickelte.
In Kooperation mit dem Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller im Bezirk Köln fand eine weitere Veranstaltung im Rahmen der Aktionswoche zur Bücherverbrennung am 13. Mai im DGB-Haus Köln statt. Heinrich Bleicher, Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft, begrüßte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit einem Kurzvortrag zum Thema »Schreiben im Exil«.
Veranstaltung zu Hilde Rubinstein

Ein Gedicht von Hilde Rubinstein:
Die Leute von heute
sind im Bilde.
Sie sprechen beiläufig von:
Zerstörungsqualität
Waffenfamilie
Kriegspotential
Neutronenwaffen
Professionalismus der
Seestreitkräfte…
Andere Leute von heute
sind primitiver und
zugleich bis zur Lethargie
blasiert – noch nie gewesene
Kombination!
Jeder Haifisch aus Plastik
oder Menschenaffe oder
Skorpion erregt sie dermaßen,
dass einige weibliche Beschauer
hinterher zum Doktor müssen.
Das Bildnis der Erde aber – des TELLUS –
unserer Heimstätte –
zum ersten Mal im Geschehenen
als schwebende Kugel wahrnehmbar:
dieses Außerordentliche und wirklich
ganz Große: Unsere Erde im Weltall –
lässt sie ihren Gummi weiterkauen und
allenfalls nach dem Preis der Kamera
fragen, die das da
knipste …
Die Online-Lesungen „Kristalle der Hoffnungen“ im Rahmen des Projektes „30 Tage im November“ stehen online unter folgendem link:
Kristalle der Hoffnungen
Katastrophenwitterung –
Veranstaltung zu Hilde Rubinstein
Trotz Coronabedingungen erfreulich gut besucht fand ein Abend für Hilde Rubinstein in der Kulturkirche Ost am 10. Dezember in Köln statt.
Für den Gastgeber begrüßte Frau Anja Pendzialek von der GAG die Anwesenden. Sie wies auf den Kontext der Veranstaltung im Rahmen des Projektes „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ hin. Heinrich Bleicher, Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft, führte mit einem Kurzvortrag zum Thema „Schreiben im Exil“ in den Abend ein. Stephan Everling (Gitarre) und Charlie Biggs (Trompete) kommentierten die Lesung von Eva Weissweiler und Angelika Hensgen mit zu den Texten Rubinsteins passenden jazzigen Musikstücken.
Weitere Informationen zur Veranstaltung finden sich auf der Hompage der Kulturkirche. Der Text von Heinrich Bleicher „Schreiben im Exil“ kann hier nachgelesen werden.
Zum Jahrestag der Bücherverbrennung
Zum Jahrestag der Bücherverbrennung vom 8. Mai 1933 und zum 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion durch Nazideutschland hat der Arbeitskreis »Zivilklausel der Universität Köln« am 22. Juni eine Lesung veranstaltet. Claudia Wörmann-Adam und Heinrich Bleicher von der HMG haben sich dort mit je einem Beitrag beteiligt. Claudia Wörmann-Adam hat aus dem Buch von Ludwig August Jacobsen »So hat es angefangen« einen Beitrag gelesen. Jacobson war ein Freund von Hans Mayer aus der Zeit als beide, Ende der zwanziger Jahre, mit anderen die Zeitschrift »Der rote Kämpfer« herausgegeben haben. Heinrich Bleicher hat zwei Beiträge zur Bücherverbrennung und zum Thema »Schriftsteller und der Krieg« von Heinrich Mann vorgetragen. Beide Beiträge können hier und auf der Dokumentation von R-mediabase angeschaut werden.
Am 19. Mai war der 20. Todestag von Hans Mayer.
Um seine Person und sein Werk zu würdigen, fand im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre Jüdischen Lebens in Deutschland“ am 8. Juni von 18 – 19:30 Uhr eine Veranstaltung der HMG in Kooperation mit dem Literatur-in-Köln-Archiv (LiK) statt. Den Zeitumständen geschuldet als Webinar:
Hans Mayer: Repräsentant und Außenseiter – ein deutsch-jüdischer Schriftsteller aus Köln
Hanjo Kesting im Gespräch mit Heinrich Bleicher
»Für Walter Benjamin – Erinnern und Eingedenken «
Aus Anlass des 80. Todestages von Walter Benjamin am 26. September 1940 hat die Hans-Mayer-Gesellschaft am 23. Oktober eine Veranstaltung gemacht, in der an den großen Philosophen und Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts erinnert wurde. Nachfolgend die Dokumentation der Veranstaltung.
