„Die Weltdeutung des Jean-Paul Sartre“

Hans Mayer über das Werk Jean-Paul Sartres

Heiner Wittmann

Von Hans Mayer liegen neun Aufsätze vor, in denen er sich zum Werk von Jean-Paul Sartre äußert. Viele andere Hinweise auf Sartre in seinem Gesamtwerk belegen, dass er sich immer wieder mit dem französischen Philosophen beschäftigt hat. 1963 übersetzte er Sartres Die Wörter und mit seiner Nachbemerkung erläuterte er in besonders einleuchtender Weise ihre Bedeutung für Sartres Gesamtwerk.

Sartres Vorstellungen kurz und prägnant zusammenzufassen und die eigene Kritik an ihm begründen, das hatte Mayer sich schon früh vorgenommen. Er hätte, wie so viele Autoren es vor und nach ihm getan haben, längere Interpretation von Sartre vorlegen können, es ist aber gerade die Kürze und die Hellsichtigkeit, die seinen Texten ihre besondere Bedeutung verleihen.

Der Band Anmerkungen zu Sartre[1], der 1972 in Reihe opuscula bei Neske erschienen ist, enthält Mayers Aufsätze zu Sartre mit einem Vorwort „Anmerkungen zu den Anmerkungen“. Er möchte dieses Buch als „einer Art von Tagebuch, geführt über Jahrzehnte hin“, das sich „um die Bücher eines einzigen Verfassers kümmert,“ (S. 9) verstanden wissen. Die Wirkungsgeschichte auf ihn selber, wie Mayer sie hier andeutet, soll hier dargelegt werden.

Mayer möchte keine Kritiken addieren, sondern darüber berichten „Weil derjenige, der hier schreibt, beim Kontakt mit den ersten Arbeiten Sartres, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre jäh erkannte, „diese Art des Denkens gehe ihn an“. Es fordere zur Auseinandersetzung auf, „darum wurde von nun an kritisch Buch geführt über den Philosophen, Erzähler, Dramatiker, Kritiker und Politiker Jean-Paul Sartre.“ (ib.)

Zuerst entstand 1944 eine erste Bilanz: Die Weltdeutung des Jean-Paul Sartre“, die in diesem Band unter der Überschrift „Die Anfänge“ wiederabgedruckt wird. Er hatte später die Absicht, ein Buch über Sartre und Camus zu verfassen, das nie über den hier vorliegenden Text „Sartre und Camus“ hinauswuchs, zumal durch dem Unfalltod Camus‘ 1960 „die geplante Dauerkonfrontation eines kritisch reagierenden Lesers mit zwei Zeitgenossen“ plötzlich zu Ende war. (S. 10)

Hans Mayer nennt das, was Sartres erste Arbeiten bei ihm hervorriefen und auch das, was Sartre in den siebziger Jahren seinem Land und seinen Landsleuten zufügte, einen „Schock“. Das Theater komme in seinen Anmerkungen zu kurz, bedauerte Sartre, ebenso wie Saint Genet. Comédien et martyr, mit dem die Sartre-Forschung noch immer nicht so recht was anfangen könne – was sich mittlerweile geändert hat[2], so darf man jetzt hinzufügen. Immerhin, Mayer bezeichnet den Saint Genet als „ein Schlüsselwerk auch für die Entwicklung des Erzählers Sartre, der keinen Roman mehr schreibt, sondern stattdessen real-imaginierte Monographien.“ (ib.) Tatsächlich belegen alle Porträtstudien Sartres über Baudelaire, Mallarmé, Flaubert und Tintoretto sowie die Vorworte zu Calder, Giacometti, Wols u.a. sein ausgeprägtes Interesse für die Kunst, die übrigens als zentraler Bezugspunkt seines Gesamtwerks zu verstehen sind.[3] Dann folgt noch ein Text über Sartres Flaubert-Studie. Die Nachbemerkung zu Die Wörter wurde, wie Mayer unterstreicht – weil es keine Anmerkung gewesen sei – in diesen Band nicht aufgenommen.

