»Wir alle sind Leonore«

Der Regisseur Volker Lösch hat zum Jubiläumsjahr Beethovens »Fidelio« an der Bonner Oper in die Türkei verlegt. Auf Nachfrage der Zeitung »Die Zeit« erklärt er:

„Die Welt, die hier geschildert wird, ist ein großes Gefängnis. Und die Türkei ist in Europa das aktuelle Beispiel für einen autokratisch geführten Staat, in dem Regime­gegner durch Willkürjustiz im Gefängnis verschwinden und die Gewaltenteilung auf­gehoben ist. Wenn man mit Beteiligten spricht, wird einem bewusst, dass in der Tür­kei letztlich jede demokratische Rechtsprechung aufgehoben ist. Es liegt also auf der Hand, Fidelio dort spielen zu lassen. Die Figur des Florestan ist jemand, der die Wahrheit gesagt hat, heute könnte es ein Journalist sein, der daraufhin ohne Prozess in Isolationshaft gesteckt und gefoltert wird.“[1]

Nach Auffassung des Kulturredakteurs des Kölner Stadtanzeiger, Markus Schwering, dem als „politisches Statement … die Inszenierung vergleichsweise schlicht“, auf Grund eines „zweifellos wirkungsintensiven Schwarz/Weiß-Schemas“ erscheint, zeigt sie jedoch Oper „so aktuell wie noch nie“. Er kann also nicht umhin, der Inszenierung – mit einem deutlichen Lob für das Beethovenorchester unter Dirk Kaftan – Anerkennung auszusprechen, da sie tagespolitisch hochaktuell die Rele­vanz des Werkes gegen das Konsumbewusstsein eines „schönen“ Abends setzt.[2]

Erhellend sind durchaus auch seine angesprochenen Bezüge zur Wagnerschen »Ring«-Tetralogie und zum »Freischütz« von Carl Maria von Weber. Es scheint, als habe er bei Hans Mayer und dessen Ausführungen zu Beethovens nachgelesen. So heißt es in »Beethoven und das Prinzip Hoffnung«: „Pizarro lebt, wir alle wissen es. Auch Alberich hat die Götterdämmerung überlebt.“[3] Und präziser in »Der geschichtli­che Augenblick des »Fidelio«: „Pizarro ist wirklich, in jedem Augenblick auch unseres Daseins nach wie vor lebendig. Er hat überlebt.“[4] Im Vergleich mit dem Freischütz er­läutert Mayer auch den konkreten historischen Bezug der Entstehung des Fidelio im Kontext der französischen Revolution; es ist ein großer geschichtlicher Augenblick, „eine Konstellation, da das Prinzip Hoffnung ins Bewußtsein tritt“[5]. Leonore bedeutet in Hans Mayer Auffassung „die Vermenschlichung des Prinzip Hoffnung“[6]

Lösch erklärt in dem »Zeit«-Interview: „…sie und ich, wir alle sind Leonore. Leonore macht das, was wir auch machen würden, wenn wir Probleme mit einem System oder einer Justiz hätten, die unschuldige Freunde und Verwandte wegsperrt: Sie er­greift Partei. Als sie erfährt, dass Florestan sie nicht mehr erkennt, halb tot, wie er ist, beschließt sie, sich auch für die anderen Gefangenen einzusetzen. Ihr Weg führt sie vom Einzelschicksal hin zum Engagement für viele, vom Privaten zum Gesellschaftli­chen. Dieser Befreiungsimpuls springt am Ende auf die gesamte Gesellschaft über. Die Botschaft dieser Oper lautet: »Habe Mut, lass dich von niemandem einschüch­tern, und setze dich für die Freiheit aller ein. Dann kann das scheinbar Unmögliche möglich werden.« Wenn wir also Leonore sind, steckt in uns das Potenzial zur Verän­derung. Ganz konkret: persönliches und politisches Engagement, wenn’s sein muss, unter Lebensgefahr.“