Das vermutlich letzte Werk Benjamins sind neben dem unvollendeten »Passagenwerk« seine »Thesen über den Begriff der Geschichte« In der VI. These heißt es »Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.«
Bei den Wahlen in Frankreich im Mai dieses Jahres hat Louis Aliot den Wahlsieg in der Stadt Perpignan errungen. Aliot, Mitglied des Rassemblement National (RN) und ehemaliger Lebensgefährte von Marie le Pen, hat mit einem bürgerlichen Wahlbündnis sein Ziel, Bürgermeister von Perpignan zu werden, erreicht. Mit seiner „Entdiabolisierungsstrategie“ versucht er als Wolf im Schafspelz in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Dafür nutzt er eine mit dem »Kulturzentrum Walter Benjamin« in Perpignan verbundene Vereinnahmungsstrategie.[1]
Am 23. Oktober hat die Hans-Mayer-Gesellschaft gemeinsam mit Kooperations-partnern eine Veranstaltung zum »Erinnern und Eingedenken für Walter Benjamin« durchgeführt. Eröffnet wurde sie mit einem Grußwort der Oberbürgermeisterin von Köln, Henriette Reker. Da sie persönlich nicht an der Veranstaltung teilnehmen konnte, wurde ihre nachfolgend veröffentlichte Rede von Dr. Werner Jung dem Direktor des »NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln« vorgetragen. Weitere Beteiligte der Veranstaltung waren, die Autorin Dr. Eva Weissweiler, Dr. Madeleine Claus, Literaturwissenschaftlerin und Mitglied der »Association européen du Prix Walter Benjamin«, sowie die Voice-Artistin und Übersetzerin Flossie Draper und der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft, Heinrich Bleicher-Nagelsmann. Die musikalische Begleitung des Abends lag bei dem Flamenco-Gitarristen Pedro Soler. Eine weitere Rednerin war die Großnichte von Lisa Fittko, Marisa Eckstein.
Die Ankündigung der Veranstaltung hatte ein großes Interesse hervorgerufen. Da Corona bedingt die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer begrenzt war, musste bei weit über hundert Anmeldungen eine Warteliste eingerichtet werden.
Flossie Draper, die Urenkelin von Walter Benjamin war aus Berlin angereist und hat Texte Benjamins gelesen. In einem Interview, dass sie vor der Veranstaltung im WDR gegeben hat, kann man Aussagen von ihr zu dem Blick auf den Urgroßvater nachhören.
Die gesamte Veranstaltung wurde von Hans-Dieter Hey und Senta Peneau/R-mediabase aufgezeichnet und kann zusammengefaßt in zwei Videos unter den nachfolgenden links angeschaut werden.
Der 1. Film ist hier zu sehen: https://youtu.be/xV0PAzNOX6Q
Der 2. Film ist hier zu sehen: https://youtu.be/nHPxTtuIabU
Texte zum ersten FILM
Grußwort der Oberbürgermeisterin Henriette Reker auf der Veranstaltung »Zum Erinnern und Eingedenken an Walter Benjamin«
Sehr geehrte Frau Dr. Weissweiler,
sehr geehrte Frau Dr. Claus,
sehr geehrte Frau Draper,
sehr geehrter Herr Bleicher-Nagelsmann,
sehr geehrter Herr Soler,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich begrüße Sie ganz herzlich zu dieser Veranstaltung, mit der wir heute an den 80. Todestag von Walter Benjamin erinnern. Wie Sie wissen, hatte Walter Benjamin, der sich als Philosoph vor allem in Berlin und Frankfurt einen Namen gemacht hat, Kölner Wurzeln. Seine Familie väterlicherseits stammte aus unserer Stadt – sein Vater Emil wurde hier geboren und sein Großvater, Bendix Benjamin, ist auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Deutz beerdigt. Ende Januar dieses Jahres, kurz bevor die Pandemie Reisen unmöglich machte, besuchten drei Enkelinnen und ein Urenkel Walter Benjamins zum ersten Mal die Heimatstadt ihrer Vorfahren. Der Anlass war eine Lesung, die Sie – liebe Frau Dr. Weissweiler – aus Ihrem Buch über Walter und Dora Benjamin in der Stadtbibliothek veranstaltet haben. Bei dieser Gelegenheit durfte ich die Nachfahren aus London zu einem Empfang im Rathaus begrüßen und noch immer erinnere ich mich sehr gerne an diese eindrückliche Begegnung. Ich habe unseren Gästen damals versichert, dass wir die historische Verantwortung wahrnehmen und uns vor den Opfern der Shoa verneigen, zu denen leider auch zahlreiche Mitglieder aus Walter Benjamins Kölner Familie gehörten.
