„Das unbefangen Menschliche“

Zur Erinnerung an Peter Brückner

„Den sechzigsten Geburtstag hat er nicht mehr erlebt. Geboren am 15. Mai 1922 in Dresden, starb Peter Brückner, Professor der Sozialpsychologie an der Universität Hannover, am 10. April 1982 in Nizza, wo er sich Erholung erhoffte von der Krankheit und – vielleicht – für die Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit. Kurz vor Brückners Tode nämlich waren, zu Ende des Jahres 1981, alle disziplinarischen Maßnahmen und “Suspensionen” aufgehoben worden, mit denen man fast ein Jahrzehnt lang, seit 1972, einen scheinbar Unwürdigen vom akademischen Lehramt fernzuhalten gedachte.“[1]

Ich bin, wenn ich gehe Quelle:Peter Brückner-Archiv.

So beginnt Hans Mayer seinen Artikel über „einen bedeutenden Kollegen und Freund“ in der »Zeit« zum Thema »Leben und Denken: Selbstbefreiung in der normalisierten Welt«. Brückner, so erläutert Hans Mayer, hatte nicht die „notwendige und übliche Rücksicht eines Hochschullehrers“ gezeigt. In großen Lettern hatten die Zeitungen ihr Urteil über den Mann gesprochen, der Ulrike Meinhof und einem Begleiter aus der RAF nach der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader 1970 Unterschlupf gegeben hatte. Brückner war schon lange Jahre vorher befreundet gewesen mit der Psychologieprofessorin Renate Riemeck und ihrer Adoptivtochter Ulrike Meinhof.
Drei Jahre lang, bis zu seinem Freispruch 1975, wurde Peter Brückner als „Komplize, Sympathisant und geistiger Wegbereiter der Terroristen um Baader und Meinhof angeprangert.“[2]

Hans Mayer hatte sich auf seine Zeit als Volljurist besonnen und eine Stellungnahme verfasst, die im April 1972 in den »Frankfurter Heften« veröffentlicht wurde. Nach umfangreicher juristischer Argumentation war Mayer zu dem Schluss gekommen: „Würde Peter Brückner – im Namen der Staatstreue – aus dem Lehreramt entfernt, so wäre das kein Vollzug, sondern eine Verletzung des Grundgesetzes.“[3]

Der Psychologieprofessor sei in seiner Forschung und Lehre folgerichtig geblieben. Er habe die Freiheit des Gelehrten erfüllt und nicht verraten. Er habe den „Prinzipien radikaler Aufklärung, wie sie sich als Postulat wiederfinden im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ die Treue gehalten und „nicht einer gesellschaftlichen Ordnung, die er als Unordnung interpretiert, einer Freiheit, die ihm in der Analyse höchst unfrei und befreiungswürdig vorkam.“[4]

Später, nach dem Mord am Bundesanwalt Buback, hat Brückner zusammen mit anderen Hochschullehrern die Veröffentlichung eines als fragwürdig genannten Aufrufs übernommen, von dem er sich inhaltlich distanziert hatte. Er wollte verhindern, dass man Zensur übe und Meinungsfreiheit in der politischen Diskussion unterdrücke. Der Artikel „Buback – ein Nachruf“ erschien am 25. April 1977 in der Zeitung des AStA der Universität Göttingen und löste eine breite, in allen Medien diskreditierende und verfälschende Diskussion aus.

Für Brückner bedeutete das als „Mescalero-Affäre“ benannte Verfahren Hausverbot an der Uni und eine Anklage. Ausführlich äußerte sich Brückner dazu in seinem Buch »Die Mescalero-Affäre – Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur«[5]

Kenntnisreich und äußerst zutreffend analysiert Brückner diesen Artikel.[6] Das wird aber weder in der herrschenden Politik noch in der „Veröffentlichten Meinung“ verstanden und anerkannt. Die einzige Ausnahme ist ein Artikel im Tagessspiegel vom 12. August 1977.[7] Nach einer Reihe von Gerichtsverfahren wurde Peter Brückner 1981 von der Suspendierung freigesprochen. Unter schwierigsten Bedingungen hat er seine Aufklärungsarbeit und Unterrichtstätigkeit außerhalb der Universität z. B. im »Club Voltaire« fortgesetzt. 1980 erschien im Verlag Wagenbach, der seinem Autor die Treue hielt, das Buch »Das Abseits als sicherer Ort«[8], in dem Brückner seine Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945 erzählt.

