Vertrieben, Verfemt, Vergessen.

Theodor Lessing – ein schwieriges Andenken

Unter dem Tagungsthema »Sinngebung des Sinnlosen. Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing (1872-1933)« fand im Oktober 2004 zum
70. Todestag eine Tagung im Moses Mendelsohn Zentrum in Potsdam statt. Den Auftakt der Tagung bildete ein Vortrag des Schriftstellers Günter Kunert. Dieser betonte nachdrücklich in seinem Vortrag „Theodor Lessing. Der Prophet“ die starke Wirkung, die Lessing und sein philosophisches Denken auf ihn ausgeübt hatten. In zahlreichen thematisch vielfältigen Beiträgen wurde an einen Menschen erinnert, der in der Zeit der Weimarer Republik zu den bekanntesten Wissenschaftlern zählte. Der Titel des letzten Tagungspanels „Vertrieben, Verfemt, Vergessen“ gilt leider wohl auch heute noch.

Theodor Lessing           (Foto: Willi Burgdorf)

Als politischer Schriftsteller war Theodor Lessing bekannt wie Kurt Tucholsky. Bekannt war er nicht nur in seiner Heimatstadt Hannover, wo er an der Technischen Hochschule lehrte, sondern auch als Vortragsreisender in der gesamten Republik. Aufgrund seiner Ausbildung und der thematischen Vielfalt seines Schaffens war er Mediziner, Psychologe, Wanderlehrer, Journalist, Kritiker, Begründer der ersten Arbeiterunterrichtskurse in Dresden und Mitbegründer der Volkshochschule in Hannover.

Der am 8. Februar 1872 geborene Sohn einer alten jüdischen Familie verbrachte eine bedrückende Schulzeit, die für ihn ebenso wie das Elternhaus „eine Hölle“ war. Zum Schluss fand sich jedoch ein Lehrer der Verständnis für den Schüler hatte und ihn durch das Abitur brachte. Das Studium in Literatur, Philosophie und Psychologie schloss er mit der Promotion ab. Eine Habilitation an der Uni Dresden wurde dem Juden, Sozialisten und öffentlichen Verfechter des Feminismus verwehrt. Den 1. Weltkrieg verbrachte der Pazifist als Feldarzt und schrieb als eines seiner größeren und bekannten Werke den Essay »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. Veröffentlicht werden konnte das Buch wegen der Militärzensur erst nach dem Krieg.

Mit diesem Werk ging er auch auf Vortragsreise. In Köln referierte er bei der »Gruppe sozialistischer Studenten« zu der auch Hans Mayer gehörte. Die Debatten müssen hart und konfrontativ gewesen sein. Mayer erinnert sich: „Der hochgewachsene Mann mit dem langen, damals ungewöhnlichen Bart… wich allen Versuchen aus, die historischen Abläufe genauer zu betrachten und nach irgendeiner Sinnhaftigkeit zu befragen. Da stand ein illuminierter Nietzscheaner, der Nietzsches durchaus historisch motivierte Kritik an einem spezifischen Historismus ausweitete: einerseits in Negierung aller Geschichtsbetrachtung, in apodiktischen Aktionismus zum anderen. Was sollten uns diese » vorlogischen, logischen und paralogischen Betrachtungen«, wenn es um Geschichte ging.“[1] Der Sozialist und Sozialdemokrat Lessing fand keinen Zugang und kein Verständnis bei seinen Zuhörern.

Als Privatdozent an der Technischen Universität Hannover verdiente Lessing nur unzureichend. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Ada, geborene Abbenthern, gründete er die Volkshochschule in Hannover-Linden. Im Januar 1920 fand die offizielle Gründungsfeier statt. Ada Lessing, Sozialdemokratin wie ihr Mann, wurde Geschäftsführerin und hatte diesen Posten bis zu ihrer Entlassung im Jahre 1933 inne. Einen großen Teil seines Lebensunterhaltes verdiente sich Lessing als Publizist. Er schrieb für Franz Pfempferts »Aktion«, für Leopold Schwarzschilds »Tagebuch«, für das »Prager Tageblatt« und für den »Dortmunder Generalanzeiger«. Die Zahl seiner Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften werden auf über zweitausend Artikel geschätzt.[2]

Große Aufmerksamkeit aber auch Widerstand seitens staatlicher Stellen erregte er mit seinen Berichten über den Prozess gegen den Massenmörder Fritz Haarmann in Hannover 1924. Sowohl als Publizist aber auch als Psychologe und Kulturkritiker verfolgte er den Prozess. Er „stellt eine Beziehung her zwischen den triebhaften Verbrechen eines einzelnen und dem staatlich befohlenen und organisiertem Töten im Krieg.“[3] Außerdem macht er die Fehler und Unfähigkeiten des Gerichts in verschiedenen Artikeln im »Prager Tageblatt« deutlich. Darüber hinaus den gesamten Prozess im Buch »Haarmann -Die Geschichte eines Werwolfs“[4]. Lessing, der hier, wie auch in anderen Prozessberichten mit der Kritik an den Fehlern der Polizei und den gesellschaftlichen Umständen der von den Kriegsfolgen und Armut geprägten Stadt Hannover nicht sparte, wurde vom Prozessverlauf ausgeschlossen. Nachdem Lessing das Haarmannbuch mit den genau benannten Fehlern und Versäumnissen der Richter und der Polizei beendet hatte, tauchte ein Schuldgeständnis Haarmanns auf, dass der mit ihm wegen gemeinsamen Mordes verurteilte Hans Grans unschuldig sei. Das Todesurteil gegen Grans wurde aufgehoben, das gegen Haarmann vollstreckt. Dies alles änderte aber nichts daran, dass Lessing als „Nestbeschmutzer“ seiner Heimatstadt weiter gehasst blieb. Es sollte aber schlimmer kommen.

Vor der 1925 anstehenden Wahl des Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten schrieb er in der Ausgabe des »Prager Tageblatt« vom 25. April 1925 einen Artikel über ihn der als leicht satirische Charakterstudie angesehen werden kann.[5] Sie beginnt mit den Worten: „Wenn man in das gute väterliche Antlitz des alten Hindenburg blickt, so fällt zunächst auf: die fast furchtbare Schwere dieses Antlitzes. … Ich kenne dies Antlitz und kenne sein Leben seit früher Jugend. … Bismarck hat von sich selber das schöne Wort gebraucht: „lch bin mit vollem Bewußtsein auf einer gewissen Stufe der Entwicklung stehen geblieben”. Das hatte Hindenburg nicht nötig. Die Natur hat ihn so einfach, so gradlinig und selbstverständlich gewollt, daß es überhaupt nichts zu entwickeln gab; nur die unbedenkliche Entfaltung eingeborener Vorurteile. Deutscher, Preuße, Christ, Monarchist, Soldat, Kamerad, …“[6]

Im weiteren Verlauf schildert Lessing Hindenburg als eine ehrbare aber für das Amt völlig untaugliche Person. Kritisch und ahnungsvoll warnend endet der Artikel mit folgenden Worten: „Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: besser ein Zero als ein Nero. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.“ Am 30. Januar 1933 war es dann so weit. Hindenburg übergab die Macht an Adolf Hitler.

Den Artikel im »Prager Tageblatt« hatte in Hannover kaum jemand wahrgenommen. Aber am 7.  Mai 1925 einen Tag vor einer Huldigungsfeier des gewählten Reichspräsidenten in Hannover, lancierte der »Hannoversche Kurier« verkürzte und verfälschte Zitate des Lessing-Artikels. Eine Hetzkampagne im großen Stil wurde gegen den Juden, Pazifisten und Sozialisten ins Werk gesetzt. Nationale und völkische Kreise griffen ihn an. Studenten gründeten einen „Kampfbund“ gegen ihn.