Ich freue mich daher sehr, dass wir – trotz aller widrigen Umstände – heute diese Veranstaltung durchführen können, um die Erinnerung an Walter Benjamin weiterhin wachzuhalten und dass Sie – liebe Gäste – sich trotz aller momentanen Unwägbarkeiten dazu entschlossen haben, den heutigen Abend im Gedenken an diesen großen Philosophen und Kulturkritiker zu verbringen. Und umso mehr freue ich mich, dass wir mit Frau Flossie Draper auch heute wieder eine Nachfahrin bei uns begrüßen können, die eigens für diesen Abend aus Berlin angereist ist. Liebe Frau Draper, ich heiße Sie ganz herzlich hier in Köln willkommen und bin gespannt auf ihren Beitrag, bei dem sie mit künstlerischen Elementen an ihren Urgroßvater Walter Benjamin erinnern werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
vor rund 80 Jahren, am 26. September 1940, beging Walter Benjamin im Alter von 48 Jahren auf seiner Flucht über die Pyrenäen im spanischen Grenzort Portbou Selbstmord. Man mag sich kaum vorstellen, wie groß die Verzweiflung und Angst des herzkranken Mannes auf seinem Weg über die Berge, ohne die Aussicht an einen sicheren Ort zu gelangen, gewesen sein müssen. Von den Nationalsozialisten und dem Vichy-Regime zuvor in die Enge getrieben und von der ständigen Angst beherrscht, von korrupten spanischen Polizisten festgenommen und nach Frankreich zurückgeschickt zu werden, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit in ein Konzentrationslager deportiert worden wäre, erschien ihm der Tod als einziger Ausweg.
Diese Geschichte eines Verfolgten, dem in Europa kein Asyl gewährt wurde, sollte uns heute eine Mahnung sein, dass sich dieses unheilvolle Kapitel niemals wiederholt. Auch heute befinden sich Menschen auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung und wir in Deutschland haben aufgrund unserer Geschichte eine besondere Verantwortung dafür zu sorgen, dass sie einen Ort finden, an dem sie aufgenommen werden und sich sicher und geschützt fühlen können. Ich habe immer gesagt: Wir haben in Köln Platz und ein offenes Herz für Menschen in Not. Ich stehe für ein Köln in der Mitte eines Europas der Humanität. Die traurige Geschichte Walter Benjamins bestärkt mich darin.
Umso erschreckender finde ich es, dass die nationalistisch-rassistische Partei Rassemblement National in Frankreich aktuell versucht, den Namen und das Gedenken an Walter Benjamin zu vereinnahmen. Unweit des Sterbeortes von Walter Benjamin in Portbou plant der neu gewählte, rechte Bürgermeister des 50 Kilometer entfernten Perpignan, der gleichzeitig Vizepräsident der Rassemblement National ist, ein brach liegendes Kulturzentrum in der Stadt unter dem Namen „Centre d’art contemporain Walter Benjamin“ weiter zu betreiben, um damit Stimmen aus der bürgerlichen Mitte zu gewinnen. Angeblich soll dort dann auch an verfolgte Juden, Roma und spanische Bürgerkriegskämpfer erinnert werden, was jedoch in einem krassen Gegensatz zu der dezidiert ausländer- und europafeindlichen Politik der Partei steht.
Glücklicherweise hat dieses Vorhaben mittlerweile einen breiten Prostest aus den Reihen Intellektueller, Künstler und Wissenschaftler sowohl in Frankreich als auch in Deutschland ausgelöst. Auch die Angehörigen von Walter Benjamin sprechen sich offen gegen diese Art der Vereinnahmung aus. Und auch ich solidarisiere mich als Oberbürgermeisterin der Stadt Köln an dieser Stelle ausdrücklich mit dem Protest.