1944 in Die Anfänge nennt Hans Mayer die Werke Sartres bis 1944: Der Ekel von 1938, die Novellen in dem Band Die Mauer, Texte über Schriftsteller wie William Faulkner, Dos Passos und Jean Giraudoux, dann Das Sein und das Nichts von 1943 und Die Fliegen. „Alle hängen innerlich zusammen…,“ (S. 12) schreibt Mayer und meint damit Literatur, Romane, Novellen und Theater sowie die Philosophie in Sartres Werk. Sogar der dritte Teil, die Studien über Schriftsteller wird hier genannt. Abgesehen von seinen politischen Stellungnahmen, die sich von 1947-1949 häufen werden, sind bis 1944 alle Themen in seinem Werk benannt. Seine Werke wirken und beunruhigen, „wo von ihren wahren Abgründen nichts geahnt wird,“ warnt Mayer und eine solche Anmerkung ist dazu geeignet, die Aktualität von Sartres Denken auch für heutige Leser zu unterstreichen.

Dann erweitert er die Perspektive auf Sartres Werk: „Der Abgrund aber ist weit geöffnet unter diesem Werk. Er ist total, denn er ist identisch mit dem Dasein selber.“ (S. 12) Was meint Mayer hier mit dem Abgrund? Wenn er Sartre die Auffassung zuschreibt, das Dasein an sich sei sinnlos, dann klingt das nach „Lasst alle Hoffnung fahren“, wie Dante es über die Tür zur Hölle geschrieben hat. Ist dieser Pessimismus gerechtfertigt, lässt sich diese Sinnlosigkeit im Werk Sartres erkennen? Bevor wir weiterlesen, erinnern wir uns an die Autodidakten in Der Ekel, wo Roquentin selbstsicher erklärt, das Leben habe den Sinn, den man bereit sei, ihm zu geben. Das kommt bei Mayer gar nicht gut an, er nimmt dem Autodidakten, den er einen „traurigen Pathologen“ nennt, das nicht ab. Die „existentielle Übelkeit, der Ekel“ (ib.) bleibt. Das Sein ist „bare Willkür“ nirgendwo ist Sinn, Mayer bleibt kategorisch, wenn er Sartre liest.

Was ist aber mit Roquentin, der nach dem Abbruch der Biographie über Rollebon nach Hause fährt und sich sagt, er müsse ein Buch schreiben, das so hart wie Stahl sei und den Leuten die Schamröte wegen ihrer Existenz ins Gesicht treiben würde. Dieser Gedanke, mit dem Sartre seine Ästhetik prägnant zusammenfasst, klingt so gar nicht nach Sinnlosigkeit. In einem Gespräch mit Hans Mayer könnte man diesem Freiheit, Wahl, Engagement und Verantwortung als Konzepte der Sartreschen Philosophie entgegenhalten. Bevor wir weiterlesen, noch eine Erinnerung an diesen gerade zitierten Satz, Mayer sprach gerade von einem Abgrund: „Er ist total, denn er ist identisch mit dem Dasein selber.“ Damit relativiert er diesen Schock, diesen Abgrund. Denn es geht tatsächlich um das Dasein in bester philosophischer Manier. Die Existenz des Menschen in all ihren Formen, das ist das Thema des Sartreschen Werkes, zusammengefasst in dem Moment, als Roquentin unter der Kastanie über die Existenz, seine und die aller nachdenkt.

Lesen wir weiter. Mayer bleibt keineswegs bei seinem ersten Eindruck, das Dasein entziehe sich allen Kategorien. Jetzt sprich Mayer von einem anderen Sartre: „der Nihilismus dient der reinlichen Scheidung der Sphären,“ (S. 13) gibt er zu, „Der Pessimismus war denknotwendig, nicht affektiv,“ erklärt er. Dann deckt Mayer den dritten Werkteil bei Sartre auf: „Neben das sinnlose Sein tritt der sinnlose Sinn: die Kunst.“ Auch wenn es wenige Autoren gab, die beim jungen Sartre sein Interesse für die Kunst erkannten, so dürfen hier eigentlich keine Einzelsätze von Mayer zitiert werden, weil sonst leicht ein schiefes Bild seiner Argumentation entstehen könnte.