Wie das ablief, hat Arnold Zweig 1936 auf Wunsch von Anna Seghers in einem Gedenkartikel für den ermordeten Theodor Lessing eindrucksvoll beschrieben. Auch mit einem Rückblick auf dessen Werdegang unter Bezug auf die Lublinski-Affäre und den literarischen Streit mit Thomas Mann.[7]

Arnold Zweig: „Der Vorgang soll einmal schematisch festgehalten werden, mit dem in Deutschland die Tötung eines geistigen Menschen abrollt. Am Anfang steht das deutsche Kapitalverbrechen: Lästerung der Armee. …Erschien ein Aufsatz der das tat, in einer linken Zeitschrift, so gab es in den nächsten Tagen entrüstete Zitate daraus in den Blättern, die der Reichswehr nahe standen – Zitate, aus dem Zusammenhang zerrissene Sätze, zurechtgestutzte Zitate, Zitate, oft gefälscht dem Wortlaut nach, durch Weglassungen, Nachsätze, zuallermeist dem Sinne nach. Nur eine winzige Minderheit der Rechten las die Zeitschriften der Linken selbst; niemals gehörte dazu die Studentenschaft. Auf den Wink der abdruckenden Zeitschriften aber begann aufgrund dieser Zitate die Hetze gegen den Verfasser. … Stand er beim Staat in Lohn und Brot (wie die Herren geistige Ämter auffaßten) so ging man systematisch an seine Ausräucherung. Studententumulte in seinen Vorlesungen, drohende Artikel gegen ihn in den lokalen Zeitungen der Reaktion, Aufforderung zum Boykott, Bekanntgabe seiner Wohnung.“[8]

Die Hetze und das Kesseltreiben gegen Lessing liefen genauso ab. Er ging zum Gegenangriff über. In seinem Artikel „Massenwahn“ schildert und analysiert er den gesamten Vorgang einschließlich der Haltung der Universität ihm gegenüber und die Parteinahme für ihn durch sozialistische Studenten sowie SPD und KPD. Resümierend hält Lessing fest: „Aber es handelt sich nicht um mich und um mein Werk. Es handelt sich um ein Symbolisches. Dies war die erste Kraftprobe des kommenden Deutschland. Jenes Deutschlands, das auf den Staatsstreich hofft, auf die neue Militarisierung der Seelen und auf die Wiederkehr der >großen Zeit< … Ein Deutschland hoffnungsloser Verdummung, demutlosen Dünkels! …“[9]

Nach der Machtübergabe durch Hindenburg an Hitler flieht Lessing am 1. März mit seiner Frau Ada in die Tschechoslowakei und lässt sich dort im Kurbad Marienbad nieder. Lessing setzt seine publizistische Tätigkeit fort und will mit seiner Frau dort eine Schule für emigrierte jüdische Kinder eröffnen. Am 10. Mai werden seine Bücher verbrannt und am 25. August wird er ausgebürgert. Auf seine Ermordung wird ein Kopfgeld ausgesetzt. In der Nacht vom 30. auf den 31. August wird er in seiner Wohnung von zwei nationalsozialistischen Mördern hinterrücks erschossen. Seine Frau und eine Tochter überleben und kehren später nach Hannover zurück.

Zur 50-Jahr-Feier der von Theodor Lessing mitbegründeten Volkshochschule hält Hans Mayer 1969 einen Vortrag. Titel: „Bericht über ein politisches Trauma.“ Er erinnert an die Hetze, Verfolgung und den Mord. Natürlich auch an den Philosophen in der Nachfolge Schopenhauers und Nietzsches. „Das Paradoxon eines Denkens wider das Denken hat Lessings Leben und Wirken so widerspruchsvoll gemacht. Dieser Feind der Dialektik wurde ein Opfer der Dialektik. Seine Entrüstungen galten der Geistlosigkeit und Herzensträgheit.“[10] Um Theodor Lessing kennen zu lernen schlägt er vor, dessen Jugendgeschichte zu lesen »Einmal und nie wieder«. Die Sinngebung meine nicht Untergangssehnsucht „sondern das Unwiederbringliche des einmal gelebten Augenblicks“.[11]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Band 1, S. 120
[2] Theodor Lessing, Wortmeldungen eines Unerschrockenen – Publizistik aus drei Jahrzehnten, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Stern, Leipzig und Weimar 1987, S. 29
[3] Hanjo Kesting, Denker der Not, in Ein bunter Flecken am Kaftan, Göttingen 2005, S. 2
[4] Theodor Lessing, Haarmann die Geschichte eines Werwolfs, herausgegeben von Rainer Marwedel, Frankfurt am Main 1989
[5] Faksimile siehe: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=ptb|19250425|3|100.0|0
(Zugriff am 7.2.2022)
[6] ebenda
[7] Siehe dazu u.a. https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-und-so-ward-grau-die-welt-100.html (Zugriff am 7.2.2022)
[8] Arnold Zweig, Theodor Lessing, ermordet am 31. August 1933, in: Ders., Essays Zweiter Band Krieg und Frieden, S. 91-98, S. 93f
[9] Theodor Lessing, Wortmeldungen eines Unerschrockenen, S. 341
[10] Theodor Lessing. Bericht über ein Trauma in: Hans Mayer, Der Repräsentant und der Märtyrer, Frankfurt am Main 1971, S. 94-120, hier 119
[11] Der Volltext findet sich im >Projekt Gutenberg<
https://www.projekt-gutenberg.org/lessingt/einmal/chap001.html (Zugriff am 7.2.2022)
Für die unermüdliche Herausgabe der Texte Lessings ist Rainer Marwedel mit den von ihm bereits bearbeiteten Texten hervorzuheben. Siehe dazu auch den Artikel in der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 03.02.2022. Willi Winkler, Zwei Leben. https://tinyurl.com/2p8hj6d7 (Zugriff am 7.2.2022)

 

Trauer um das Ehrenmitglied Inge Jens

Dr. Inge Jens bei dem Gespräch über Hans Mayer (Foto: HW)

In Erinnerung an eine große Literatur-wissenschaftlerin trauert die Hans-Mayer-Gesellschaft um ihr Ehrenmitglied Dr. Inge Jens. Persönlich getroffen hat der Unterzeichner sie zuletzt bei den »Hans-Mayer-Lectures« im Oktober 2019 bei denen Professor Dr. Ernst Osterkamp unter dem Titel »Marienbader Bergschluchten« zu Goethes großem Schlüsselthema »Liebe« einen sehr erhellenden Vortrag gehalten hat. Mit Freude und Respekt wurde Dr. Inge Jens dort vom Vortragenden und weiteren Zuhörerinnen und Zuhörern begrüßt.

Die Pandemie hat dann leider weitere persönliche Begegnungen verhindert. Gern hätte ich unserem Ehrenmitglied ein vor wenigen Wochen erschienenes Buch mit Gesprächen über Hans Mayer persönlich überreicht. In dem Inge Jens gewidmeten Band „Der unbequeme Aufklärer“ – erschienen im Talheimer Verlag – sind Gespräche mit Personen dokumentiert, die Hans Mayer noch persönlich gekannt haben. Einer der interessantesten und kenntnisreichsten Beiträge ist das Gespräch mit Inge Jens.
Die Hans-Mayer-Gesellschaft wird Dr. Inge Jens ein ehrendes Andenken bewahren.

