Am 22. Januar 1945 starb nach schwerer Krankheit Else Lasker-Schüler „das große lyrische Genie“ (Gottfried Benn) in Jerusalem. Der Rabbiner Kurt Wilhelm sprach bei ihrem Begräbnis auf dem Ölberg eines ihrer Gedichte aus dem letzten berühmten Gedichtband »Das blaue Klavier«. Es beginnt mit den Worten „Ich weiß, daß ich bald sterben muß“ und endet mit der Zeile „Ich setze leise meinen Fuß auf den Pfad zum ewigen Heime“.[i]
Aus ihrer Heimat, wo sie totgeschwiegen wurde, war die Dichterin vertrieben. Als sie 1932 den Kleistpeis erhielt für den „überzeitlichen Wert ihrer Verse, der den ewig gültigen Schöpfungen unserer größten deutschen Meister ebenbürtig ist“ schmähte der »Völkische Beobachter« sie als „Tochter eines Beduinenscheichs“ und stellt fest: „daß die rein hebräische Poesie der Else Lasker-Schüler uns Deutsche gar nichts angeht“.[ii]
Schon als Kind hatte die Wuppertaler Schülerin Judenhaß ertragen müssen und erinnerte sich später an einige antisemitische Attacken auf dem Heimweg. „Ach wie oft hörte ich mit dem Ranzen auf den Rücken noch 8jährig zur Schule gehend aus höhnisch verzerrten Straßenkindern, »Jud, Jud, Jud, hast Speck gefressen etc –, spuck ut, spuck ut!«“[iii] Der Spruch ähnelt sehr dem, den Hans Mayer in seinen Erinnerungen zitiert: „Jid,Jid, Jid, Hep, Hep, Hep / Steck de Nas inne Wasserschepp!“[iv] Hans Mayer hatte Else Lasker-Schüler noch als Schuljunge kennengelernt, weil sie des öfteren in sein Elternhaus zum Essen kam. Ob er sie, die wie er in der Schweiz im Exil lebte, dort wiedergetroffen hat ist mir nicht bekannt aber er hat dafür gesorgt, dass Gedichte aus »Das blaue Klavier« in der von ihm mitredigierten Zeitschrift »Über die Grenzen« veröffentlicht wurden.[v]

In dem von Georg Popp herausgegebenen Buch »Große Frauen des 20. Jahrhunderts« hat Hans Mayer einen Artikel zu Else Lasker-Schüler beigetragen.[vi] Man zählt sie zum Umkreis des Expressionismus. „Schreibend war sie bestrebt, ihre Begegnung mit der Welt und dem Leben Ausdruck zu verleihen; ihr eigener Ort, Konturen des gesuchten und gefragten Ich sollten dabei hervortreten. … Und dabei ging es immer auch um sie selbst. Unablässig war sie bemüht, das gesuchte Ich mit einer vielfältigen Welt und einem zersplitterten Leben künstlerisch zusammenzubringen. Vor allem die Lyrik der jüdischen Dichterin fand Beachtung; aber auch Prosa und Dramen entstammen ihrer Feder.“[vii] Obwohl Mayer z.B. das Drama »Die Wupper«[viii] durchaus als sozialkritisch interpretiert, auf »IchundIch« (1940/41) geht er nicht ein, stellt er fest, dass Else Lasker-Schüler keine politische Dichterin war. In der Gesamtbewertung ist das wohl zutreffend, aber es sollte nicht den Blick auf politische Aspekte und Themen in ihrem Werk verstellen.
In dem Schauspiel „Arthur Aronymus und seine Väter“ (1932) findet sich folgende Stelle: „„Wie heute brannten die Tannenbäume hinter den Scheiben der geistlichen Hauptstadt Westfalens, als sich das blutige Pogrom abspielte. Unschuldig vergossenes Judenblut klagte über die Grenzen des Heimatlandes, dunkel über den Rhein und pochte an die Judenherzen anderer Reiche; im unheimlichen Echo an die Erdteile der Welt. An den geschmückten Zweigen der hohen Tannenbäume im Rathaussaale, in der Aula der Schulen, hatte man kleine Judenkinder wie Konfekt aufgehängt. Zarte Händchen und blutbespritzte Füßchen lagen, verfallenes und totes Laub auf den Gassen des Ghettos umher, wo man den damaligen Juden gestattete, sich niederzulassen. Entblößte Körper, sie eindringlicher misshandeln, bluteten zerrissen auf Splittern der Fenstergläser gespießt, unbeachtet unter kaltem Himmel.“[ix]
In der Kurzbeschreibung des Stückes »IchundIch« in dem von Karl Jürgen Skrodzki und Kevin Vennemann herausgegeben Text nach dem Typoskript heißt es: „In dem im Jerusalemer Exil geschriebenen, zu Lebzeiten unveröffentlichten Stück IchundIch rechnet sie mit dem Hitlertum ab, rasant setzt sie ihr politisches Weltgericht in Szene. Goethes Faust-Personal gibt sich mit Personen der Zeitgeschichte ein Stelldichein. Marthe Schwerdtlein flirtet unverhohlen mit Goebbels, den Mephisto nebst Göring, Heß und von Schirach zu einem Geschäftsessen empfängt. Am Ende dieses »Höllenspiels« verliert Hitler »die geraubte Welt« und versinkt mit all seinen Schergen rettungslos im Höllenschlamm.“[x] Ein Film der Aufführung des Stückes am 2. Oktober 2020 im Frankfurter Schauspiel findet sich auf YouTube.[xi]