Nebenbei bemerkt, die Kunst spielt eine ganz besondere Rolle im Zusammenhang mit den Bemerkungen über die Freiheit am Ende von Das Imaginäre. Und schon vorher, wenn es um das Denken in Bildern geht, wie Sartre es 1926 in seiner Studienabschlussarbeit anhand des Aufsatzes von Auguste Flach untersucht hat. In Das Imaginäre wird die Entwicklung seiner Auffassung über die besondere Bedeutung der Kunst augenfällig und steht zusammen mit der Freiheit Pate bei der Entstehung von Das Sein und das Nichts. Die absolute Sinnlosigkeit, so wie Mayer sie sieht, kann in diesem Zusammenhang nicht geteilt werden, allenfalls so, dass Mayer seine Sicht auf die Existenz als solche beschränkt, der aber, so Sartre, die Freiheit hinzugefügt werde muss.

Mayer (vgl. S. 13) sagt „Weil alles geistig Geschaffenes als Nicht-Wirkliches auftritt, wird es notwendig,“ und interpretiert so Sartres Ansatz, mit dem dieser die Überschreitung einer Situation erläutert. Die Fliegen fügen, so Mayer, einen ethischen Aspekt zu Sartres Werk hinzu. Dem Menschen gelingt es, sich von einer göttlichen Sphäre aus eigener Kraft, ohne Gewissensbisse, zu lösen. Es gibt keinen göttlichen Weltplan mehr, die Götter werden vertrieben. Die Angst habe die Stadt verlassen, aber das Handeln bestimmt weiterhin die Menschen. Mayer zeigt, dass die Tat dem Leben einen Sinn vermittle. Es geht aber auch hier schon um eine Bestimmung der Ästhetik, die Frage nach ihrer Wirkung bleibt noch offen, steht die von Mayer gestellte Frage: „Ist Orest ein Held oder ein Verbrecher?“ (S. 15) noch im Raum.

Dieser Text ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis, mit dem Mayer seine Entdeckung des jungen Sartres dokumentiert. Zunächst der Schock durch das Nichts, die Existenz ohne alles, bar jeden Zieles, Dann die Handlungen, Äußerungen, Aktionen der Menschen und das Stichwort der Kunst, die von so vielen Interpreten so lange übersehen wurde, weil sie sich oft entweder auf die Philosophie oder auf die Literatur in seinem Werk konzentriert haben. Das war auch ertragreich, ganze Bibliotheken sind mit Sekundärliteratur zu Sartre gefüllt. Die Zusammenhänge zwischen Philosophie und Literatur in seinem Werk wurden angedeutet; aber oft nur nebenbei und nicht auf grundsätzliche Art. Mayer gibt hier das Stichwort. Es ist die Kunst, die Sartre nutzt, um seine philosophischen Konzepte in der Literatur einzuführen und zu überprüfen. Noch ist das wohl nicht eindeutig zu erkennen, aber Mayer weist den richtigen Weg.

Der komplette Text kann hier geladen werden: 2023-11-02_Die Weltdeutung des JPS

[1] Hans Mayer, Anmerkungen zu Sartre, Pfullingen 1972. Anmerkungen aus diesem Buch sind im folgendem im Text mit der jeweiligen Seitenzahl eingefügt.

[2] Heiner Wittmann, Saint Genet, oder wie macht ein Individuum aus sich einen Künstler, in: id. Sartre, Camus und die Kunst. Die Herausforderung der Freiheit. Reihe Dialoghi/Dialogues. Literatur und Kultur Italiens und Frankreichs. Hrsg. v. Dirk Hoeges, Band 18, Berlin, Bern u.a., 2020, S. 79-87.

[3] Heiner Wittmann, Sartre et la liberté de la création : l’art entre la philosophie et la littérature. in: G. Farina, M. Russo, (Hg.), Sartre et l’arte contemporanea. Immagini e imaginari, dans: Gruppo Ricerca Sartre, Studi Sartriani, Anno XV / 2021, S. 83-102. Online: https://romatrepress.uniroma3.it/libro/studi-sartriani-xv-2021-sartre-e-larte-contemporanea-immagini-e-immaginari/.