Vor 90 Jahren wurden viele Intellektuelle, Schriftsteller*innen, Künstler*innen aber auch politische Feinde der Nazifaschisten ins Exil gezwungen. Entscheidende Daten waren die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, der Reichstagsbrand vom 27. auf den 28. Februar und auch die Bücherverbrennung am 10. Mai in Berlin[1]. In Köln war Hans Mayer nicht mehr sicher. Die Nazis hatten ihm schon einmal aufgelauert und ihn zusammengeschlagen. Der Grund: Er hatte als Gerichtreferendar an einem Prozess gegen Robert Ley, den Kölner Gauleiter und Herausgeber des »Westdeutschen Beobachters« teilgenommen. Es war klar, dass man ihn suchen und festnehmen würde, zumal er als »Roter Kämpfer« und führendes Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) in Köln verhaftet werden würde.[2]
Gerade noch rechtzeitig, bevor im April „die Braunen ihn abholen wollten“[3] war Mayer von Köln zum Abschluss des 2. Staatexamens nach Berlin gereist. Die Prüfung hatte er bestanden, doch der dort ebenfalls anwesende damalige Staatsekretär Roland Freisler teilte ihm mit, dass er die Entlassungsurkunde als Gerichtsreferendar erhalten würde.[4] Mit Hilfe von Freunden aus der KPD-O und durch seinen Vater gelangte Mayer von Berlin in die Eifel und von dort über die Grenze nach Belgien und ins französische Elsaß. Von dort ging es Anfang 1934 weiter nach Paris.
Dort traf er Ende 1934 im Hotel Lutézia wohnend Max Horkheimer. Dieser hatte ihn auf Empfehlung Hans Kelsens, der in Genf im Exil lebte, aufgesucht. In Genf hatte auch das aus Frankfurt emigrierte Institut als »Institut de Recherches Sociales« vorübergehend einen Aufenthaltsort gefunden. Horkheimer wollte den jungen Doktor der Rechte für die Mitarbeit an der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung gewinnen wollte. Das Gespräch der beiden war das bis dahin nur gering erforschte Phänomen der Autorität. „ … was sich gegenwärtig in Deutschland und Italien, demnächst wohl auch in anderen Teilen der Welt abspiele, hänge aufs engste mit Phänomenen der Autorität in der bürgerlichen Familie zusammen. Autorität und Familie: diesem Zusammenhang versuchte ein Arbeitsprojekt des Institutes beizukommen…. Ich bekam den Auftrag, da der mächtige Mann aus Genf offensichtlich einen Versuch mit mir wagen wollte, die Zusammenhänge zwischen Autorität und Familie in der Theorie und Bewegung des Anarchismus zu untersuchen. Am Ende des Gesprächs hatte ich einen Forschungsauftrag für sechs Monate erhalten.“[5]
Die gesamte Studie über »Autorität und Familie« ist dann 1936 in Paris als 1. Forschungsbericht des Institutes erschienen. Dieses selbst war inzwischen mit Hauptsitz in New York angekommen, wo Horkheimer 1935 das Vorwort verfasst hatte. Zu den auch in der Untersuchung enthaltenen Enquêten erklärt Horkheimer: „… die Umfragen waren nicht als Mittel beweiskräftiger Statistik gedacht, sie sollten uns mit den Tatsachen des täglichen Lebens in Verbindung halten und jedenfalls vor weltfremden Hypothesen bewahren. Vor allem jedoch sind sie dazu bestimmt, eine fruchtbare Typenbildung zu ermöglichen; die charakterologischen Einstellungen zur Autorität in Staat und Gesellschaft, die Formen der Zerrüttung der familialen Autorität durch die Krise, die Bedingungen und folgen straffer oder milder Autorität im Hause, die in der Öffentlichkeit herrschenden Ansichten über den Sinn der Erziehung und anderes mehr sollen anhand der Enquêten typologisch gekennzeichnet und dann durch einzelne Erhebungen weiter erforscht werden.“[6]
Einleitend folgen dann vor den Einzelstudien, zu denen auch die Untersuchung Hans Mayers gehört, allgemeine theoretische Entwürfe über Autorität und Familie die Horkheimer, Fromm und Marcuse historisch, sozialpsychologisch und ideengeschichtlich darstellen. Generalisierend stellt Horkheimer fest: „Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft in jedem Individuum als legitime Quelle von Recht und Wahrheit entgegen. Es endigt mit der Verhimmelung der bloßen Autorität als solcher, die ebenso leer an bestimmtem Inhalt ist wie der Begriff der Vernunft, seitdem Gerechtigkeit, Glück und Freiheit für die Menschheit als historische Losungen ausgeschieden sind.“[7] In Bezug auf die konkrete historische Situation stellt er fest, dass die Beurteilung der „autoritativen Regierung“ ohne Hinblick auf die zugrunde liegende ökonomische Struktur vom Wesentlichen absieht.
