Kaum zu glauben, ein Buch mit Texten von Hans Mayer, die noch nicht veröffentlicht waren, ist jetzt erschienen.[1] Zu danken dafür ist Professor Christa Jansohn, die den Text einer WDR-Sendefolge von Hans Mayer zum Jubiläumsjahr 1964 jetzt herausgegeben hat.
In ihrem Vorwort stellt sie heraus: „Dem Germanisten Mayer ging es dabei nicht allein um Shakespeare als ein deutsches Phänomen, vielmehr exemplifizierte er an einer gut ausgewählten Auswahl von Schriften und Übertragungen aus der Deutschen Aufklärung, über Texte aus dem Sturm und Drang, der Goethe-Zeit, der Romantik, der deutschen Aufklärung bis hin zu expressionistischen und zeitgenössischen Werken, wie diese durch Shakespeares Werke inspiriert bzw. ausgelöst wurden.“
Und weiter: „Mit Mayers Ausführungen erhält man aber auch einen prägnanten Überblick über die eigentlichen Entwicklungsprozesse der Kunstauffassungen in Deutschland. Darüber hinaus erfährt der Hörerkreis bzw. das Lesepublikum auch etwas über die verschlungenen Wege, die schließlich zur Hochstilisierung des britischen Dramatikers als “unser Shakespeare” oder gar als “Dritter deutscher Klassiker” geführt haben, wie sie sich zumal um die Mitte des 19. Jahrhunderts kräftig manifestierte, aber auch heute noch nicht ganz verklungen ist.“
In der Einleitung zu der Sendefolge, die im WDR vom 7. Juni bis 26. Juli 1964 in einer Länge von jeweils 45 Minuten sonntags ab jeweils 11 Uhr übertragen wurde, stellt Heinrich Bleicher, Vorsitzender der Hans-Mayer-Gesellschaft das Gesamtkonzept vor:
„… Mayer betritt raschfüßig den Hörsaal 40, hat es noch auf dem Podium sehr eilig, endlich hinter dem Pult angelangt, beginnt fixes Sprechen. Sehr gespannte Stimme, könnte leicht reißen, phonetisch explosiv. Schöne Jahrhundertdurchblicke.“[2] So charakterisiert Uwe Johnson seinen Lehrer an der Uni in Leipzig. 1963 hat Professor Mayer die Stadt und damit auch die DDR verlassen. Nach Auffassung der herrschenden Partei gab es „eine Lehrmeinung zu viel“.
In der BRD hielt Hans Mayer Vorträge, nahm an Tagungen teil und schrieb Features und Rezensionen. Große Freude bereitete ihm ein Auftrag von Roland Wiegenstein, der damals das Kulturprogram des Westdeutschen Rundfunks leitete: Eine achteilige Sendereihe über »Shakespeare und die Deutschen«.
Es ging ihm in den Beiträgen zum 400. Geburtstag Shakespeares 1964 nicht darum Shakespeare-Philologie zu treiben, oder die Frage deutscher Shakespeare-Übersetzungen zu thematisieren. Er wollte Shakespeare und seine Rezeption im Lauf der Jahrhunderte „als auslösendes Moment für den Reichtum deutscher Dichtung, Kulturkritik (und) Sprachkunst … erschließen“[3]. In jeder Sendung diente dafür nicht nur das jeweilige Selbstverständnis der deutschen Autoren, sondern auch ein ebenfalls hinzugefügter Beleg „einer besonders kennzeichnenden Deutung eines einzelnen Shakespeare-Werkes.“
Mit seiner Betrachtungsweise schließt sich Mayer dabei einer Interpretation von Theodor Wilhelm Danzel an, der 1850 in seinem Beitrag »Shakespeare und noch immer kein Ende« feststellte: ‟Die Geschichte Shakespeares in Deutschland ist im Grunde nichts anderes als ein kurzer Abriß der hauptsächlichsten dichterischen Gesichtspunkte, die in Deutschland in den letzten siebzig Jahren geherrscht haben”.[4] Diese Sichtweise ist für Mayer auch in den darauf folgenden Jahren bis in die Gegenwart gültig, ist doch die Reflektion der angeführten Dichter über Shakespeare für Mayer seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch „immer wieder ein Thema deutscher künstlicher und kritischer Selbsterkenntnis.“
Der zeitliche Bogen der Geschichte der deutschen Shakespeare-Rezeption spannt sich von Andreas Gryphius bis Günter Grass.
