Wie der Literaturwissenschaftler Hans Mayer Musikautor wurde

oder wie rm29 „Richard Wagner“ in 43 Jahren 29 Auflagen erreichte

Wie kommt ein 1907 in Köln geborener promovierter deutscher Jurist, der sich in der Emigration durch die Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk von Georg Büchner zum Literaturwissenschaftler entwickelt, nach dem 2. Weltkrieg dazu, sich als Autor auch auf Musik und dann ausgerechnet auf Wagner einzulassen?

Ein Abiturient, der den Gedanken, als talentierter Klavierspieler Pianist zu werden, wegen fehlender Lust auf sehr viel Üben müssen verwirft, der nach dem Abitur das Jurastudium[1] mangels Alternativen betrieben hat und als verbeamteter Rechtsreferendar beim Verfassen seiner Doktorarbeit Lust zum Formulieren und Schreiben[2] entdeckt, im August 1933 sein juristisches Staatsexamen abschließt, doch sogleich entlassen wird, sodann in der Emigration sich zunächst als politischer Journalist und Redakteur in Frankreich und der Schweiz durchschlägt, in Genf von Carl J. Burckhardt und Max Horkheimer unterstützt und ermuntert wird, Untersuchungen über das Leben und Werk Georg Büchners durchzuführen[3], später in Paris dem Collège de Sociologie beitritt, dabei u.a. Walter Benjamin kennenlernt und das Referat „Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland“[4] hält – eine Untersuchung über die geistig-rituelle Vorgeschichte der NS-Diktatur – , der in der Schweiz zeitweise interniert wird, schließlich 1945 von der us-amerikanischen Besatzungsmacht im Jeep[5] nach Frankfurt geholt wird, um zunächst als Redakteur und später als Chefredakteur für Politik am dortigen Radiosender tätig zu werden, unter dem Führungsoffiziers Golo Mann?

Dr. Hubert Kolland beim Vortrag zu Hans Mayer (Foto: HB)

Wie wird ein solcher Mensch im zerstörten Nachkriegsdeutschland Musikautor, dessen erste Buchveröffentlichung 1946 mit „Georg Büchner und seine Zeit“ der Literatur gewidmet ist und der dann zeitweise „Büchner-Mayer“[6] genannt wird?

Natürlich spielen beim Werdegang des Musikautors Mayer der Klavierunterricht und die Kammermusikpraxis von Kindesbeinen an eine Rolle, ebenso fortgesetzte Konzert- und Opernbesuche in Köln, Berlin und an den Orten der Emigration, – eben die Herausbildung einer vielfältigen und reich entwickelten musikalischen Bildung und Betätigung, die sich wie ein basso continuo durch Hans Mayers Leben zieht, wie seine musikalische Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel „Gelebte Musik“ als letzte Publikation von 1999 zeigt[7].

Die erste Musikpublikation hat den Titel „Kulturkrise und Neue Musik“ und erscheint wie aus dem Nichts 1948 in der Zeitschrift Melos[8]. Sie ist die schriftliche Fassung eines Vortrags, den Mayer bei den Kranichsteiner Ferienkursen für Neue Musik (den späteren Darmstädter Ferienkursen) gehalten hat. Schon 1946 hatte er dort über „Die literarischen Wurzeln der modernen Musik“ referiert – ganz offensichtlich von der Literatur ausgehend – und 1947 über die „Die Welt Alban Bergs“: „Es ging dabei weitgehend um die Beziehungen zwischen Büchners Woyzeck und der Oper Wozzeck.“[9]

[…]

Mit Wintersemester 1948 begann Hans Mayer als bestallter Professor[10] in Leipzig für Kultur- und Literaturwissenschaft – sein Büchner-Buch von 1946 war als Habilitation anerkannt worden – , hielt Vorträge  in Ost und West, so zum Bachfest 1950 in Leipzig, später zur Schillerfeier und natürlich auch über Thomas Mann. Bereits 1950 erschien sein zweites Buch „Thomas Mann. Werk und Entwicklung“[11].