Im ideengeschichtlichen Teil geht Marcuse auf den total-autoritären Staat nicht explizit ein, da er diesen Zusammenhang schon in einem Artikel von 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung betrachtet hatte.[8]
In ausführlicher Kritik an Ernst Forsthoff und Carl Schmitt heißt es da: »Die Herrschaftsform dieses nicht mehr auf dem Pluralismus der gesellschaftlichen Interessen und ihrer Parteien gegründeten, aller formalrechtlichen Legalität und Legitimität enthobenen Staates ist das autoritäre Führertum und seine „Gefolgschaft. „Die politische und staatsrechtliche Prägung des nationalen Rechtsstaates ist im bewussten Gegensatz zu der des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates die des autoritären Führerstaates. Der autoritäre Führerstaat sieht in der Staatsautorität das wesentlichste Merkmal des Staates.“ (Forsthoff, Der totale Staat)«[9]
Hans Mayers Beitrag über „Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus“ erschien, wie andere Beiträge auch in gekürzter Fassung bei einigen Kapiteln. Bekannt ist, dass es nicht die Theorie des Anarchismus gibt, sondern je nach Autor sehr unterschiedliche Sichten und Herangehensweisen. Das Gemeinsame ist der »Kampf gegen die „Autorität“, im Bekenntnis zur Abschaffung des Staates und des Rechtes und zu einem Zustand der Befreiung des Individuums, in welchem alle zwangsweisen Bindungen und Einschränkungen dieser Freiheit soweit sie nicht freiwillig übernommen werden, aufgehört haben.«[10] Am Beispiel einzelner namhafter Anarchisten wie Bakunin, Stirner, Godwin, Guilleaume und Kropotkin erläutert Mayer die Theorieansätze im Anarchismus. Als systematisches Gegenbeispiel greift er des Öfteren auf Marx zurück. Was insgesamt in seiner Untersuchung nicht abgedruckt wurde, ist ein Kapitel über die Studentenbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts.
Allerdings, die zweibändige Studie, so Hans Mayer, „erwies sich als Zeitzünder“. In der Reihe „Junius-Drucke“ erschien sie zur Zeit der Studentenbewegung 1968 als begehrter Raubdruck komplett für 12,– DM. Mayer erwarb einen Raubdruck für 3,50 DM in dem sein Essay und die von Karl A. Wittfogel und Herbert Marcuse enthaltenen Beiträge waren.[11] Bei Wiederlektüre der Beiträge erscheint es durchaus als sinnvoll angesichts der aktuellen Entwicklung und dem Anwachsen rechter Denkweisen, das Thema Autorität erneut zu reflektieren.
Interessant und nicht ganz nachvollziehbar ist, dass Mayer in seinem Buch „Zeitgenossen“ kein Kapitel über Horkheimer aufgenommen hat, wohl aber z.B. über Adorno, Brückner, Hermlin und andere.[12] Es gibt allerdings ein kleines Kapitel über Horkheimer in seinen Erinnerungen Band I[13]. Auch dieses umfasst Erinnerung und Deutung. Mehrfach hat er Horkheimer auch nach seiner Exilzeit wiedergetroffen. Eingeladen hatte er ihn auch als er nach dem Rauswurf beim Frankfurter Rundfunk 1948 Dozent an der »Akademie der Arbeit« in Frankfurt war. Dort hatte er seine Studenten auch in Soziologie unterrichtet; u.a. über Émile Durkheim über den er bereits einige Jahre zuvor in der Zeitschrift für Sozialforschung geschrieben hatte.