Zum Abschluss der Einleitung heißt es dann:
Äußerst interessant und reizvoll wäre eine Fortsetzung des Themas „Shakespeare und die Deutschen“ unter Bezug auf die Shakespeare-Übersetzungen und deren Rezeption am Beispiel der Übertragungen von Erich Fried[5] und Frank Günther[6].
Zum Zeitpunkt der Senderreihe waren beide Übersetzerwerke noch nicht erschienen. Natürlich kannte Hans Mayer später Erich Frieds Übersetzungen. In der Gedenkrede auf Erich Frieds Trauerfeier im Wiener Burgtheater am 11. Dezember 1988 hob er „den neuen deutschen Shakespeare; den er uns vermachte hervor.“[7] Gern hätte er eine Übersetzung Frieds von Marlowes Eduard II. gelesen, „weil das „Original des Elisabethaners unendlich stärker ist als die Bearbeitung durch Brecht.“[8] In dem Begleitbuch zu Erich Frieds Shakespeare-Übersetzungen findet sich auch ein Artikel von Peter Demetz mit dem Titel „Shakespeare für alle“, der mit den Worten endet: „Frieds Übersetzung entdeckt uns, indem sie den Nerv unserer historischen Erfahrungen trifft, das wir dem Schrecken archaischer Zeiten, die nicht die goldenen waren, näher stehen, als wir je glaubten.“[9]
Die vollständige Einleitung kann hier geladen werden: Jahrhundertdurchblicke zu Shakespeare
Das Buch kann im LitVerlag bestellt werden.
[1] Hans Mayer, Shakespeare und die Deutschen. Eine Sendefolge von Hans Mayer, herausgegeben von Christa Jansohn und mit einer Einleitung von Heinrich Bleicher, Münster 2023.
[2] Uwe Johnson – Einer meiner Lehrer, in: Über Hans Mayer Herausgegeben von Inge Jens, Frankfurt am Main 1977, S. 75.
[3] Alle nicht eigens nachgewiesenen Zitate finden sich in den jeweils angesprochenen Sendefolgen.
[4] Danzel, Theodor Wilhelm: Shakespeare und noch immer kein Ende. Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Hg. von Hans Mayer (Stuttgart: Metzler, 1962), S. 247-285.
[5] Erich Fried, Shakespeare, 3 Bände, Nördlingen 1995, Lizenzausgabe für Zweitausendeins mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klaus Wagenbach und einem Begleitband herausgegeben von Friedmar Apel.
[6] Wilhelm Shakespeare, Gesamtausgabe in 39 Bänden, München 2000 und folgende übersetzt von Frank Günther und Christa Schünke (Band 39). In dem Essay von Manfred Pfister zu der Coriolan-Übersetzung von Frank Günther wird z.B. herausgearbeitet, wie der aktuelle politische Wirkungsbezug sich niederschlägt und Neuerungen provoziert. Manfred Pfister, Der Coriolan-Komplex, in: William Shakespeare Gesamtausgabe, Band 31, S. 310-332, hier: S.314ff.
[7] Hans Mayer, Dem Andenken Erich Frieds, in: ders., Über Erich Fried, Hamburg 1991, S. 48.
[8] Ebenda. Siehe auch das Kapitel Marlowe und Shakespeare in: Hans Mayer, Aussenseiter, Frankfurt am Main 1975, S. 18-22.
[9] In: Ein Shakespeare für alle, herausgegeben von Friedmar Apel, Berlin 1995, S. 36.