In diesem Kontext von Thomas Mann überrascht es nicht, dass für Mayer neben seiner Vorlesungs- und sonstigen Forschungstätigkeit Richard Wagner in den Focus rückt. „Im fünften Leipziger Jahr [also 1953] erfüllte ich mir einen alten, lange gehegten Wunsch: meine Gedanken über das Werk Richard Wagners zu ordnen, und Empfindungen von einst zu überprüfen. Meine Studie über ‘Richard Wagners geistige Entwicklung’ erschien im Doppelheft 3 / 4 von Peter Huchels Zeitschrift ‘Sinn und Form’ “gerade „rechtzeitig nach dem 17. Juni 1953“.[12]

[…]

Mayers Wagner-Erstling fand im Laufe der Zeit Beachtung in Ost[13] und West. Doch nicht sogleich, auch wenn er diesen sogleich in seinem Sammelband „Studien zur Deutschen Literaturgeschichte“[14] als einzigen Musik-Beitrag unterbrachte.

Nach Jahren rastloser Arbeit am Leipziger Lehrstuhl, verbunden auch mit Spannungen und Anfeindungen im Zuge der Durchsetzung der SED-Politik an den Universitäten, und emsiger Vortragstätigkeit in Ost und West geriet Hans Mayer nach dem Festbankett zu Ehren seines 50. Geburtstags am 19. März 1957 in eine gewisse Katerstimmung. „Ich erinnere die Depression am nächsten Tag, wie stets nach festlichen Augenblicken. Nun war ich fünfzig. Was konnte noch kommen? Ich hatte zwei Bücher geschrieben: das erste über Büchner erwies sich als leidlich dauerhaft, das andere, über Thomas Mann, war vorerst von der Kritik fertiggemacht worden, doch hatte ich Vertrauen zu meinem Text, wenngleich mir das Buch verleidet war. Der große Essay über Richard Wagners geistige Entwicklung hatte Freude gemacht bei der Arbeit, er begann bereits zu wirken: auch im Westen.“ Und einen Absatz weiter heißt es: „Die wirkliche Bedrückung kam daher, wie ich heute meine [1983/84], daß ich kein Thema hatte, um weiterzuarbeiten. Ich strebte hinaus aus dem germanistischen Bereich“.

Dass dann Mayer nur wenig später im Frühjahr 1957 von Ernst Rowohlt den Auftrag erhielt, „eine Monographie über Richard Wagner zu verfassen“[15], war eine glückliche Fügung. Im Juni 1957 wurde der Vertrag unterzeichnet und im Juli 1959 die Monographie rm29 ausgeliefert.[16]

[…]

Das Taschenbuch rm29[17] erlebte eine Erfolgsgeschichte. Schon wenige Tage nach der Verlagsauslieferung findet sich die erste Notiz in der »Süddeutschen Zeitung«: „Der Redakteur der Monographien, Kurt Kusenberg, hat sich das Portrait Richard Wagners originellerweise vom Leipziger Literatur-Ordinarius Hans Mayer bestellt. Der Marxist Mayer interpretiert Wagners Leben und Werk natürlich gesellschaftlich; seine Darstellung wird gewiß nicht ohne Widerspruch bleiben.“[18] Ein ausführliche Besprechung ließ die SZ jedoch nicht folgen.

Mayers Wagnerbuch rm 29

Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« bringt am 3. Oktober dagegen eine breitere Besprechung. Das ist insofern nicht verwunderlich, da Mayer seit 1948 in der Zeitung etwa viermal pro Jahr eine Rolle spielt – u.a. betreff PEN, Vorträgen und Auseinandersetzungen im Umfeld des Leipziger Lehrstuhls – : Mayer war also den FAZ-Lesern wohl bekannt.

Eingangs stellt der Rezensent die Monografien-Reihe als ein ursprünglich französisches Unternehmen vor, „das durch deutsche Beiträge aufgefüllt wird.“ Damaliger Hintergrund: 1956 wurden die Römischen Verträge unterzeichnet und 1957 wurde die EWG gegründet. Rowohlt nutzte sogleich die neuen grenzüberschreitenden Möglichkeiten und startete 1957 seine Monografien-Reihe.

