NDR auf dem Weg zur Selbstliquidierung

Mit dem „Aus“ für das »Bücherjournal« zum Dezember 2020 legt der NDR die Axt an die Wurzel seiner Legitimation. Was den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk vom Privatrundfunk unterscheidet, ist sein Bildungs- und Kulturauftrag. Die Realisierung dieses Auftrages sichert dem Rundfunk über die Gebührenzahlung der Bürgerinnen und Bürger seine Existenz.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk wird im Auftrag der Gesellschaft veranstaltet. Die Bürgerinnen und Bürger sind es, die mit ihren Gebühren den Rundfunk finanzieren, damit er seinen Auftrag erfüllt. In seinem Urteil vom 4.11.1986 hat das Bundesverfassungsgericht erneut eine essentielle Funktion des Rundfunks für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik festgestellt. Es ist also nicht der Rundfunk, der aus seiner Aufgabe heraus eine Mäzenatenfunktion wahrnimmt, sondern, wenn überhaupt, ist es die Gesellschaft, sind es die Bürgerinnen und Bürger, die sich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten. Programme, wie sie der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Wahrnehmung seines Kulturauftrages veranstaltet, sind also keine freiwilligen Leistungen eines Mäzens, sondern eine Pflichtleistung im Auftrag der Gesellschaft.

Der Verfassungsrechtler Prof. Dieter Grimm hat bereits 1983 in einem Vortrag zum „Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen“ exemplarisch für den Rundfunk folgendes ausgeführt: „Aus der Zugehörigkeit des Rundfunks zur Kultur folgt die Notwendigkeit einer kultur-rechtlichen Interpretation der Rundfunkfreiheit….Als kulturelle Freiheit bezieht sich Rundfunkfreiheit auf das Programm und seine spezifisch publizistische Ausdrucksform. Dagegen sind kulturelle Freiheiten weder wirtschaftliche Freiheiten noch garantieren sie regelmäßig private Strukturen. Eine den kulturrechtlichen Anforderungen entsprechende Rundfunkordnung muss ein kulturell angemessenes Programm gewährleisten. Dazugehört sowohl die Vermittlung kultureller Grundlagen von Person und Gesellschaft als auch ein zugänglicher Anteil kultureller Sendungen im engeren Sinne“.

Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und auch ehemalige Rundfunkredakteur Hans Mayer hat in weit über 100 Literatursendungen des NDR zum kulturellen Profil des Senders wesentlich beigetragen. Neben dem literarischen Lebenswerk als Autor und dem pädagogischen Lebenswerk als Hochschullehrer kann man die rundfunkpolitische Tätigkeit als drittes Lebenswerk Hans Mayers bezeichnen.

Im Dezember 1991 hat Hans Mayer zur 150. Veranstaltung der Traditionsreihe »Autoren lesen im Funkhaus«, als Jubiläumsredner gesprochen. Fast vorausschauend formulierte er zum Schluss seiner Rede sinngemäß über den Zerfallsprozess der einstmals produktiven Kulturen in Deutschland: der Adelskultur, die sich bereits im neunzehnten Jahrhundert in Relikten verlor; der jüdischen Kultur, die nach 1933 vertrieben und vernichtet wurde; der proletarischen Kultur, die sich nie von den Schlägen erholte, die Hitler ihr zufügte; schließlich der bürgerlichen Kultur, die teils zustimmend, teils ohnmächtig ihre Selbstzerstörung erlebte und deren letzte Reste unter den heutigen Bedingungen einer Wegwerfgesellschaft kaum noch kenntlich sind.

In einem Brief an den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks, Joachim Knuth, fordert Heinrich Bleicher-Nagelsmann, der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft, diesen auf, von der Abschaffung des »Bücherjournals« Abstand zu nehmen.
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Der Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di hat eine Aktion auf change.org gestartet: eine virtuelle Unterschriftenliste. Den Aufruf kann man hier unterschreiben und auch weiterverbreiten. Link http://chng.it/WpvXJWVn

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Im Auftrag des Intendanten Joachim Knuth hat Herr Beckmann vom NDR geantwortet:

