„Ein Schriftsteller, welcher der Schriftstellerei mißtraut“

Man hatte im Januar 1991 Dürrenmatts 70. Geburtstag feiern wollen, aber unerwartet starb der mit Max Frisch berühmteste Autor der Schweiz des 20. Jahrhunderts gesundheitlich schwer angeschlagen am 14. Dezember 1990 in seinem Haus in Neuchâtel an einem Herzinfarkt.  Statt der Geburtstagsfeierlichkeiten gab es dann am 6. Januar 1991 eine Gedenkfeier im Schauspielhaus Zürich. Dort hatte der Dramatiker zahlreiche Aufführungen seiner berühmten Theaterstücke wie „Der Besuch der alten Dame“ mit Therese Giehse 1956 sowie andere Erfolgsstücke wie „Die Physiker“ oder den „Meteor“ erlebt.

Die Gedenkrede im Schauspielhaus hielt Hans Mayer unter dem Titel „Der Meteor“.[1] Es sollte keine literarische Würdigung und keine Trauerrede sein. Diese hätte Dürrenmatt selbst gehalten am gleichen Ort mit der »Totenrede auf Kurt Hirschfeld«. Es würde die Unmöglichkeit der Trauer behauptet. „Da lesen wir: »Die Trauerfeier, die wir hier veranstalten, erreicht den Toten nicht mehr, er hat uns verlassen, seine Loge ist leer … wir kommen zu spät, die Feier fällt nur auf uns zurück … wir betrauern nur uns, nicht ihn …«

Im weiteren Verlauf der Rede fragt Mayer die Anwesenden: Was ist mehr zu betrauern: das Sterben oder das Leben? Über diese Frage hat er sich mit Dürrenmatt bei der Hauptprobe für den „Meteor“ im Januar 1966 unterhalten. Es war eine Überraschungsfrage für den Autor, aber er blieb die Antwort natürlich nicht schuldig. Des Öfteren hatte Dürrenmatt betont, dass eine Geschichte erst dann zu Ende erzählt ist, »wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat«. Der Schriftsteller zögert nicht lange mit der Antwort. »Ja natürlich, der Mann bleibt ja am Leben…«.[2] Der Großschriftsteller Schwitter hatte unbedingt friedlich sterben wollen, aber er bleibt am Leben. Dabei muss man festhalten: „Der Meteor“ ist eine Komödie. Die Begründung findet sich in Dürrenmatts berühmt gewordenem Essay »Theaterprobleme von 1954«. An zahlreichen Beispielen führt er aus, dass die Tragödie von den Griechen bis zu Shakespeare heutzutage nicht mehr zeitgemäß ist. Es brauche die Komödie als Mittel, um Distanz zu schaffen für die Einbindung des Publikums und das Sichtbarmachen des Stoffes. „Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß, Übersicht, Verantwortung voraus. In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. Es geht wirklich ohne jeden. … Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in Sünden unserer Väter und Vorväter. … Schuld gibt es nur noch als persönliche Leistung, als religiöse Tat. Uns kommt nur noch die Komödie bei.“[3]

Doch auch dieser Weg des Dramatikers Dürrenmatt findet für ihn nicht mehr den gewünschten Zugang zum Publikum, wobei das nicht an der Qualität seiner Stücke liegt. Die Konstatierung mancher Kritiker, dass er sich »ausgeschrieben habe«, hält Mayer für Unsinn. Dem widersprächen alle späteren Texte in ihrer Gedankenschärfe und Sprachkraft. In seinem sechsten Lebensjahrzehnt wendet sich Dürrenmatt primär seinen »Stoffen« zu. Der erste Komplex „Labyrinth. Stoffe I-III“ erscheint 1988 und der zweite „Turmbau Stoffe IV-IX“ 1990.[4] Mayer: „Der späte Dürrenmatt sucht nach einer neuen Form nicht allein der eigenen Literatur, sondern der Existenz. Er möchte seine »Stoffe« nicht untergehen lassen…. So fand er sich eine neue episch-philosophische Form für die zweite große Arbeitsetappe.“[5] Es ging, so Mayer, Dürrenmatt dabei nicht um einen Wechsel der literarischen Gattung, sondern, die neuen Erzählform „verwies den Erzähler zurück auf die eigene Subjektivität … er wollte nicht Erinnerungen beschwören, sondern die Welt von heute verstehen.“[6] Denken, Verstehen, Erkennen, das war die Faszination für den Schriftsteller, welcher der Schriftstellerei mißtraut.[7]

Fasziniert von diesem neuen Dürrenmatt war nicht nur Mayer, sondern auch die Dokumentarfilmerin Sabine Gisiger, die im Gespräch mit Dürrenmatts Biograf Peter Rüedi in den „Sternstunden der Philosophie“ im Schweizer Rundfunk die Aktualität Dürrenmatts herausstellen.[8] Auch wenn dieses Gespräch 2015 zum 25. Todestag Dürrenmatts gemacht wurde, hat es nichts von seiner Bedeutung eingebüßt.