Im Nachlass – den Hans Mayer wohl nicht kannte – fanden sich mehre Kurztexte mit dem Titel „Der Antisemitismus“.[xii] Sie zeigen, wie die Dichterin das historische Thema benennt und es in ihre Gegenwart in Israel transformiert. „Ihn, den Antisemitismus erachte ich für ein Erbteil vom Vater auf den Sohn. Ein Erbschatz mit dem der Erbende selten umzugehen versteht. Anstatt den ihm zugefallenen, unedlen, unechten Schatz, der ihn an Seele und Gemüt zu verarmen droht, zu vernichten, bemüht er sich, ihn zu bewahren im Safe seines Herzens; ihn bei Gelegenheit, sogar – verschwenderisch herauszuwerfen. So führen die Taler des geerbten Gutes den Besitzer seelisch zum Bankerott. Wie gewöhnlich jede von Eltern und des Volkes vererbte Münze – mit der Fratze der Gehässigkeit!“[xiii] Und weiter: „Es mischten sich hier in Palaestina Juden aus allen Laendern und Erdteilen der Welt und suchen, zu verstaendigen sich in verschiedenen Sprachen oder weichen sich ungeduldig aus; auch die dem Begegnenden, und glauben religiös zu sein, ja, vollkommen geartet in der Hand Adonajs. … – Ich leide unter diesem irrigen Leben. – Nachdem ich dem Totschlag des Antisemitismus entkommen, zerreisst mich zuweilen vertrauungslos die Kralle des eigenen Volkes.“[xiv]
Insbesondere Dank der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft wird an die Dichterin mit verschiedenen Veranstaltungen gedacht. Zu ihrem Geburtstag am 11. Februar werden die vertonten Liebesgedichte von Dorothea Jakob, Sopran, und Fabian Hemmelmann, Bariton, gesungen. Es geht um eine der wildesten Liaison der Literaturgeschichte. „Sie ist 43, er 26. Das Unerhörte ihrer Liebe gibt Anlass zu Klatsch und Tratsch, Else gibt Benn einen nickname aus dem „Nibelungenlied“: „Der hehre König Giselheer / Stieß mit seinem Lanzenspeer / Mitten in mein Herz“. – „Ich treibe Tierliebe“, dichtet Benn zurück: „In der ersten Nacht ist alles entschieden. Man fasst mit den Zähnen, wonach man sich sehnt. Hyänen, Tiger, Geier sind mein Wappen.“ Selten ist Sex metaphorisch witziger und expressionistischer überhöht worden als in der poetischen Liaison von Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn.“[xv]
In Amsterdam findet vom 8. – 11. Mai das XXV. Else Lasker-Schüler-Forum statt.[xvi]
Heinrich Bleicher
[i] Else Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte. Frankfurt am Main 2004, S. 200
[ii] Else Lasker-Schüler mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Erika Klüsener, Reinbek bei Hamburg (1980) 1992, S. 108f
[iii] »Der Antisemitismus« (»Gehört zur Erbschaft, eine …«) • Manuskript: The National Library of Israel, Jerusalem, Else Lasker-Schüler Archive (Arc. Ms. Var. 501 02 110). Zitiert nach https://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_098.htm#n034
[iv] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 53. Das Hep erinnert an das römische Hierosolyma est perdita. Jerusalem ist verloren.
[v] A.a.O., S. 300
[vi] Hans Mayer, Else Lasker-Schüler. Der schwarze Schwan Israels, in: Georg Popp, Große Frauen des 20. Jahrhunderts, Würzburg 1992, S.53-60
[vii] A.a.O., S.53
[viii] Das Drama wurde immer wieder aufgeführt und besprochen.
Siehe: https://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_033.htm Hochlobend ist auch die Besprechung von Herbert Ihring aus dem Jahr 1913 abgedruckt im Programmheft der »Schaubühne am Halleschen Ufer« von 1975/76, S. 55-56
[ix] https://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_108.htm
[x] Else Lasker-Schüler: »IchundIch«. Hrsg. v. Karl Jürgen Skrodzki und Kevin Vennemann, Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Frankfurt/M. 2010
[xi] https://www.youtube.com/watch?v=fbtSsVcm5L0
[xii] Siehe die Texte 34-37 auf dieser Homepage: https://www.kj-skrodzki.de/Dokumente/Text_098.htm
[xiii] A.a.O., Der Antisemitismus [36]
[xiv] ebenda
[xv] https://www.else-lasker-schueler-gesellschaft.de/ Siehe unter der Rubrik Aktuelles.
[xvi] ebenda