Sehr geehrter Herr Bleicher-Nagelsmann,

vielen Dank für Ihre E-Mail vom 14. Mai 2020, in der Sie Ihr Bedauern darüber äußern, dass das „Bücherjournal“ eingestellt wird. Herr Knuth hat mich gebeten, Ihnen zu antworten, was ich gerne mache. Auch uns ist diese Entscheidung nicht leicht gefallen. Der Norddeutsche Rundfunk muss jedoch in den kommenden Jahren Einsparungen und Kürzungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß vornehmen und gleichzeitig in die digitale Zukunft geführt werden. Dazu muss auch die Kultur einen Beitrag leisten, der übrigens – auch prozentual betrachtet – wesentlich geringer ist als zum Beispiel der Beitrag der Unterhaltung.
Es ist jedoch nicht unsere Absicht, durch die Einstellung der Sendung „Bücherjournal“ Ende dieses Jahres den Stellenwert der Literatur im NDR zu mindern. Das Gegenteil ist der Fall. Unser Ziel ist es aber, dass Literatur-Angebote zukünftig von mehr Menschen gesehen, gehört und gelesen werden, als dies jetzt der Fall ist. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass das „Bücherjournal“ als lineare Fernsehsendung, sechsmal im Jahr ausgestrahlt, zu wenig Menschen erreicht, mit fallender Tendenz. Deshalb haben wir entschieden, diese Form des Angebots künftig bleiben zu lassen und uns auf neue Wege der Kultur- und Literaturvermittlung zu begeben.
Dafür wird es in der Sendung „DAS!‘ einmal monatlich einen Buchtipp für Belletristik geben, in dem auch Bücher jenseits von Bestsellerlisten vorkommen. Darunter werden auch solche Beiträge sein, die bisher noch im „Bücherjournal“ laufen. Diese Rubrik wird auch bei NDR 2 und online zu finden sein. Außerdem wird „DAS!“ einmal pro Woche ein Buch und den*die Autor*in in den Mittelpunkt der Sendung stellen. Damit erreicht der NDR pro Ausstrahlung ungefähr eine halbe Millionen Menschen. In der von Julia Westlake moderierten Sendung „Kulturjournal“ wird es weiterhin auch um Bücher und Literatur gehen. Inhalte wie „Das Buch des Monats“ werden multimedial verbreitet und sind in der Mediathek jederzeit auffindbar.
Zudem wird der NDR dieses Jahr erstmalig einen großen Büchertag in Hörfunk, Fernsehen und Online anbieten, orientiert an der Idee der erfolgreichen Veranstaltungsreihe „Der Norden liest“. Bekannte und unbekannte Autor*innen stellen dabei ihre Bücher vor.
Außerdem entwickelt der NDR in seinem Innovationslabor THINK RADIO derzeit einen neuen Bücher- und Literaturpodcast, der ab dem 12. Juni 2020, ab 16:00 Uhr abrufbar sein wird. Das Format soll aktuelle Bücher sowie deren Auto*rinnen mit ihren Themen auf innovative Weise einem breiten Publikum nahebringen.
NDR Kultur beschäftigt sich täglich mehrmals mit Literatur in den Sendungen „Am Morgen vorgelesen“, werktags, 8:30 – 9:00 Uhr, „Am Abend vorgelesen“, werktags, 22:00 – 22:30 Uhr und der „Sonnabend-Story“, sonnabends, 8:30 – 9:00 Uhr.
Die Rubrik „Neue Bücher“ läuft werktags, 12:40 Uhr. „Stoltenberg liest“ dienstags um 7:20 Uhr und 12:40 Uhr. Jeden ersten Sonnabend im Monat präsentiert NDR Kultur von 18:00 bis 19:00 Uhr „BücherLeben“. Auch im „Sonntagsstudio“ von 20:00 bis 22:00 Uhr bringt NDR Kultur die Literatur in den Norden.
Zurecht verweisen Sie – Ihrem Stiftungsauftrag folgend – auf die Hervorbringungen von Hans Mayer für den Hörfunk. Gerne gebe ich Ihren Hinweis an die Kolleg*innen weiter.

Ich hoffe, dass Sie für unsere Entscheidung Verständnis haben, auch wenn Sie sie nachvollziehbar bedauern.

Mit freundlichem Gruß
Frank Beckmann