Im Jahr 2021 erschien eine komplette Fassung des Stoffe-Projektes in überarbeiteter Form verbunden mit einer Online-Version die alle Stufen und Vorstufen des Projektes beinhaltet, herausgegeben wurde diese Fassung von Ulrich Weber und Rudolf Probst. Diese Online-Fassung ist frei zugänglich und ermöglicht so eine umfassende Lektüre sowie Recherche in allen Fassungen oder Varianten, die vorher erschienen sind.[9]

Für dieses Projekt hat Daniel Kehlmann ein Vorwort geschrieben, dass deutlich macht, wie überwältigt er von diesem Projekt war und ist:

„Die Stoffe sind vielleicht der schrägste und eigentümlichste Rechenschaftsbericht, den es in der deutschsprachigen Literatur je gegeben hat: ein Porträt des Künstlers als junger Mann, eingefasst in ein letztlich unmögliches Buch – ein Buch nämlich, das erzählt, was sein Autor nicht zu erzählen vermocht zu haben behauptet, also seine »ungeschriebenen Stoffe«: ein Buch, in dem steht, was angeblich nicht aufgeschrieben wurde.“[10]

Dürrenmatt erzählt sein Schriftstellerleben anhand gescheiterter Projekte, diese aber führt er „kunstvoll erzählt und brillant aus“ wie er es vorher nicht vermocht hatte. Es geht vom „Winterkrieg in Tibet“ bis zu dem Text „Das Hirn“, dessen letzte Seite in einem nihilistischen Galopp an den großen und kleinen Katastrophen der Menschheitsgeschichte vorbeijagt und schließlich in Auschwitz endet.“[11]

In ihrem Resümee stellen die Herausgeber fest, dass die Erinnerung an vergangenes Leben und Erleben sich dem Zugriff entzieht und sich ständig beim Schreiben verwandelt und dass alles Erinnern eine Neukonstruktion der Vergangenheit ist. Das macht das Abschließen des Textes zu einem Problem, womit auch für den Autor die 1989 und 1990 veröffentlichten Texte ein work in progress blieben.[12]

Wie eminent politisch der Schweizer Autor war, der „Weltliteratur“ geschrieben hat, zeigt sich bei der Lektüre der Stoffe aber auch in seinen Reden bei Verleihungen der zahlreichen Preise an ihn. Politische Geschichte hat er allerdings auch geschrieben mit seiner Rede zur Preisverleihung an Václav Havel mit dem Gottlieb-Duttweilers-Preise am 22. November 1990. Die Rede stand unter dem Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“. In dem Gespräch „Sternstunde der Philosophie“ mit Sabine Gisiger und Peter Rüedi wird in einem eindrucksvoller Filmausschnitt gezeigt, dass diese Rede bei den Ehrengästen und Honoratioren in den ersten Reihen wie eine Bombe einschlug.[13]

Der Beginn der Rede war erwartungsgemäß. Dürrenmatt erinnerte an eine Protestveranstaltung 1968 auf der er mit anderen gegen den Einmarsch des Warschauerpakts protestiert hat.[14] Es folgen historische Exkurse. Aber dann kommt er zum Kern der Rede, die später unter dem Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“ veröffentlicht wurde. „Doch die Wirklichkeit, in der die Schweizer träumen, ist anders. Als Dramatiker, lieber Vaclav Havel, haben Sie die Wirklichkeit, in der Sie gelebt haben, bevor der politische Dogmatismus zusammenbrach, in Bühnenstücken dargestellt, die viele Kritiker zum absurden Theater zählen. Für mich sind diese Stücke nicht absurd, nicht sinnlos, sondern tragische Grotesken, ist doch das Groteske der Ausdruck der Paradoxie, der Widersinnigkeit, die entsteht, wenn eine an und für sich vernünftige Idee, wie sie der Kommunismus darstellt – lässt sich eine gerechtere Gesellschaftsordnung denken? -, in die Wirklichkeit verpflanzt wird – auch das Urchristentum war schliesslich kommunistisch, und was ist aus dem Christentum geworden? Durch den Menschen wird alles paradox, verwandelt sich der Sinn in Widersinn, Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit, Freiheit in Unfreiheit, weil der Mensch selber ein Paradoxon ist, eine irrationale Rationalität.“ Die folgenden Ausführungen sind dann das, was zu einem andauernden Skandal der Rede geführt hat. Liest man aber genau oder hört dieser Rede genau zu[15], dann muss man feststellen, dass die immer wiederholte Behauptung, die „Die Schweiz sei ein Gefängnis“ nicht der Aussage der Rede entspricht. Genau analysiert hat dies Martin Städeli in seinem sehr differenzierten Beitrag „Im unabhängigen Gefängnis der Neutralität“.[16]