Heinrich Bleicher

(Ein ausführlicher Nachruf folgt.)

Diesen Roman unbedingt (wieder-)lesen

Hans Mayer: Anmerkungen zu Flaubert (1821-1808)

Am 12. Dezember jährt sich der Geburtstag von Gustave Flaubert (1821-1880) zum zweihundertsten Mal. Der Autor von Madame Bovary. Sittenbilder aus der Provinz wurde von Hans Mayer mit den Anmerkungen zu Flaubert, die 1954 in Sinn und Form erschienen, gewürdigt. 1989 erschien dieser Aufsatz wieder in Hans Mayers Weltliteratur. Studien und Versuche zusammen mit einem Text über Bouvard und Pécuchet, der als Einleitung zu einer Reihe von Lesungen aus Flauberts Roman für den Rundfunk entstanden war.

Büste Flauberts im Museum (Foto: HB)

Völlig unvergleichbar sind Sartres monumentale Studie über den Idioten der Familie (1970/71, neu aufgelegt und erweitert 1988), in dem er der Frage nachgeht, wie es Gustave Flaubert gelingen konnte, sich zum Autor der Madame Bovary zu entwickeln, um dann Madame Bovary interpretieren zu können, mit Hans Mayers Rezension der Madame Bovary, in der er den Aufbau und die Stoßrichtung des 1858 erschienen Romans so klar und präzise vorträgt, so dass ein Resümee von Mayers Beitrag nur lauten kann: „Sie müssen diesen Roman unbedingt (wieder-)lesen.“

Es geht um das Schicksal der Apothekergattin Emma Bovary (und ihren Ehegatten Charles), ihre Sehnsüchten und ihre Enttäuschungen, die sie schließlich in den Selbstmord treiben: „Die Meisterschaft des Künstlers, der diese zwiespältige, bald traurig, bald heiter stimmende Geschichte jeweils im richtigen Ton vorträgt, ist immer wieder bewundernswert,“ (S. 236) erklärt Hans Mayer, der in dieser kurzgefassten Betrachtung, den Aufbau des Romans, die Protagonistin und die wesentlichen Personen, die mit ihr in Beziehung stehen und die Wirkung dieses Romans so eindrucksvoll in die Literaturgeschichte einordnet.

Zunächst skizziert Mayer die Entstehung des Romans und die Reaktionen auf seine Veröffentlichung. Flauberts Schreibprozess ist in seiner Korrespondenz ausführlich belegt. Die Aufregung in Rouen über diesen Roman erinnert daran, wie präzise Flaubert mit seiner Geschichte über die bürgerliche Madame Bovary die Verhältnisse seiner Zeit getroffen hatte, genauso zielsicher, wie das Skalpell bei der Klumpfußoperation geführt wurde. Es geht in diesem Roman um eine „unerbittliche Darstellung bürgerlicher Lebensformen“ (Mayer, S. 242), wobei aber die ersten Leser und selbst Flauberts Freunde die „wunderbaren Formproportionen der Madame Bovary“ (S.243) nicht erkannten.

Es sind vor allem Mayers Anmerkungen zur Erzählstruktur dieses Romans, mit denen er ihn in das Gesamtwerk von Flaubert von der Erziehung des Herzens bis zu Bouvard und Péchuchet einordnet, die die unvergleichliche Bedeutung dieses Romans so nachhaltig unterstreichen: „Er (i. e. Flaubert, W.) liebte Madame Bovary als sein Geschöpf – und als Verkörperung des eigenen Erzählens.“ (S. 249) Die Geschichte, die in diesem Roman erzählt wird, reicht weit über Yonville hinaus. Es geht um die weitreichende Desillusionierung der Ehe, die beide Ehegatten durchmachen, es geht um ihre Illusionen, Hoffnungen und ihr finale Enttäuschungen.

Flaubert nimmt die Dramaturgie des modernen Kinos voraus, wenn Madame Bovary und ihr Liebhaber auf dem Balkon miteinander turteln und unten die Rede zum Landwirtschaftsfest gehalten wird. Cross-cut, der allerbesten Sorte.

Zu Besuch bei Madame Bovary. Flaubert: “Madame Bovary -das bin ich selbst” (Foto: HB)

Hans Mayer besitzt die Kunst, ein großes Werk der Literaturgeschichte in seiner Zeit und in seiner Wirkung für uns heute zu platzieren (vgl. S. 250 f). Und er zeigt, wie es Flaubert mit seinen sprachlichen Mitteln gelingt „kleine Gefühle mit allzu großem Ausdruck zu kontrastieren“ (S. 253) Da ist es die „Poesie des Wortes“ (S. 254), mit der Mayer die Konstruktion dieses Romans aufdeckt und sie mit seinen Beobachtungen belegt. Sein genauer Blick auf die Dialoge erklärt uns deren Aufbau, Anwendung und Bedeutung in diesem Roman.

Mayers Anmerkungen über Flauberts Roman Bouvard und Pécuchet widersprechen allen, die dieses Werk für misslungen halten. Beide lesen viel, sehr viel und probieren alles aus, und scheitern immer wieder grandios, geben die Hoffnung nicht auf, lesen wieder und scheitern wieder genauso jämmerlich. Bildung hilft nicht weiter? Ja, es geht um „Theorie und Praxis” (S. 260). Mayer nennt die beiden Helden dieses Romans „unzeitgemäß gewordene Aufklärer aus der Zeit eines Voltaire, Diderot und den Enzyklopädisten“ (S. 260), aber so lautet Mayers Schlussfolgerung, der Roman ist „immer noch ein Bildungsroman“ (S. 23). Die Dummheit ist sein großes Thema, das den „Nihilismus und die Absurdität heutiger Romane“ (S. 263) vorwegnimmt.

Heiner Wittmann

Das Museum in der 51 rue Lecat in ROUEN

 

Wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer Musikautor wurde

oder wie rm29 „Richard Wagner“ in 43 Jahren 29 Auflagen erreichte

Wie kommt ein 1907 in Köln geborener promovierter deutscher Jurist, der sich in der Emigration durch die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk von Georg Büchner zum Literaturwissenschaftler entwickelt, nach dem 2. Weltkrieg dazu, sich als Autor auch auf Musik und dann ausgerechnet auf Wagner einzulassen?

Ein Abiturient, der den Gedanken, als talentierter Klavierspieler Pianist zu werden, wegen fehlender Lust auf sehr viel Üben müssen verwirft, der nach dem Abitur das Jurastudium[1] mangels Alternativen betrieben hat und als verbeamteter Rechtsreferendar beim Verfassen seiner Doktorarbeit Lust zum Formulieren und Schreiben[2] entdeckt, im August 1933 sein juristisches Staatsexamen abschließt, doch sogleich entlassen wird, sodann in der Emigration sich zunächst als politischer Journalist und Redakteur in Frankreich und der Schweiz durchschlägt, in Genf von Carl J. Burckhardt und Max Horkheimer unterstützt und ermuntert wird, Untersuchungen über das Leben und Werk Georg Büchners durchzuführen[3], später in Paris dem Collège de Sociologie beitritt, dabei u.a. Walter Benjamin kennenlernt und das Referat „Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland“[4] hält – eine Untersuchung über die geistig-rituelle Vorgeschichte der NS-Diktatur – , der in der Schweiz zeitweise interniert wird, schließlich 1945 von der us-amerikanischen Besatzungsmacht im Jeep[5] nach Frankfurt geholt wird, um zunächst als Redakteur und später als Chefredakteur für Politik am dortigen Radiosender tätig zu werden, unter dem Führungsoffiziers Golo Mann?