Unter der Überschrift „Aktivierter Wagner“ heißt es sodann in der FAZ:

Daß Hans Mayer, Germanist in Leipzig, eine gediegene Darstellung liefern würde, war von vornherein klar. Daß die Wagnerbiographie eine Pikanterie würde, konnte man vermuten. Lebenslauf, Zeitumstände und Werkdeutung werden mit den nötigen Quellenhinweisen in übersichtlicher, lebhafter Darstellung geboten. Die Pikanterie ist weniger darin zu sehen, daß Mayer sich mit besonderer Intensität des 48er Revolutionärs, zu dessen verehrten Geistesheroen Feuerbach, Saint-Simon, Fourier und Proudhon gehörten, annimmt. Mayer geht mit musikalischer, literarischer und historischer Sachkenntnis allen Spuren nach, die Wagners antifeudale und antibürgerliche soziale Mythologie im Werk und in der Kunsttheorie ausweisen. An sich ist das nichts Neues. Interessant aber ist, daß ein so kluger Mann wie Mayer im Jahre 1959 den Wagner der Meistersinger für die Sache einer deutschen Nationalkultur neu zu aktivieren unternimmt. Mayer ist eher bereit, Wagner gewisse Auffassungen über Rasse, Germanentum und lateinische Zivilisation nachzusehen, da sie doch aus dem Erlebnis der früheren Pariser Hungerjahre stammen als die Resignation des Parsifal. Der Biograph sieht Wagner seit der Hinwendung zu Schopenhauer seit dem Bündnis Sänger – König und seit der Wendung zur Transzendenz im Parsifal sich selbst untreu werden. Wie immer man zu dieser Deutung stehen mag, die biographische Darstellung und die Interpretation können vortrefflich dazu anregen, das Phänomen Wagner aus stumpfer Idolatrie oder Tabuisierung herauszubringen. Mayer ist ein fairer Autor und ein Verehrer des Genies – bei aller Parteinahme für den frühen und gegen den späten Wagner. K. K.“

[…]

Objektiv ist „Richard Wagner (rm29)“ Hans Mayers drittes Monographie-Buch – nach der Büchner- und der Thomas-Mann-Monographie – , doch vermutlich hat er das selbst nicht so gesehen, da bei der Wagner-Monographie so viel gekürzt werden musste. Jedenfalls kommt Mayer auf die Frage, wie viele Monographie-Bücher er verfasst hat, nicht mehr zurück. Mit Sicherheit ist „rm29“ sein erfolgreichstes und auflagenstärkstes Buch, es bildet nicht zuletzt wegen seiner Breitenwirkung die Basis für den Ruhm des Musikautors Mayer.

Der erfolgreiche Rowohlt-Autor erhielt eine erneute Einladung nach Bayreuth, die er dann 1960 tatsächlich wahrnahm, dabei Wieland Wagner zögerlich begegnend[19], schrieb ab 1962 für die Bayreuther Programmhefte – „nicht weniger als vierzehn Beiträge, bei weitem mehr als jeder andere Beiträger“[20] – und trug auf diese Weise – zusammen mit Ernst Bloch, Theodor W. Adorno u.a. – erheblich zu einer offenen und neuen kreativen Auseinandersetzung auch auf dem Hügel und innerhalb des Festspielpublikums bei[21], auch wenn sich die Erneuerungsschlachten noch lange bis zum Götz-Friedrich-Tannhäuser 1972 und Patrice-Chereau-Jubiläums-Ring 1976 hinzogen.

1976 publizierte Mayer, gleichsam als Fortsetzung von „rm29“, den Bildband „Richard Wagner in Bayreuth“[22], der die Geschichte der Festspiele unter den jeweiligen Leitern und Leiterinnen von Cosima bis Wolfgang Wagner darstellt, gestützt auf die Dokumentation der Festspielgeschichte von Michael Karbaum[23]. 1978 schließlich erscheint als große gebundene Monographie „Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt“[24], in der „rm29“ (ohne Dokumente und Bilder), „Richard Wagner in Bayreuth 1876 – 1976“ und das Thema ergänzende Schriften in einem Band von 448 Seiten zusammengefasst sind: Dieser Wagner-Band ist Hans Mayers umfangreichste Monographie.

