„Für mich war diese Begegnung ein Glücksfall“

Hans Mayer über seinen Lehrer Hans Kelsen

„Ich habe kaum jemals eine so reine, uneitle, scharfsinnige Denkarbeit zwischen einem großen Gelehrten und seinen Schülern erlebt. Dieser Professor kannte seinen Rang: er brauchte nicht aufzutrumpfen.“[1] Mit diesen Worten lobt Hans Mayer in dem Buch »Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I« seinen juristischen Lehrer Hans Kelsen.

Das gleiche Zitat befindet sich in einer Graphic Novel die unter dem Titel »Gezeichnet« zu einer Ausstellung über Hans Kelsen zur Zeit im Juridicum in Wien zu sehen ist. Sie wurde aus Anlass des 100jährigen Jubiläums der Bundesverfassung Österreichs gestaltet und würdigt den maßgeblichen Autor der ältesten schriftlichen Verfassung, die in Europa noch seit ihrer Verabschiedung gilt. Abgesehen natürlich von der Zeit des Nazifaschismus in Österreich von 1938-1945.

Auf dem Weg nach Köln (Foto: HB)

Wegen politischer Anfeindungen hatte der Jude Kelsen Wien Ende 1930 verlassen und eine Professur für Völkerrecht und Rechtsphilosophie an der Universität in Köln angenommen. Mit dem Frühjahrssemester 1931 begann er dort seine Tätigkeit, die allerdings nur bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 dauerte. Die Antrittsvorlesung hielt er zum Thema »Wesen und Wert der Demokratie«. Zu diesem Thema hat er ein gleichnamiges Buch verfasst, das als preisgünstige Reclamausgabe zu erwerben ist. Zu Recht lobt der Klappentext diese Demokratiebegründungsschrift. „Wichtig war ihm, wie die Freiheit des Einzelnen am wirkungsvollsten zu sichern ist; er behandelt die Rolle des Parlaments und dessen Verhältnis zum Volkswillen, die Bedeutung von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, von Eliteauslese und Gewaltenteilung.“[2]

Begeistert hat der junge 24jährige Hans Mayer gemeinsam mit seinen Kommilitonen in den Jahren 1931 und 1932 bei Hans Kelsen studiert. Er und seine Freunde aus dem Kreis der »Roten Kämpfer« waren wöchentlich auch privat bei dem bewunderten und kritische Denkprozesse initiierenden Professor eingeladen. Die politischen Verhältnisse änderten sich in diesen Jahren wie man weiß allerdings gravierend. Als Nachfolger von Hans Mayers Doktorvater Stier-Somlo wurde Carl Schmitt Professor an der Uni Köln. Dessen Berufung hatte Kelsen unterstützt, obwohl er sich damit nicht nur einen Gegenspieler ins Haus holte, sondern auch den Mann, der ihn nach der Machtübernahme durch die Nazis von der Uni Köln vertrieb. Die von Kelsen vertretene »Reine Rechtlehre«[3] war im Prinzip das Gegenteil von dem was Schmitt mit seiner Theorie des Freund-Feind-Denkens und Staatsrechtslehrer des NS-Staates vertrat. In dem Kapitel über Kelsen und Schmitt führt Mayer in seinen Erinnerungen sehr deutlich diesen schon vor 1933 sichtbaren Gegensatz aus. In seiner eigenen Doktorarbeit zeigt er noch vorsichtig formuliert was Georg Lukács später als „Zerstörung der Vernunft“ bezeichnet hat.

Trotz aller belegbaren Untaten Schmitts während der Nazizeit hatte er in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder Konjunktur. Mit einer Entpolitisierung Carl Schmitts versuchte man nach dem Krieg seine Unterstützung und Legitimierung des totalen Staates vergessen zu machen. Joachim Perels stellte damals in einem Beitrag für die »Frankfurter Rundschau« fest: „In der Auseinandersetzung mit Positionen und Begriffen Schmitts, seiner Favorisierung der bloßen Ordnung zu Lasten der Rechtsordnung, konstituiert sich ein Stück des Kampfes um die demokratische Verfassung.“[4]

In seine Kölner Zeit fällt die Auseinandersetzung Kelsens mit Carl Schmitt. Ein zentraler Streitpunkt war die Frage, wer »Hüter der Verfassung« sein sollte. Während Schmitt den Schutz der Verfassung einem mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten Reichspräsidenten überantworten wollte, trat Kelsen für rechtsstaatliche Prozeduren und für die Demokratie ein.[5] Nach der Machtübernahme durch die Nazifaschisten musste Kelsen 1933 wegen seiner jüdischen Abstammung aus Deutschland fliehen. In Genf, am »Institut Universitaire des Hautes Etudes Internationales«, fand Kelsen eine neue Wirkungsstätte. Dorthin folgte ihm nach einem Zwischenaufenthalt im Elsaß und in Paris auch der ebenfalls ins Exil geflüchtete Hans Mayer. Er schrieb Beiträge zur Zeitgeschichte und für das »Institut für Sozialforschung« eine Studie zur Staats- und Rechtslehre des dritten Reiches.[6]