Dr. Hubert Kolland beim Vortrag zu Hans Mayer (Foto: HB)

Wie wird ein solcher Mensch im zerstörten Nachkriegsdeutschland Musikautor, dessen erste Buchveröffentlichung 1946 mit „Georg Büchner und seine Zeit“ der Literatur gewidmet ist und der dann zeitweise „Büchner-Mayer“[6] genannt wird?

Natürlich spielen beim Werdegang des Musikautors Mayer der Klavierunterricht und die Kammermusikpraxis von Kindesbeinen an eine Rolle, ebenso fortgesetzte Konzert- und Opernbesuche in Köln, Berlin und an den Orten der Emigration, – eben die Herausbildung einer vielfältigen und reich entwickelten musikalischen Bildung und Betätigung, die sich wie ein basso continuo durch Hans Mayers Leben zieht, wie seine musikalische Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel „Gelebte Musik“ als letzte Publikation von 1999 zeigt[7].

Die erste Musikpublikation hat den Titel „Kulturkrise und Neue Musik“ und erscheint wie aus dem Nichts 1948 in der Zeitschrift Melos[8]. Sie ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den Mayer bei den Kranichsteiner Ferienkursen für Neue Musik (den späteren Darmstädter Ferienkursen) gehalten hat. Schon 1946 hatte er dort über „Die literarischen Wurzeln der modernen Musik“ referiert – ganz offensichtlich von der Literatur ausgehend – und 1947 über die „Die Welt Alban Bergs“: „Es ging dabei weitgehend um die Beziehungen zwischen Büchners Woyzeck und der Oper Wozzeck.“[9]

[…]

Mit Wintersemester 1948 begann Hans Mayer als bestallter Professor[10] in Leipzig für Kultur- und Literaturwissenschaft – sein Büchner-Buch von 1946 war als Habilitation anerkannt worden – , hielt Vorträge  in Ost und West, so zum Bachfest 1950 in Leipzig, später zur Schillerfeier und natürlich auch über Thomas Mann. Bereits 1950 erschien sein zweites Buch „Thomas Mann. Werk und Entwicklung“[11].

In diesem Kontext von Thomas Mann überrascht es nicht, dass für Mayer neben seiner Vorlesungs- und sonstigen Forschungstätigkeit Richard Wagner in den Focus rückt. „Im fünften Leipziger Jahr [also 1953] erfüllte ich mir einen alten, lange gehegten Wunsch: meine Gedanken über das Werk Richard Wagners zu ordnen, und Empfindungen von einst zu überprüfen. Meine Studie über ‘Richard Wagners geistige Entwicklung’ erschien im Doppelheft 3 / 4 von Peter Huchels Zeitschrift ‘Sinn und Form’ “gerade „rechtzeitig nach dem 17. Juni 1953“.[12]

[…]

Mayers Wagner-Erstling fand im Laufe der Zeit Beachtung in Ost[13] und West. Doch nicht sogleich, auch wenn er diesen sogleich in seinem Sammelband „Studien zur Deutschen Literaturgeschichte“[14] als einzigen Musik-Beitrag unterbrachte.

Nach Jahren rastloser Arbeit am Leipziger Lehrstuhl, verbunden auch mit Spannungen und Anfeindungen im Zuge der Durchsetzung der SED-Politik an den Universitäten, und emsiger Vortragstätigkeit in Ost und West geriet Hans Mayer nach dem Festbankett zu Ehren seines 50. Geburtstags am 19. März 1957 in eine gewisse Katerstimmung. „Ich erinnere die Depression am nächsten Tag, wie stets nach festlichen Augenblicken. Nun war ich fünfzig. Was konnte noch kommen? Ich hatte zwei Bücher geschrieben: das erste über Büchner erwies sich als leidlich dauerhaft, das andere, über Thomas Mann, war vorerst von der Kritik fertiggemacht worden, doch hatte ich Vertrauen zu meinem Text, wenngleich mir das Buch verleidet war. Der große Essay über Richard Wagners geistige Entwicklung hatte Freude gemacht bei der Arbeit, er begann bereits zu wirken: auch im Westen.“ Und einen Absatz weiter heißt es: „Die wirkliche Bedrückung kam daher, wie ich heute meine [1983/84], daß ich kein Thema hatte, um weiterzuarbeiten. Ich strebte hinaus aus dem germanistischen Bereich“.

Dass dann Mayer nur wenig später im Frühjahr 1957 von Ernst Rowohlt den Auftrag erhielt, „eine Monographie über Richard Wagner zu verfassen“[15], war eine glückliche Fügung. Im Juni 1957 wurde der Vertrag unterzeichnet und im Juli 1959 die Monographie rm29 ausgeliefert.[16]

[…]

Das Taschenbuch rm29[17] erlebte eine Erfolgsgeschichte. Schon wenige Tage nach der Verlagsauslieferung findet sich die erste Notiz in der »Süddeutschen Zeitung«: „Der Redakteur der Monographien, Kurt Kusenberg, hat sich das Portrait Richard Wagners originellerweise vom Leipziger Literatur-Ordinarius Hans Mayer bestellt. Der Marxist Mayer interpretiert Wagners Leben und Werk natürlich gesellschaftlich; seine Darstellung wird gewiß nicht ohne Widerspruch bleiben.“[18] Ein ausführliche Besprechung ließ die SZ jedoch nicht folgen.

Mayers Wagnerbuch rm 29

Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bringt am 3. Oktober dagegen eine breitere Besprechung. Das ist insofern nicht verwunderlich, da Mayer seit 1948 in der Zeitung etwa viermal pro Jahr eine Rolle spielt – u.a. betreff PEN, Vorträgen und Auseinandersetzungen im Umfeld des Leipziger Lehrstuhls – : Mayer war also den FAZ-Lesern wohl bekannt.

Eingangs stellt der Rezensent die Monografien-Reihe als ein ursprünglich französisches Unternehmen vor, „das durch deutsche Beiträge aufgefüllt wird.“ Damaliger Hintergrund: 1956 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet und 1957 wurde die EWG gegründet. Rowohlt nutzte sogleich die neuen grenzüberschreitenden Möglichkeiten und startete 1957 seine Monografien-Reihe.

Unter der Überschrift „Aktivierter Wagner“ heißt es sodann in der FAZ:

Daß Hans Mayer, Germanist in Leipzig, eine gediegene Darstellung liefern würde, war von vornherein klar. Daß die Wagnerbiographie eine Pikanterie würde, konnte man vermuten. Lebenslauf, Zeitumstände und Werkdeutung werden mit den nötigen Quellenhinweisen in übersichtlicher, lebhafter Darstellung geboten. Die Pikanterie ist weniger darin zu sehen, daß Mayer sich mit besonderer Intensität des 48er Revolutionärs, zu dessen verehrten Geistesheroen Feuerbach, Saint-Simon, Fourier und Proudhon gehörten, annimmt. Mayer geht mit musikalischer, literarischer und historischer Sachkenntnis allen Spuren nach, die Wagners antifeudale und antibürgerliche soziale Mythologie im Werk und in der Kunsttheorie ausweisen. An sich ist das nichts Neues. Interessant aber ist, daß ein so kluger Mann wie Mayer im Jahre 1959 den Wagner der Meistersinger für die Sache einer deutschen Nationalkultur neu zu aktivieren unternimmt. Mayer ist eher bereit, Wagner gewisse Auffassungen über Rasse, Germanentum und lateinische Zivilisation nachzusehen, da sie doch aus dem Erlebnis der früheren Pariser Hungerjahre stammen als die Resignation des Parsifal. Der Biograph sieht Wagner seit der Hinwendung zu Schopenhauer seit dem Bündnis Sänger – König und seit der Wendung zur Transzendenz im Parsifal sich selbst untreu werden. Wie immer man zu dieser Deutung stehen mag, die biographische Darstellung und die Interpretation können vortrefflich dazu anregen, das Phänomen Wagner aus stumpfer Idolatrie oder Tabuisierung herauszubringen. Mayer ist ein fairer Autor und ein Verehrer des Genies – bei aller Parteinahme für den frühen und gegen den späten Wagner. K. K.“