An einer ganz anderen Stelle in seinem Werk, im Buch zu »Thomas Mann« geht Mayer noch einmal explizit auf Beethovens Musik ein. In Manns »Doktor Faust«, geschrieben im Exil zwischen 1943 und 1947, wird am Beispiel des Tonset­zers Adrian Leverkühn, in einem anderen geschichtlichen Augenblick, das Ende der bürgerlichen Kultur bezogen auf den Untergangsprozess der bürgerlichen Gesell­schaft entwickelt. „Das ist ein Buch vom Faschismus und ein Buch von den musikali­schen Elementen im deutschen Leben“, so Mayer[7]. Im Werk Leverkühns wird Beethovens Musik quasi zerstört. „Mit zunehmender Krankheit und Vereisung wird nicht bloß die musikalische Romantik [Beispiel »Freischütz«, HB] immer höhnischer zu­rückgewiesen, sondern überhaupt alle Musik, die noch zu Menschen und Herzen sprechen könnte. Es geht um die »Zurücknahme« der Neunten Symphonie, um eine Neunte Symphonie der Inhumanität.“[8] Der Teufel in Thomas Manns Roman argu­mentiert zeitweilig unter der Maske Adornos. Dieser hat Thomas Mann bei seinem Werk umfassend über die Musik beraten. Hans Mayer führt hierzu Erhellendes aus.

Umfassender hat Jost Hermand Adornos Position zu Beethoven in dem jüngst neu aufgelegten und erweiterten Werk ausgeführt. Unter dem Titel »Der vertonte Weltgeist« analysiert er Theodor W. Adornos nachgelassene Beethovenfragmente.[9] Dabei kommt er zu dem Ergebnis: „Diesem widerspruchsvollen Entwicklungslauf der Geschichte, der sich in Beethovens Musik auf eine zutiefst erregende Weise widerspiegelt, allerdings allein mit dem hegelschen Prinzip der Dialektik nahekommen zu wollen,… erscheint mir, so fruchtbar manche der damit verbundenen Einsichten auch sein mögen, auf weite Strecken höchst forciert.“

In acht dezidierten Untersuchungen von Beethovens Werken im Verlauf der Ge­schichte von der französischen Revolution bis zum reaktionären Ungeist der Metter­nich-Ära analysiert Jost Hermand mit umfassender historischer und musikalischer Kompetenz das Werk Beethovens, der „seinen früheren, weitgehend aufmüpfigen Freiheitshoffnungen“ treu geblieben ist. Äußerst lesenswert wird dies auch an Unter­suchungen zur Wirkungsgeschichte, die sich bis zu Fidelio-Inszenierungen im Span­nungsfeld zwischen Werktreue und Bearbeitung erstrecken. Man betrachte es nicht als „Eigenwerbung“, wenn dieses Buch des Gründungsmitgliedes der Hans-Mayer-Gesellschaft nachdrücklich zur Lektüre empfohlen wird.

Schließen möchte ich diese ersten Ausführungen zum Beethovenjahr mit den Worten Hans Mayers: „Der geschichtliche Augenblick des »Fidelio« war rasch vergangenen. Das Werk ist geblieben. Wer für sich dabei einen schönen Opernabend erwartet und nachher darüber räsoniert, ob Sopran und Tenor ihre Sache gut gemacht haben, hat dies einzigartige Werk nicht verstanden. Er hat dann – leider – auch sich selbst (uns selbst!) nicht verstanden: die Zeitgenossen unserer eigenen Tage und ihrer Tages­nachrichten.“[10]

[1] Die Zeit Nr. 2, S. 48 https://www.zeit.de/2020/02/beethoven-fidelio-volker-loesch-oper-bonn

[2] Siehe https://www.ksta.de/kultur/beethoven-jahr-beginnt-eine–fidelio–inszenierung-als-protest-gegen-erdogan-33687616 und

KStA vom 4./5. Februar Seite 4 „Oper – so aktuell wie noch nie“

[3] In Hans Mayer, Versuche über die Oper, Frankfurt 1981, S. 89, Schwering schreibt „Auch Alberich übersteht bekanntlich den Sturz der Götter“. Die entscheidenden Differenzen zwischen dem Schluss des »Freischütz« und des »Fidelio«, die Mayer klar benennt, führt er aber nicht an.

[4] Hans Mayer, Der geschichtliche Augenblick des »Fidelio«, in Hans Mayer, Augenblicke, Frankfurt am Main 1987, S. 305

[5] Wie Fußnote 3, S.87

[6] Wie Fußnote 4, S.304

[7] Hans Mayer, Kulturkrise und Neue Musik, in: ders., Ein Denkmal für Johannes Brahms, Frankfurt 21993, S. 203

[8] Hans Mayer, Thomas Mann, Frankfurt am Main 1980, S.305

[9] In: Jost Hermand, Beethoven – Werk und Wirkung, Wien, Köln Weimar 2020, S. 212 – 227

[10] Wie Fußnote 4, S. 307