Reine Rechtslehre (Foto: HB)

Am »Hochschulinstitut für internationale Studien« lernte Mayer einen weiteren seiner wichtigsten Lehrer kennen: Carl J. Burkhardt. In dessen Beitrag zu Hans Mayer 60. Geburtstag hatte dieser festgestellt: „Seit seiner Ankunft in der traditionellen Freistadt hatte er sich in der kühlen Höhenluft der <Reinen Rechtslehre> Hans Kelsen bewegt und er hatte, ausgehend von einer hypothetischen Urnorm, den von allen psychologischen und politischen Erscheinungen abstrahierten Staat überdacht, der mit der Rechtsnorm gleichgesetzt wurde.“[7]Burkhardt hat dann bei Mayers Wechsel zur Literaturwissenschaft Pate gestanden und sein berühmtes Georg-Büchner-Buch kritisch und fördernd begleitet. „Die langsam entstehenden Kapitel durfte ich Carl Burkardt vorlesen. Es war mehr als Höflichkeit, das merkte ich bald, wenn er zustimmte und Mut machte zum Durchhalten. Als Burkhardt nach Danzig berufen wurde, war ich schon über dem Berg und konnte das Buch abschließen. Ich war gerade 30 Jahre alt geworden. Ohne meinen Lehrer Burkhardt hätte ich vermutlich aufgegeben.“[8]

Kelsen war von 1936 bis 1939 auch Professor an der Universität in Prag. Er emigrierte dann im Alter von fast 60 Jahren in die USA, wo er bis 1952 als Professor tätig war. Danach folgten noch zahlreiche Reisen auch nach Österreich, wo das antisemitische Denken gegen ihn auch in den 60er Jahren noch weiterlebte.

Bis zu seinem Tod im April 1973 beschäftigte sich Kelsen mit seiner Strukturtheorie des Rechts aber auch mit zahlreichen Aspekten der internationalen Friedens- und Rechtsordnung. Seine Arbeit war prägend für zahlreiche Länder der Welt. Sein Kommentar zur Charta und zum Recht der UNO gilt als Standardwerk. Für den Verfassungsmacher wurde 1971 das von der österreichischen Bundesregierung gestiftete »Hans-Kelsen-Institut« in Wien gegründet. Er hat an die 600 Publikationen hinterlassen. Zu seinen wichtigsten Werken gehören neben der Reinen Rechtslehre (1934 und 1960), Sozialismus und Staat (1923), Allgemeine Staatslehre (1925), Vom Wesen und Wert der Demokratie (2. Auflage 1929), Was ist Gerechtigkeit? (1953), Principles of International Law (1966), Allgemeine Theorie der Normen (1979) und Die Illusion der Gerechtigkeit (1985).

Verfassungsmacher       (Foto: HB)

Viele Herausforderungen, denen wir heutzutage begegnen (antiliberale Tendenzen, populistische Bewegungen, Anti-Intellektualismus, Debatten um das Wesen der Demokratie usw.), sind ähnlich mit denen für die Kelsen seine Theorien entwickelte. Wie wichtig und lesbar seine Werke auch heute noch sind, macht ein Ausspruch des Österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in der Ausstellung im Juridicum deutlich, der die Bundes-Verfassung „für ihre Eleganz und Schönheit“ lobt.[9]

[1] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 150
[2] Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, Ditzingen 2018
[3] Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig /Wien 1934, Wien 1960. Einen guten zusammenfassenden Überblick zu diesem Werk geben Andreas Kley und Esther Tophinke in ihrem Aufsatz „Hans Kelsen und die Reine Rechtslehre“ in der JA 2001, Heft 2, S. 168-174
[4] Joachim Perels, Der Grenzdenker, in Frankfurter Rundschau Freitag, 29. März 1996
[5] Siehe Endnote 2
[6] Siehe Ein Deutscher auf Widerruf, S. 208
[7] Carl J. Burkhardt, Der junge Hans Mayer, in Hans Mayer zum 60. Geburtstag, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 13
[8] Ein Deutscher auf Widerruf, S. 215
[9] Siehe http://tinyurl.com/3kn8jad3