Hubert Kolland

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Die komplette Fassung des Vortrages, den Dr. Hubert Kolland Gründungsmitglied der Hans-Mayer-Gesellschaft am 1. Oktober 2021 auf dem XVII. Internationalen Kongress der Gesellschaft für Musikforschung an der »Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn« gehalten hat, kann hier als PDF heruntergeladen werden.

[1]Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt a.M. 1982, 65 (= Widerruf I)
[2]Ibidem, 140
[3]Ibidem, 209
[4]Die Riten der politischen Geheimbünde im romantischen Deutschland, in: Denis Hollier (Hg.), Das Collège de Sociologie 1937 – 1939, Berlin 2012, 521 – 550
[5]Widerruf I, 313ff, 325ff
[6]Hans Mayer, Gelebte Musik. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1999, 188
[7]Hans Mayer, Gelebte Musik. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1999
[8]„Kulturkrise und neue Musik“, in: Melos, August- und September-Heft, 1948 Baden-Baden; im Folgenden wird der Vortrag zitiert aus: Hans Mayer, „Ein Denkmal für Johannes Brahms, Frankfurt a. M. 1983, 191 – 208
[9]Gelebte Musik, 193f
[10]Alfred Klein, Heimat auf Zeit. Hans Mayer an der Universität Leipzig, UTOPIE kreativ, Heft 77 (März 1997), 29-45
[11]Hans Mayer, Thomas Mann. Werk und Entwicklung, Verlag Volk und Welt, Berlin 1950
[12]Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II, Frankfurt a.M. 1984 (= Widerruf II), 83; – Alexander Abusch hatte versucht, Mayers Text zu verhindern, der „eine positive Bewertung Richard Wagners und eine Aufforderung, sich mit seinem Werk endlich und kritisch einzulassen!“, beinhaltet. (ibidem).
[13] Joachim Herz bezieht sich in seiner Leipziger Ring-Inszenierung 1973 – 75 ausdrücklich u.a. auf Hans Mayer. “Herz nimmt für sich in Anspruch, erstmalig die Wagner-Interpretation des Sozialisten und Musikkritikers George Bernhard Shaw auf die Bühne gebracht zu haben, angereichert durch Ideen Thomas Manns und Hans Mayer.“  (Nina Noeske, Wagner in der DDR“, in: Arne Stollberg u.a. (Hg.), Gefühlskraftwerke für Patrioten? Wagner und das Musiktheater zwischen Nationalismus und Globalisierung, Würzburg 2017, 240)
[14] Richard Wagners geistige Entwicklung, in: Hans Mayer, Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1954, 171 – 212
[15] Widerruf II, 219
[16] Mail-Auskunft von Katrin Finkmeier, Rowohlt-Verlag Hamburg, 13. März – 29. September 2021
[17]   Hans Mayer: „Richard Wagner in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten.” (Rowohlts Monographien, herausgegeben von Kurt Kusenberg, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1959, 179 Seiten, = rm29)
[18]hdr, in: Süddeutsche Zeitung 11./12. Juli 1959, Rubrik Buch und Zeit
[19]Hans R.Vaget, a.a.O., 191ff
[20]Ibidem, 183
[21]Udo Bermbach, Die Entnazifizierung Richard Wagners. Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951 – 1976, J.B. Metzler Verlag 2020, 89ff, 110ff, 159ff
[22]Hans Mayer, Wagner in Bayreuth, Belser-Verlag, Stuttgart 1976; auch im Suhrkamp-Verlag ohne den Bildteil erschienen unter: „Richard Wagner in Bayreuth 1876 – 1976“, Frankfurt a.M. 1976
[23]Michael Karbaum, Studien zur Geschichte der Bayreuther Festspiele (1876-1976), Regensburg 1976
[24]Hans Mayer, Richard Wagner. Mitwelt und Nachwelt, Belser-Verlag, Stuttgart 1978