[…]

Objektiv ist „Richard Wagner (rm29)“ Hans Mayers drittes Monographie-Buch – nach der Büchner- und der Thomas-Mann-Monographie – , doch vermutlich hat er das selbst nicht so gesehen, da bei der Wagner-Monographie so viel gekürzt werden musste. Jedenfalls kommt Mayer auf die Frage, wie viele Monographie-Bücher er verfasst hat, nicht mehr zurück. Mit Sicherheit ist „rm29“ sein erfolgreichstes und auflagenstärkstes Buch, es bildet nicht zuletzt wegen seiner Breitenwirkung die Basis für den Ruhm des Musikautors Mayer.

Der erfolgreiche Rowohlt-Autor erhielt eine erneute Einladung nach Bayreuth, die er dann 1960 tatsächlich wahrnahm, dabei Wieland Wagner zögerlich begegnend[19], schrieb ab 1962 für die Bayreuther Programmhefte – „nicht weniger als vierzehn Beiträge, bei weitem mehr als jeder andere Beiträger“[20] – und trug auf diese Weise – zusammen mit Ernst Bloch, Theodor W. Adorno u.a. – erheblich zu einer offenen und neuen kreativen Auseinandersetzung auch auf dem Hügel und innerhalb des Festspielpublikums bei[21], auch wenn sich die Erneuerungsschlachten noch lange bis zum Götz-Friedrich-Tannhäuser 1972 und Patrice-Chereau-Jubiläums-Ring 1976 hinzogen.

1976 publizierte Mayer, gleichsam als Fortsetzung von „rm29“, den Bildband „Richard Wagner in Bayreuth“[22], der die Geschichte der Festspiele unter den jeweiligen Leitern und Leiterinnen von Cosima bis Wolfgang Wagner darstellt, gestützt auf die Dokumentation der Festspielgeschichte von Michael Karbaum[23]. 1978 schließlich erscheint als große gebundene Monographie „Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt“[24], in der „rm29“ (ohne Dokumente und Bilder), „Richard Wagner in Bayreuth 1876 – 1976“ und das Thema ergänzende Schriften in einem Band von 448 Seiten zusammengefasst sind: Dieser Wagner-Band ist Hans Mayers umfangreichste Monographie.

Hubert Kolland

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Die komplette Fassung des Vortrages, den Dr. Hubert Kolland Gründungsmitglied der Hans-Mayer-Gesellschaft am 1. Oktober 2021 auf dem XVII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung an der »Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn« gehalten hat, kann hier als PDF heruntergeladen werden.

[1]Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt a.M. 1982, 65 (= Widerruf I)
[2]Ibidem, 140
[3]Ibidem, 209
[4]Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland, in: Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937 – 1939, Berlin 2012, 521 – 550
[5]Widerruf I, 313ff, 325ff
[6]Hans Mayer, Gelebte Musik. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1999, 188
[7]Hans Mayer, Gelebte Musik. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1999
[8]„Kulturkrise und neue Musik“, in: Melos, August- und September-Heft, 1948 Baden-Baden; im Folgenden wird der Vortrag zitiert aus: Hans Mayer, „Ein Denkmal für Johannes Brahms, Frankfurt a. M. 1983, 191 – 208
[9]Gelebte Musik, 193f
[10]Alfred Klein, Heimat auf Zeit. Hans Mayer an der Universität Leipzig, UTOPIE kreativ, Heft 77 (März 1997), 29-45
[11]Hans Mayer, Thomas Mann. Werk und Entwicklung, Verlag Volk und Welt, Berlin 1950
[12]Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II, Frankfurt a.M. 1984 (= Widerruf II), 83; – Alexander Abusch hatte versucht, Mayers Text zu verhindern, der „eine positive Bewertung Richard Wagners und eine Aufforderung, sich mit seinem Werk endlich und kritisch einzulassen!“, beinhaltet. (ibidem).
[13] Joachim Herz bezieht sich in seiner Leipziger Ring-Inszenierung 1973 – 75 ausdrücklich u.a. auf Hans Mayer. “Herz nimmt für sich in Anspruch, erstmalig die Wagner-Interpretation des Sozialisten und Musikkritikers George Bernhard Shaw auf die Bühne gebracht zu haben, angereichert durch Ideen Thomas Manns und Hans Mayer.“  (Nina Noeske, Wagner in der DDR“, in: Arne Stollberg u.a. (Hg.), Gefühlskraftwerke für Patrioten? Wagner und das Musiktheater zwischen Nationalismus und Globalisierung, Würzburg 2017, 240)
[14] Richard Wagners geistige Entwicklung, in: Hans Mayer, Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1954, 171 – 212
[15] Widerruf II, 219
[16] Mail-Auskunft von Katrin Finkmeier, Rowohlt-Verlag Hamburg, 13. März – 29. September 2021
[17]   Hans Mayer: „Richard Wagner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.” (Rowohlts Monographien, herausgegeben von Kurt Kusenberg, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1959, 179 Seiten, = rm29)
[18]hdr, in: Süddeutsche Zeitung 11./12. Juli 1959, Rubrik Buch und Zeit
[19]Hans R.Vaget, a.a.O., 191ff
[20]Ibidem, 183
[21]Udo Bermbach, Die Entnazifizierung Richard Wagners. Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951 – 1976, J.B. Metzler Verlag 2020, 89ff, 110ff, 159ff
[22]Hans Mayer, Wagner in Bayreuth, Belser-Verlag, Stuttgart 1976; auch im Suhrkamp-Verlag ohne den Bildteil erschienen unter: „Richard Wagner in Bayreuth 1876 – 1976“, Frankfurt a.M. 1976
[23]Michael Karbaum, Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele (1876-1976), Regensburg 1976
[24]Hans Mayer, Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt, Belser-Verlag, Stuttgart 1978

Erinnerung an Jost Hermand

Heute Nacht erreichte uns die traurige Nachricht, dass Jost Hermand, Ehrenmitglied der Hans-Mayer-Gesellschaft, am Samstag, dem 9. Oktober unerwartet 91-jährig verstorben ist.