Mit diesem Buch ging Peter Brückner auf Lesereise. Der Autor dieses Artikels hatte das Glück, an der Universität Münster bei einer dieser Lesungen dabei zu sein. Noch beeindruckender das Treffen danach in der bekannten Münsteraner Kneipe „Der Pulverturm“. Es gelang, einen Sitzplatz neben Brückner zu ergattern und der Abend wurde zu einem der beeindruckendsten politischen Gespräche mit dem so überzeugenden und menschlich so warmherzigen Menschen. Vom Tag danach standen alle Bücher von Peter Brückner auf dem Leseplan. Es gab viel zu lernen, zum Beispiel von dem Buch, »Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären«.[9]

Jahre später stieß ich auf den Film »Aus dem Abseits«, einen preisgekrönten Film von Simon Brückner über seinen Vater.[10] Man sollte ihn unbedingt sehen. Unter dem Brecht-Titel »Ich bin, wenn ich gehe“ erinnerten Zeitgenossen wir Hans Mayer, Oskar Negt und Axel-R. Oestmann zu seinem 70. Geburtstag an Peter Brückner. Zu seinem 100. Geburtstag am 13. Mai, wird auch das Peter Brückner Archiv in Hannover an ihn erinnern und auf den Zugang und Dokumente über sein Leben und seine Arbeit verweisen.[11]

Die Grabplatte Peter Brückners Foto: HB

Im September 2021 war ich in Nizza und hatte mir vorgenommen, das Grab von Peter Brückner zu besuchen. Es war nicht einfach zu finden auf dem Cimetère de l’Est, Nice. Die mir mitgeteilte Angabe des Grabes traf nicht zu. Bei viel zu heißem Wetter fand ich es dann schließlich: Grab-Nr. 134526, Case 39.

Auf seltsame Weise kontrastierte diese Suche mit der Beschreibung von Barbara Sichtermann. Sie schreibt: „Ich erinnere mich an die kleinen grauen, nervösen Vögel, die über dem Grab meines Mannes auf dem Cimetière de l’Est von Nizza herumflatterten. Und an die hageren, langsamen, flüsternden Witwen, die in unförmigen Plastikbehältern Wasser über die Kieswege schleppten. Es ist hier üblich, nur den Namen und das Geburts- und Todesjahr in die uniformen Grabplatten zu meißeln. Ich ließ die Städtenamen unter die Ziffern setzen: Dresden und Nizza.“[12]

»Das unbefangen Menschliche«[13] heißt das aktuelle, im Wagenbachverlag erschienene Buch mit Artikeln von Peter Brückner, einschließlich von Kommentaren dazu. Wer mit der Brückner-Lektüre beginnen will, sollte es lesen. „Wie kaum ein anderer vermittelt er denkend zwischen radikaler Utopie, dem Aushalten von Widersprüchen, zwischen Solidarität und Autonomie.“

Heinrich Bleicher

 

[1]  Hans Mayer, Peter Brückner: Leben und Denken: Selbstbefreiung in der normalisierten Welt, in:  Zeit Nr. 48/1984 vom 23. November 1984
[2] Stephan Lohr, Brücker im Recht – Freispruch zweiter Klasse?  Zeit Nr.43/1975 vom 17. Oktober 1975
[3] Zitiert nach Hans Mayer, Professor Brückner und die Staatstreue, in: ders., Zeitgenossen, Frankfurt am Main 1998, S. 79-99, hier S. 97
[4] Ebenda, S.96f
[5] Peter Brückner, Die Mescalero-Affäre – Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur, Hannover 4.  erweiterte Auflage 1981
[6] Siehe ebenda, S. 27-39
[7] A.a.O., S. 51
[8] Peter Brückner, »Das Abseits als sicherer Ort – Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945«, Berlin 1980
[9] Peter Brückner, Versuch, uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären, Berlin 1978.
[10] Man kann ihn z.B. bei „Sooner sehen“ Siehe: https://www.missingfilms.de/index.php/filme/14-filme-katalog/203-aus-dem-abseits  
[11] Siehe: https://www.tib.eu/de/recherchieren-entdecken/sondersammlungen/peter-brueckner-archiv
[12] https://archive.ph/20171028232117/http://www.zeit.de/1999/14/199914.erinnern.3_.xml#selection-475.0-485.12
[13] Das unbefangen Menschliche – Peter Brückner lesen, Berlin 2022