Was die Kritiker der Rede aber nicht verstanden haben oder nicht wahrhaben wollten, fasst Städeli in seinem Schluss-Resümee zusammen: „Das Besondere aber an dieser Gefängnis-Allegorie (das wahrscheinlich die für Dürrenmatt typische Zutat ist) sind die eingestreuten Kommentare. Sie sind nicht aus der Sicht des Autoren-Ich formuliert, sondern wirken unpersönlich, allgemein verbindlich. Der Autor schiebt sie unbemerkt den Zuhörerinnen und Zuhörern unter. Der Autor sagt seinem Publikum durch die Allegorie, wie er den Text verstanden wissen möchte, gleichzeitig flüstert er ihm ins Ohr: Gehe auf Distanz, nimm mich bei dem, was ich sage, nicht beim Wort. Ich betrachte dieses Vorgehen als ironisch und damit die Gefängnis-Allegorie als ironische Allegorie.“[17]

In dem Gespräch „Sternstunde der Philosophie“ mit Sabine Gisiger und Peter Rüedi fragt der Moderator Juri Steiner mehrfach nach der Aktualität des Autors. Auch wenn die Sendung vor 10 Jahren stattfand, haben doch verschiedene Aussagen Dürrenmatts zu gesellschaftlich Fragen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt oder veranlassen zu neuen Reflektionen.

Die Themen, die sich durch sein ganzes Werk ziehen sind Freiheit und Gerechtigkeit und insbesondere in den Dramen kollektive Schuld, Mitläufertum, Kollaboration und Verdrängung. Als ein Werk, das in kurzer Form Dürrenmatts Themenbreite zeigt, ist der Aufsatz „Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl – Ein Versuch über die Zukunft“ von 1976/77 zu lesen.[18]

Unter dem Primat der Gerechtigkeit vor der Freiheit betrachtet er den Verkehr und das Klima im Kontext von Tod, Luftverschmutzung und Energieverbrauch. Bei dem Thema Wirtschaft und Finanzsystem konstatiert er die „Katastrophenanfälligkeit der modernen Welt als Auswirkung ihrer Wirtschaft und Politik“. In der Schweiz – trotz ihrer Einrichtungen und Strukturen zur Landesverteidigung – „vermögen schon einige wenige Terroristen und Prokuristen die Hilflosigkeit unseres technischen und wirtschaftlichen Systems zu demonstrieren“. Dürrenmatts Reflektion zu Armee und Landesverteidigung nicht nur in diesem Aufsatz geben interessante Denkanstöße zur aktuellen Debatte über die Wiedereinführung des Wehrdienstes in der BRD. Nach Ausführungen zum Wesen eines neuen Staates kommt er – ausgehend vom Status quo – zu dem Schluss, dass damit zwangsläufig die Notwendigkeit der Demokratisierung des Staates verbunden ist, um die Freiheit nicht zu verlieren.

Bevor ich mich dem Thema Dürrenmatt nach dem Beitrag zu seinem 100. Geburtstag „Erkennen, Denken und Verstehen“ erneut widmete, war mir nicht klar, wie aktuell und lesenswert er auch heute noch ist. Und auch sehenswert. Man nehme sich die Zeit, die beiden zitierte Beiträge auf YouTube anzuschauen. Die »Stoffe« als Gesamtlektüre nahezulegen wäre arrogant oder anmaßend, selbst wenn man sie gelesen hätte. Die ausgezeichnete Online-Ausgabe hat aber ein so differenziertes Inhaltsverzeichnis, dass man sich zumindest auf die Suche nach lohnenden Texten begeben und einen Gewinn davon haben kann.

 

[1] Hans Mayer, Frisch und Dürrenmatt, Frankfurt am Main 1992, S. 75-85
[2] A.a.O., s. 77
[3] Friedrich Dürrenmatt, Gesammelte Werke, Band 7, Essays und Gedichte, Zürich 1991, S. 59
[4] Siehe: Dürrenmatt, Gesammelte Werke, Band 7, S. 7-566
[5] Mayer, Frisch und Dürrenmatt, S. 81
[6] A.a.O., S. 81f
[7] A.a.O., S. 83
[8] Siehe https://www.youtube.com/watch?v=k37EE_-A5Eg (Zugriff 7.12.2025)
[9] https://www.fd-stoffe-online.ch/text/0
[10] Im Online-Projekt, Das Stoffe-Projekt Band I, S.12
[11] ebenda
[12] A.a.O., S.19
[13] Dürrenmatt ließ die Rede zuerst unter dem Titel «Über die Absurdität der Schweiz» in der Süddeutschen Zeitung vom 15./16. Dezember 1990 abdrucken. Der Filmausschnitt: https://www.youtube.com/watch?v=k37EE_-A5Eg Zeitpunkt 50. Minute und folgende.
[14] Zum folgenden siehe „Die Schweiz – ein Gefängnis“ https://www.juerg-buergi.ch/resources/Aktuell/Blog/Rede_Duerrenmatt.pdf (Zugriff 09.12.2025)
[15] https://www.youtube.com/watch?v=0XyNGlnJfp0(Zugriff 09.12.2025) Bitte anhören, es lohnt sich, H. B..
[16] http://www.symbolforschung.ch/files/pdf/Allegorie_Gefaengnis.pdf (Zugriff 09.12.2025)
[17] A.a.O., S. 14
[18] Dürrenmatt, Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 691-707