Wir verlieren mit Jost einen unermüdlichen Kulturwissenschaftler und Schriftsteller, der Meilensteine in der amerikanischen Germanistik aber auch in Europa gesetzt hat. Für Jahrzehnte war er ein Wissenschaftler, der wie wenige weltweit Erkenntnisse und Einsichten in eine Sichtweise und ein Verständnis gesetzt hat, dass die gesellschaftliche Bedeutung von Literatur hervorgehoben hat. In einem Gespräch über Hans Mayer, den er während dessen Aufenthalten in den USA in den 70erJahren oft im persönlichen Gespräch und bei wissenschaftlichen Diskussionen getroffen hat, sagte er: „Hans Mayer war einer der wichtigsten Ruhestörer, Außenseiter, vaterlandsloser Gesell, unangepassten Grenzgänger oder wie man diese Partisanenprofessoren im deutschen Geistes- und Kulturleben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch nennen mag. … All das sollte ihn zu einem Vorbild für all jene Literatur- und Kulturwissenschaftler machen, die in ihren Fächern mehr als eine textbezogene Deutungswissenschaft sehen und bei ihren Interpretationsbemühungen auch vor engagierten „Eingriffen“ in die jeweils anstehenden gesellschaftspolitischen Konflikte nicht zurückschrecken.“

Jost Hermand und Hans Mayer hätten sich schon viel früher kennen lernen können. 1956 in der DDR. Zu diesem Zeitpunkt lebte Jost Hermand in der DDR und schrieb für den Akademie Verlag gemeinsam mit dem berühmten Kulturhistoriker Richard Hamann eine fünfbändige deutsche Kulturgeschichte »Von der Gründerzeit bis zum Expressionismus«. Das erste Buch dieser Reihe der Band »Naturalismus«[1] ging nach Abschluss des Manuskripts Ende 1956 an den Verlag, der es routinemäßig an zwei Parteigutachter weiterleitete. Deren Gutachten viel negativ aus. „Hamann war über den hochmütig-abkanzelnden Ton der beiden Negativgutachten zutiefst empört und forderte Koven, den Verlagsleiter,  auf, sofort zwei neue Gutachter seiner Wahl heranzuziehen. Als Koven dem zustimmte, erklärte Hamann, dass er im Hinblick auf diesen Band lediglich den Ostberliner Neuhistoriker Alfred Meusel und den Leipziger Neugermanisten Hans Mayer, also zwei aus dem Exil zurückgekehrte Linke, als Gutachter anerkennen würde.“[2] Mit diesen beiden neuen Gutachten konnte der Band, wie die folgenden der Reihe, dann erscheinen. Seinem Gutachten fügte Mayer damals den Satz hinzu: „’In was für einem Staat leben wir denn, in dem Bücher vor ihrem Erscheinen, statt nach ihrem Erscheinen kritisiert werden?’ Und er tat das zu einem Zeitpunkt, als er wegen seines kritischen Auftretens während der kulturellen „Tauwetter“-Periode im Sommer 1956 sowie der nachfolgenden Lukács-Affäre von Seiten einiger stalinistisch gesinnter Germanisten und Parteifunktionäre unter massivem ideologischem Beschuss stand, aber noch keineswegs gewillt war, seine Leipziger Professorenstelle aufzugeben.“[3]

Vortrag zu Literatur und Politik bei ver.di (Foto: Wittmann)

Mit seinem umfassenden Wissen und den eigenen persönlichen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts war auch Jost Hermand ein Germanist und „in vielen wissenschaftlichen Diskussionen ein „Partisanenprofessor“ der die gesellschaftliche Bedeutung seiner Profession in herausragender Weise vertreten hat. So waren seine Beiträge immer einer der Höhepunkte der politisch literarischen Tagungen, die über mehr als 15 Jahre vom Schriftstellerverband VS in der Bildungsstätte der ver.di in Berlin durchgeführt wurden.

Als einer der führenden Experten über Heinrich Heine sprach er 2006 über die Freundschaft zwischen Heine und Marx.[4] Es folgten Vorträge u.a. über Friedrich Wolfs »Professor Mamlock«, Hans Fallada, sowie zum Thema Krieg und Frieden über »Imperialistische Stimmungsmache vor 1914« und über die »Ästhetik des Widerstands« von Peter Weiss. Wie breit und auch historisch tief im Detail Josts Wissen angelegt ist, zeigte sich bei einer Tagung, auf der Professor Grażyna Barbara Szewczyk aus Katowice über Arnold Zweig referierte. Selbst dezidierte biografische Kenntnisse aus Zweigs früher Jugend waren ihm im Detail gegenwärtig. Jost hat an allen Tagungen bis auf eine teilgenommen. Das war, als seine geliebte Frau schwer erkrankte und er nicht bei uns sein konnte. Trotzdem hatte er natürlich seinen  Tagungsbeitrag fertig gestellt und uns übermittelt. Seine schriftstellerische Arbeit und die weiten Reisen hat er nie gescheut.

Im Jahr 2010 konnten wir ihm als ehrende Anerkennung für seine unermüdliche aufklärende Tätigkeit die »Leonhard Mahlein Medaille« überreichen. Dies hat ihn als gesellschaftspolitisch denkenden und wirkenden Wissenschaftler außerordentlich erfreut. In der Laudatio konnten wir hervorheben, wie „bewundernswert immer wieder, Jost in seinen Büchern und Vorträgen diese so schwierige Aufgabe nachvollziehbar und verständlich für Leser und Zuhörer löst. Mit seinem enzyklopädischen Wissen, analytischer Schärfe und brillanter Formulierung verschafft er immer wieder neue und spannende Zugänge zu Literatur, bildender Kunst und Musik denn, um mit seinen Worten zu schließen: ‘Genau genommen, sind auch die größten Kunstwerke nur kleine Pflastersteine auf den rätselhaften Wegen der Humanität, deren Verlauf oft so windungsreich ist, daß man fast an ihnen verzweifeln könnte. Es würde sich daher empfehlen, sie als Fragmente einer unvollendeten Entelechie zu bezeichnen, deren nobelste Aufgabe darin besteht, uns einen gewissen ‚Vorschein’ auf menschenwürdigere Verhältnisse zu geben und uns damit in der Hoffnung auf eine allmählich ansteigende Entwicklung zu bestärken.’“[5]

Während andere sich nach ihrer Emeritierung zur Ruhe setzen, war Josts Schaffenskraft ungebrochen. Mit seinen jährlich erscheinenden Publikationen bewies er immer wieder, dass er auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit und der gesellschaftlichen relevanten Diskussionen war. Die Beispiele sind zahlreich und lassen sich aus seiner mehr als 44 Seiten zählenden Publikationsliste belegen.

Hermand präzise im Detail (Foto. Wittmann)

Zuletzt erschien von ihm 2020: »Völker hört die Signale!«. Zum Bekennermut deutsch-jüdischer Sozialisten und Sozialistinnen vor 1933. Dieses Buch ist Walter Grab, Hans Mayer und George L. Mosse gewidmet. Danach 2021: Oasen der Utopie. Schriften deutscher Vordenker und Vordenkerinnen. Zu nennen sind dabei u.a. Karl Marx, Moses Hess, Elfriede Friedländer, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Petra Kelly und Robert Jungk. Das Manuskript seines letzten Buches geht im Frühjahr 2022 bei Böhlau, seinem „Hausverlag“, in Druck.

Zu Josts 90. Geburtstag – bei dem wir ihm die Ehrenmitgliedschaft der Hans-Mayer-Gesellschaft verliehen haben – pflanzten Freunde und Schüler für ihn eine Eiche im Allen Centennial Garden. Seine Schülerin Carol Poore rezitierte das Heine-Gedicht »Es erklingen alle Bäume«.[6]

Professor Silberman, einem Freund Jost Hermands, verdanken wir die Information darüber, dass Jost in einer Verfassung gestorben ist, die seinem Wunsch entsprochen hätte. Nach einer ärztlichen Routineuntersuchung war er in positiver Verfassung am Montag, dem 4. Oktober aus der Klinik entlassen worden. Den darauffolgenden Freitag verbrachte er in guter Stimmung mit seinem Freund Marc Silberman. Einen Tag später verstarb er sehr plötzlich aus ungeklärter Ursache. Ein plötzlicher und schneller Tod, wie er es sich gewünscht hatte.