Nach Adornos Tod schrieb Mayer einen Text über diesen der unter dem Titel „Nachdenken über Theodor W. Adorno“ im Zeitgenossenbuch steht.[14] Es folgte eine Einladung Mayers nach Montagnola wohin Horkheimer sich auf seinen Altersitz zurückgezogen hatte. Man erinnert sich an ehemalige Begegnungen, Freunde und Bekannte.
Resümierend schließt Mayer das Kapitel folgendermaßen: „Man hat in der Forschung den »späten« Horkheimer als Fehlentwicklung deuten wollen: als eine – vielleicht altersbedingte – Absage an alles, was mit der Kritischen Theorie bewirkt werden sollte. Auch das glaube ich nicht. Dieser Horkheimer der letzten Lebensjahre befand sich im Einklang mit seinen Anfängen, mit der deutsch-jüdischen Symbiose, mit dem Vater.“[15]
Es lohnt sich Horkheimer als Zeitgenossen zu betrachten, auch wenn am 7. Juli sein 50. Todestag ist. 1934 erschienen in Zürich unter dem Titel »Dämmerung« seine »Notizen in Deutschland«. Unter dem Stichwort „Asylrecht“ heißt es: „Früher oder später wird das Asylrecht für politische Flüchtlinge in der Praxis abgeschafft. Es passt nicht in die Gegenwart. Als die bürgerliche Ideologie Freiheit und Gleichheit noch ernst nahm und die ungehemmte Entwicklung aller Individuen noch als Zweck der Politik erschien, mochte auch der politische Flüchtling als unantastbar gelten. Das neue Asylrecht gehörte zum Kampf des dritten Standes gegen den Absolutismus, es beruhte auf der Solidarität des westeuropäischen Bürgertums und seinesgleichen in zurückgebliebenen Staaten. Heute, wo das in wenigen Händen konzentrierte Kapital zwar in sich gespalten, aber gegen das Proletariat zur solidarischen und reaktionären Weltmacht geworden ist, wird das Asylrecht immer störender. Es ist überholt. Soweit die politischen Grenzen Europas nicht gerade den Interessendifferenzen von gegnerischen, mehrere Nationen umspannenden Wirtschaftsgruppen entsprechen, fungieren sie fast bloß als allgemeines ideologisches Herrschaftsmittel, und als Reklamemittel der Rüstungsindustrie. Das Asylrecht wird vor den gemeinsamen Interessen der internationalen Kapitalistenklasse verschwinden, … Hat ein Mensch aber die Hand gegen das Ungeheuer des Trust Kapitals erhoben, so wird er in Zukunft keine Ruhe mehr finden vor den Krallen der Macht.“[16]
[1] Zu der Bücherverbrennung vor 90 Jahren hat der Verein EL-DE-Haus eine Aktionswoche durchgeführt, an der auch die Hans-Mayer-Gesellschaft als Kooperationspartner beteiligt war. Siehe: http://verbranntundverbannt.info/
[2] Siehe dazu: Ludwig August Jacobsen, So hat es angefangenen- Ein Bericht aus den Tagen der „nationalen Erhebung“ in Köln, mit einem Nachwort von Hans Mayer, Köln 1987
[3] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 161ff
[4] A.a.O., S.162. Das von Freisler unterzeichnete Schreiben befindet sich im Nachlass Hans Mayers im Historischen Archiv in Köln.
[5] A.a.O. S. 179f
[6] Studien über Autorität und Familie- Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936, S. X
[7] A.a.O., S. 26
[8] Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang III (1934), S. 161ff. Dieser Text ist online verfügbar: https://archive.org/details/ZfS_1934_III_Heft_2_k/page/n2/mode/1up. Zugriff: 1.6.2023
[9] ebenda
[10] Studien über Autorität und Familie, Band 2, S. 825
[11] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, S. 181
[12] Hans Mayer, Zeitgenossen – Erinnerung und Deutung, Frankfurt am Main 1998
[13] A.a.O. S. 178ff
[14] A.a.O., S.23-47
[15] Hans Mayer, Erinnerungen Band I, S. 187f
[16] Max Horkheimer, Dämmerung – Notizen in Deutschland, S.178