Ich freue mich daher sehr, dass wir heute Frau Dr. Madeleine Claus hier begrüßen können. Sie ist Mitglied der „Association européen du Prix Walter Benjamin“ und wird in ihrem Vortrag nachher Näheres über die Vereinnahmung Walter Benjamins durch die französische Rechte berichten. Sehr geehrte Frau Dr. Claus, herzlich willkommen in Köln und meinen herzlichen Dank, dass Sie eigens aus Frankreich angereist sind.
Meine Damen und Herren, auch wir in Köln haben vor nicht allzu langer Zeit erlebt, wie Politiker einer rechtspopulistischen Partei versucht haben, das Andenken an den durch das NS-Regime verfolgten Karnevalisten Karl Küpper zu instrumentalisieren. Dank des couragierten Handelns der übrigen Parteien und Akteuren aus der Zivilgesellschaft ist es uns gelungen, diesem Vorstoß Einhalt zu gebieten.
Um ein klares Zeichen gegen eine solche Vereinnahmung zu setzen, haben stattdessen das Festkomitee Kölner Karneval von 1823 e.V. und die Förderer und Freunde des Kölnischen Brauchtums e.V. den „Karl Küpper Preis“ – einen Preis für Zivilcourage – gestiftet, der just am vergangenen Montag an die erste Preisträgerin Carola Rackete verliehen wurde.
Vielleicht kann dies ein hoffnungsvolles Beispiel sein, dass sich derartige Vereinnahmungen durch rechte Parteien mit etwas Zivilcourage verhindern lassen und die Prostete vielleicht sogar eine breitere Öffentlichkeit für die dahinter liegenden Motive sensibilisieren können.
Es zeigt uns aber auch, welche Bedeutung die Kultur und die Kenntnis unserer Geschichte für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart haben. Denn vieles lässt sich damit leichter verstehen und einordnen. Es ist daher ein großes Anliegen von mir, dass wir die Kultur- und Bildungsangebote in unserer Stadt für alle Kölnerinnen und Kölner zugänglich machen – dies darf nicht vom Geldbeutel des Einzelnen abhängen. Aus diesem Grunde ist eines meiner erklärten Ziele der freie Eintritt in alle städtischen Museen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche uns allen nun einen interessanten und aufschlussreichen Abend, der uns ganz im Sinne Walter Benjamins sicher an vielen Stellen zum Nachdenken bringen wird. Mein großer Dank geht an die beiden Veranstalter Frau Dr. Weissweiler vom Verband deutscher Schriftsteller*innen und Herrn Bleicher-Nagelsmann von der Hans-Mayer-Gesellschaft, die diese Veranstaltung möglich gemacht haben und damit dafür sorgen, dass das Gedenken an Walter Benjamin in Köln und über die Stadtgrenzen hinaus fortgeführt wird.
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Text von Dr. Eva Weissweiler zu Lisa Fittko
Die Fluchthelferin Lisa Fittko erinnert sich
„Benjamins letzter Weg vom französischen Banyuls-sur-mer nach Portbou in Spanien wird in jeder Benjamin-Biografie ausführlich beschrieben. Es gibt Dokumentar- und Spielfilme darüber, Foto- und Video-Installationen, ein Theaterstück und viele einander widersprechende Spekulationen. Die Hauptvorlage sind die Erinnerungen seiner Fluchthelferin Lisa Fittko, die 1985 im Münchener Hanser-Verlag unter dem Titel „Mein Weg über die Pyrenäen“ erschienen. Das Buch ist oft übersetzt und neu aufgelegt worden. 1986 wurde es zum „Politischen Buch des Jahres“ gekürt. Die Jury bestand aus Verlegern, Buchhändlern und Bibliothekaren der Friedrich-Ebert-Stiftung. Johannes Rau, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, übergab den Preis mit den Worten:
Obwohl sie größte persönliche Gefahren auf sich nahm, stellt Lisa Fittko ihre eigene Rolle weit in den Hintergrund und lenkt das Augenmerk auf die verzweifelte Lage der Emigranten, die ihre Heimat verloren haben und vor den Nazis fliehen mussten. Die Autorin zeigt völlig unprätentiös, eher selbstverständlich, wie notwendig es gerade in der Bedrängnis ist, sich menschlich und solidarisch zu verhalten.