Wir werden unserem Ehrenmitglied und Freund Jost Hermand ein ehrendes Andenken bewahren und seinem Impetus für die zukunftsweisenden Haltung der Literatur als die Gesellschaft reflektierende Sichtweise und emanzipatorische Kraft Nachdruck verleihen.

[1] Richard Hamann / Jost Hermand, Naturalismus, Berlin 1959 und 21968.
[2] Zum weiteren siehe das Gespräch mit Jost Hermand in dem jetzt im Talheimer-Verlag erscheinenden Band „Der unbequeme Aufklärer – Gespräche über Hans Mayer, Talheim-Mössingen, 2021.
[3] A.a.O.
[4] Jost Hermand, Unter Genossen. Zur Freundschaft zwischen Heine und Marx, in: Heidi Beutin u.a. „Wenn wir es dahin bringen, daß die große Menge die Gegenwart versteht…“, Frankfurt am Main 2007, S.45-61.
[5] Siehe die Laudatio in: Beutin / Bleicher / Schmidt / Wörmann-Adam(Hg.) , Der Sturz in die Barbarei, Mössingen-Talheim 2011.
[6] Siehe https://pub.flowpaper.com/docs/http://gns.wisc.edu/wp-content/uploads/2020/12/Mitteilungen-aus-Madison-Newsletter-Fall-2020-WEB.pdf

Wir haben eine Gedenkseite für Jost Hermand eingerichtet. Hier finden sich Nachrufe von Freunden, Kollegen und Menschen, die Jost Hermand geschätzt haben.

www.jost-hermand-trotzalledem.site/


Ein Nachruf auf Jost Hermand findet sich auch auf der Seite der University of Wisconsin-Madison

Defining the Discipline – Vilas Research Professor of German Dead at 91

 

Deutschland und die politische Humanität

75 Jahre nach den Nürnberger Prozessen

Unter dem Titel „Peinlich späte Erkenntnis“ schreibt der Redakteur der »Süddeutschen Zeitung«, Ronen Steinke, über die in der Bundesrepublik lange verhehlte Erkenntnis der Rechtmäßigkeit der Urteile im Nürnberger Prozeß vom 30. September 1946. Noch 1958 hielten die Richter am Bundesverfassungsgericht „nichts“ vom Werk der alliierten Juristen. „Der Bundesgerichtshof zitierte am 9. September 1958 in kühler Präzision eine ganze Reihe von Äußerungen westdeutscher Regierungsstellen, um zu untermauern, dass die Bundesrepublik keine einzige Entscheidung des Nürnberger Tribunals anerkannt habe. Das Urteil gegen 22 mächtige Männer des NS-Systems, Vernichtungskrieger wie Hermann Göring oder Wehrmachtschef Wilhelm Keitel sowie Einpeitscher wie Stürmer-Chef Julius Streicher. Das sei nichts als Siegerjustiz gewesen. Die neu geschaffenen, internationalen Straftatbestände, nämlich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das Führen eines Angriffskriegs: Sie seien nicht einmal gültiges Recht.“[1] Adenauers Justizminister Hans-Joachim von Merkatz hatte sogar erklärt, die Nichtanerkennung des Nürnberger Urteils sei eine Frage der “deutschen Würde”.

Wie der große sozialdemokratische Jurist Gustav Radbruch war Hans Mayer einer derjenigen, die dies völlig anders sahen. Als Chefredakteur von Radio Frankfurt sprach er am 2. Oktober 1946 einen Kommentar zum Urteil im Nürnberger Prozeß, an dem er auch persönlich teilgenommen hatte. 1978 erschien dieser Kommentar leicht verändert in der »Zeit« unter dem Titel „Deutschland und die politische Humanität“.

Mayer baut seine Argumentation auf der Sichtweise von Kants 1795 erschienenen Schrift »Zum ewigen Frieden« auf. Darin bemühe sich Kant darzulegen, „daß im Wesen keine Trennung bestehe zwischen der Politik und der Moral, wobei er Moral immer wieder und ausdrücklich gleichsetzt mit der Entwicklung der Humanität, der Menschlichkeit. Wesensgleichheit aber von Politik und Humanität, das schien ein geeignetes Thema am Abend eines Urteilsspruches, der gerade Verbrechen gegen die Humanität, gegen die Menschlichkeit im Namen angeblicher Politik zum Gegenstand hatte.“[2]

In seinem Kommentar macht Mayer deutlich, dass es nicht nur um die Verurteilten Nazi-Größen wie Karl Dönitz, Baldur von Schirach, Alfred Jodl, Franz von Papen, Albert Speer, Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Keitel, Alfred Rosenberg und Julius Streicher gehe. Mitgearbeitet hatten die Generäle, die Richter, die Wirtschaftsführer, die mit ihrem Geld „die Bürgerkriegsbanden“ organisiert hatten. Aber auch deutsche Lehrer und Erzieher sowie Intellektuelle, die „in der Blut-und-Eisen-Sprache schwelgten“. An führender Stelle auch der „spätere Kronjurist Görings, der Professor Carl Schmitt.“ Mayer hegte damals die Hoffnung, dass alle diese Männer und ihre Helferhelfer ihre Sühne erhalten würden. Sein Fazit: „Doch uns bleibt die Lehre: die Notwendigkeit einer geistigen Erneuerung, als Abkehr von jenem Kult von Blut und Eisen des Hohns auf Freiheit, Humanität, Menschenrecht und Völkerrecht. Es bleibt die Rückkehr zur einfachen menschlichen Anständigkeit. Das Urteil von Nürnberg wendet sich an uns alle. An uns liegt es das Wort Kants dennoch wahrzumachen.“

Bis es in der Bundesrepublik dazu gekommen ist, hat es allerdings Jahrzehnte gedauert. Erst in den 90er Jahren kam es laut Steinke auch bei den Juristen zu einer Kehrtwende der nach dem Kriegsende weiterherrschenden Verfassungssicht, dass das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot nicht bedingungslos gelten könne.

Heinrich Bleicher

[1] Ronen Steinke, Peinlich späte Erkenntnis, Süddeutsche Zeitung vom 30. September 2021
[2] Zu allen Zitaten Mayers siehe: Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt 1982, S. 342-352

Ein Konzert, das zu Tränen rührte

Zur Erinnerung an Mikis Theodorakis

Gestatten Sie einen etwas persönlichen Beitrag. Meines Wissens gab es keine Verbindung von Hans Mayer zu Mikis Theodorakis. Das Exilland beider, als entschiedene Gegner des Faschismus, war allerdings Frankreich, wo ich mich gerade aufhalte. Die Nachricht vom Tode des legendären Komponisten kam heute über die Medien. Musik, die wir alle kennen und Erinnerungen werden wach.

1974 fuhr ich mit meinem griechischen Freund Georg(ius), sowie Freundinnen und Freunden als junger Student nach Griechenland. Zum ersten Mal das so unbeschreiblich blaue Mittelmeer in Thessaloniki. Georgs Lieblings-Onkel wohnte in Athen. Ein alter Kommunist. Nach seiner Verhaftung während der Junta und brutaler Gefängniszeit auf einer Insel hatte er einen Job als Hausmeister in Athen gefunden. Mit großer Freude nahm er uns auf. Bekochte und bewirtete uns mit unglaublicher Gastfreundschaft. Ein Ereignis mussten wir unbedingt miterleben: das erste öffentliche Konzert von Theodorakis und seinen Musikerinnen und Musikern im Karaiskakis Stadion Athen.

Wir kamen etwas spät an; ohne Eintrittskarten. Wie auch immer gelang es Georgs Onkel, dass wir ins Stadium kamen. Ein Platz in den oberen Rängen wo es noch „viel Luft“ gab. Unten auf der Rasenfläche stimmten sich zwei Orchester ein. Auch Maria Farantouri, wie wir später hörten, war dabei. Plötzlich, schlagartig Ruhe. Theodorakis Stimme über die Lautsprecher: Er würde nicht spielen, wenn man die Leute, die draußen noch warteten, nicht hereinließe. So geschah es.

Erlebt habe ich dann das großartigste, berauschendste Konzert meines Lebens. Eine unglaubliche Stimmung, Begeisterung und Freude. Die Leute sangen mit, standen auf, waren zu Tränen gerührt. Ein emotionales Erlebnis ohnegleichen. Freiheit, Glück und Freude auf die Zukunft. Endlich war alles möglich. Die ganze Dimension des Ereignisses – abgesehen von dem musikalischen Erlebnis – habe ich erst später begriffen.  Der dritte Band von Erasmus Schöfers Tetralogie »Die Kinder des Sisyfos« (damals unter dem Titel »Tod in Athen« erschienen) zeigt die damaligen Ereignisse und Entwicklungen.

Seine Hinwendung zu den „Bürgerlichen“ haben viele Freunde, Unterstützer und Bewunderer Theodorakis übelgenommen. Er hat seine Vergangenheit und vor allem seine revolutionäre Musik aber nie verleugnet. Seine Freundschaft mit Pablo Neruda und die grandiose Vertonung des »Canto General« sind nur ein Beispiel. Wir trauern um Theodorakis, aber seine Musik lebt.

Heinrich Bleicher

 

Hans Mayer erneut lesen

Die Revue Germanique Internationale hat ihre Ausgabe 33/2021 unter der Leitung von Bénédicte Terrisse und Clément Fradin anlässlich seines 20. Todestages Hans Mayer gewidmet, um “die Bedeutung eines der großen deutschen Literaturkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für uns heute, dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer, zu bedenken.”

Hans Mayer (1907-2001) der zunächst 1948 einen Lehrstuhl in Leipzig und ab 1965 in Hannover hatte, habe, so die Herausgeber, “nie aufgehört, seinen stets behaupteten, aber heterodoxen Marxismus mit den Klassikern der deutschen Literatur ebenso zu konfrontieren wie mit den großen Autoren seiner Zeit, mit denen er auch verbunden war, von Bertolt Brecht bis Thomas Mann, über Paul Celan.” Mit ihrem Heft möchten sie zwei Perspektiven aufzeigen, die für Hans Mayer so charakteristisch waren. Zum einen geht es um den aus Köln stammenden jüdischen Intellektuellen Mayer dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden. Er ging 1933 ins Exil und hatte an der Geschichte der Intellektuellen inmitten der ideologischen Gegensätze einen erheblichen Anteil. Zum anderen steht Mayer für “die Genese, Entwicklung und Grenzen der Methode dieses vom Marxismus und Hegelianismus genährten, zwischen der Kritischen Theorie, den theoretischen Reflexionen Bertolt Brechts oder der Philosophie Ernst Blochs angesiedelten Literaturhistorikers […], indem sie mit seiner Lektüre der großen Autoren der Moderne (Kafka, Hofmannsthal), seinem Verhältnis zum Judentum, seiner Praxis und seinen Vorstellungen von zeitgenössischer Literatur konfrontiert wird.”

Clément Fradin und Bénédicte Terrisse erläutern in ihrer Einleitung die Bedeutung Mayers als Professor und Literaturkritiker: “Er war vor allem einer der großen deutschen Literaturkritiker der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, aber auch ein Musikwissenschaftler, dem es immer darum ging, ästhetische Phänomene in einer Analyse ihrer historischen Möglichkeitsbedingungen zu verankern.” Ihre Einleitung verrät sehr präzise Kenntnisse seines Werkes, aus der die beiden Autoren die Notwendigkeit und ihr Anliegen ableiten, sein Werk heute wieder einem wissenschaftlichen Publikum erneut zu präsentieren. Nach der Vorstellung wichtiger Stationen der Entwicklung seines Werkes kommen sie zu bemerkenswerten Beurteilungen: “In vielerlei Hinsicht schien Mayer mit seiner Zeit und den Orten, an denen er arbeitete, nicht Schritt halten zu können. In der DDR ein Heterodoxer, der die Einzigartigkeit der Werke und die Grenzen der Realismus-Doktrin betonte und eher die Ästhetik als das Dogma hervorhob, galt er im Westen, auch nach der Wende, als Marxist – was er nur bedingt war.” Und sie versichern ihren Lesern und versprechen damit nicht zu viel: “Mayers Texte können auch Perspektiven für eine transnationale Genealogie der germanistischen Methoden eröffnen.”

Es folgen drei Teile: “I. Stations historiques de Hans Mayer”. In Georg Büchner und seine Zeit hatte Mayer die studentischen Geheimbünde der deutschen Freiheitsbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts untersucht. Baumann zeigt hier, wie “Geheimgesellschaften skizziert werden, auf die Mayer kritisch Bezug nimmt.” Und wie er “vermittels einer historischen Miniatur den Diskurs über die angeblich notwendige, Re-Mythisierung der Gesellschaft’ zur Bekämpfung des Nazismus ad absurdum führt.”

Artikel von Helmut Peitsch über Mayers Lukács-Lektüre und Sarah Kiani über Mayers Jahre in der DDR ergänzen den ersten Teil. Der 2. Teil untersucht unter der Überschrift Identité et affinités den Werdegang Mayers im Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Methode: Marielle Silhouette berichtet über die Begegnung von Hans Mayer und Bertolt Brecht, Norbert Waszek untersucht Mayers Verhältnis zu Ernst Bloch und Hans-Joachim Hahn wendet sich seinem Judentum zu.

Im 3. Teil wird Hans Mayer als Leser vorgestellt, seine große Passion, die durch die Bibliographie seines umfangreichen Werkes so gut illustriert wird: Clément Fradin erinnert an Mayers Kleist-Lektüre und es gelingt ihm so, an einem Beispiel Mayers literaturkritische Methode auf eine interessante Weise zu demonstrieren. Nach dieser Lektüre wird man den hier abgedruckten Text von Hans Mayer, > Heinrich von Kleist. L’instant historique lesen und Kleist wiederlesen!

Michael Woll berichtet über die Texte Mayers zu Hofmannsthal. Solange Lucas erinnert an die Texte Mayers über Kafka.

Bénédicte Terrisse untersucht grundsätzliche Fragen von Mayers Literaturkritik: Die Literatur war seine Leidenschaft, sie half ihm dabei im Osten und dann im Westen seine Karriere zu verfolgen. Terrisse untersucht den Begriff des “Zeitgenossen” in Mayers Texten. Seine Idee der “‘Zeitgenossenschaft’” erscheint im Kontext seiner Hegel-Rezeption als selbstreflexive Seite seines Denkens der Literaturgeschichte.” Terrisse vergleicht Mayers Werke mit dem Ansatz von Walter Höllerer und geht auf die Verbindungen Mayers zur Gruppe 47 ein. In diesem Zusammenhang betont Terrisse die “Dauerhaftigkeit” von Literatur, die sie in Mayers Literaturkritik wie einen roter Faden erkennt.

Heiner Wittmann