Trotz dieser angemessenen Würdigung konzentrierte sich die Presse immer nur auf eins dieses aus dreizehn Kapiteln bestehenden Buches: Das siebte, in dem sie über den Grenzübergang Walter Benjamins berichtet. Alles andere schien die Rezensenten nicht zu interessieren, weder die Biographie Lisa Fittkos, noch ihre politische Einstellung, noch die Schicksale der anderen Flüchtlinge, denen sie geholfen hat. Erlauben Sie darum, dass ich einige kleine Nachträge mache, bevor ich zum eigentlichen Thema, „Benjamins letzte Passage“, komme.“
In ihren weiteren Ausführungen, die im Filmbeitrag zu hören sind, hat Eva Weisweiler Passagen aus ihrem Buch zu Lisa Fittko, das im Frühjahr 2021 erscheinen wird, vorgetragen. Dieser Veröffentlichung soll nicht vorgegriffen werden.
Text von Marisa Eckstein
Erinnerung an Lisa Fittko
Mein Name ist Marisa Ekstein, ich bin die Tochter von Marlena Ekstein, der Großnichte von Lisa Fittko (*geborene Ekstein). Ich habe meine Großeltern nie kennen gelernt, deshalb war Lisa für mich wie eine Großmutter, aber sie stand stellvertretend für eine verlorene Generation.
Lisa hat meine Forschung zum Holocaust und zu meiner Familiengeschichte geprägt und mich ermuntert, an der Universität meine eigenen Wege zu gehen. Dank ihr stieß ich auf Walter Benjamins Essays zum Kunstwerk und seiner Reproduzierbarkeit, zur Aura und zu Zeit- und Raumerfahrungen, die damals für mich ein bedeutendes Thema wurden. Und anscheinend ist es noch immer so: sobald ich auf Lisa schaue, lerne ich noch Neues, ich muss nur genau hinhören.
Meine Erinnerungen an sie sind zeitlos. Sie hat leidenschaftlich gern Geschichten erzählt und besaß ein unglaubliches Gedächtnis, sie konnte ihre Erfahrungen aus der Zeit vor, während und nach dem Krieg erlebbar machen, lebenskluge Ratschläge geben und heftig über aktuelle politische Themen diskutieren. Sie hat nicht mit mir gespielt oder mir Zöpfe geflochten, mir nichts gekocht oder vorgesungen, sie hat mich nach meinen Gedanken gefragt und mir gezeigt, wie man Menschen und Ereignisse verstehen kann. Aber das Wichtigste, woran ich mich erinnere, sind ihr Charakter und ein paar Kleinigkeiten, die mich als junges Mädchen faszinierten, zum Beispiel dass sie bei Streit immer ruhig blieb, aber nie nachgab, oder ihr sicheres Auftreten, der Sittich, der oft auf ihrer Schulter saß, ihre Sammlung roter Lippenstifte neben dem alten Radio. Sie war gleichzeitig unglaublich sturköpfig und nachdenklich, liebevoll und logisch.
Zu wissen, was man sagen, und zu wissen, was man tun soll, ist zweierlei. Lisa lebte nicht in der Fantasie, sie war ein praktischer Mensch. Sie war weder Akademikerin noch leicht einzuschüchtern, sie handelte intuitiv und sagte, was sie dachte.
Sie war 24 und Sekretärin in Berlin, als Hitler an die Macht kam. Sie war damals schon aktiv im Widerstand, organisierte antifaschistische Aktionen, verteilte Flugblätter und baute ein multinationales Netzwerk im Untergrund mit auf. Sie war geraderaus und freundlich und von drei einfachen Dingen überzeugt: der Solidarität unter Genossen, der Gleichheit und der Freiheit. Ich wüsste zu gern, worüber sie und Benjamin auf dem Weg von Banyuls in die Pyrenäen gesprochen haben. Denn sie konnte mir ihre Werte so vermitteln, dass ich als hitzköpfiger Teenager sie verstehen konnte.
Im August letzten Jahres fuhr ich nach Banyuls und folgte ihren Spuren, Jahre nachdem ich ihre Memoiren gelesen hatte und Sehnsucht bekam, das Land, in dem sie sich versteckt und anderen zur Flucht verholfen hatte, kennen zu lernen. Ich habe an meine eigene Wanderung auf der „F-Route“ sowohl körperliche als auch metaphorische Erinnerungen. Dieses Jahr war ich wieder da, immer noch gebannt von der Gegend und um noch tiefere Verbindungen zu diesem historischen Ort zu bekommen, der meine Existenz überhaupt möglich gemacht hat. Ich erfuhr ein überwältigendes Gefühl von Stärke und Respekt, sowohl für Lisa, als auch bestimmt durch die Berge und das Meer und die geheimnisvolle Umarmung der französischen und der katalanischen Kultur. All das ehrt innerlich und äußerlich diesen Landstrich als Gebilde der Zusammengehörigkeit über die Grenze hinweg, zum Schutz und zur Bewahrung vor allem der Gemeinsamkeiten, einschließlich seiner Geschichte und dessen, wofür sie steht. Grenzen sind häufig im Wesentlichen verschlossene Türen, diese dagegen bleibt ein Labyrinth des Möglichen.
Ich werde immer dankbar sein, Lisa persönlich gekannt zu haben, denn ich habe mein Leben lang zu ihr aufgesehen. Was komisch ist, weil sie sich selbst nie so sah; dass sie tat, was sie tat, geschah nicht um Ruhm oder Anerkennung zu bekommen, es war einfach „das, was alle hätten tun sollen“. Und sie würde sofort dazu sagen, dass es allein nie möglich gewesen wäre. Ich bin auch dankbar dafür, dass Menschen aus vielen verschiedenen kulturellen und historischen Ecken fähig waren zusammenzuarbeiten, dass sie nicht nur an etwas geglaubt, sondern gehandelt haben, anstatt sich bequem zurückzulehnen, und dass sie dadurch so viele Leben gerettet haben – aus der Erfahrung heraus, dass unsere Unterschiede niemals schwerer wiegen als die Bedeutung und Schönheit unserer Gemeinsamkeiten als menschliche Wesen auf diesem Planeten.
Texte zum zweiten FILM
Text von Dr. Madeleine Claus
Die Vereinnahmung Walter Benjamins durch die franösische Rechte (RN)
Bevor ich auf das Thema meines Beitrags eingehe, möchte ich kurz etwas zu dem sagen, was mich hierhergeführt hat. Eigentlich hat mich absolut gar nichts prädestiniert, hier bei einer Hommage an Walter Benjamin das Wort zu ergreifen. Ich bin keine Spezialistin für die Auswüchse der Ultrarechten – denn um die geht es hier -, weder in Deutschland noch in Frankreich. Ich bin auch keine Benjamin-Spezialistin. Ich bin eine Benjamin-Leserin und vor allem: eine Nachbarin! Ich lebe in Südfrankreich, an der spanischen Grenze, in Banyuls-sur-mer, dem Ort, von dem aus Benjamin seinen letzten Weg antrat.
Der Text des gesamten Vortrages kann unter nachfolgendem Link heruntergeladen werden:
Vortrag-Madeleine-Claus
Text von Heinrich Bleicher-Nagelsmann
»Zeitgenosse Walter Benjamin« – Erinnern und Eingedenken
„Jede Betrachtung, die sich Leben und Werk des Zeitgenossen Benjamin als Thema wählt, fühlt sich sogleich konfrontiert mit einer der großen Katastrophen dieses Jahrhunderts: der ebenso grausamen wie törichten Vernichtung dessen, was man die deutsch-jüdische Symbiose genannt hat. Hier gibt es, vom Ende des Jahrhunderts her gesehen, in der Tat nur noch die Hoffnung im Vergangenen“, so Hans Mayer in seiner großen Vorlesung zum 100. Geburtstag Walter Benjamins, die er 1992 in der Universität Leipzig gehalten hat. Eine Betrachtungsform des historischen Erinnerns, wie sie Benjamin in seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte« entwickelt hat, ist es auch heute noch wert, bedacht zu sein.
Geschrieben wurden sie in der Mitte des „kurzen 20. Jahrhunderts“ (Eric Hobsbawm) als der Nazifaschismus angefangen hatte, ganz Europa in Schutt und Asche zu legen. Ende November 1939 ist Benjamin aus dem französischen Lager bei Nevers, in dem viele deutschsprachige Exilanten nach Kriegsausbruch festgesetzt worden waren, zurück in Paris wo er an seinem »Passagenwerk« und den »Thesen« arbeitet. Der »Deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt«, bekannt als »Hitler Stalin-Pakt« vom 24. August 1939, hatte alle Hoffnungen, dass die Sowjetunion den Faschismus zurückschlagen würde, zunichte gemacht.
Der Text des gesamten Vortrages kann unter nachfolgendem Link heruntergeladen werden: Zeitgenosse Benjamin_fin
[1] Siehe hierzu den Beitrag »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein«
