Hans Mayer und Thomas Mann – Begegnungen und Ungeklärtes
PD Dr. Rolf Füllmann (Universität zu Köln)
Dieser Beitrag zum Thomas-Mann-Jubiläumsjahr – für den ich Rolf Füllmann sehr herzlich danke – ist hier in gekürzter Fassung zu lesen. Er stellt auch einen Ausblick auf die im Herbst stattfindende Tagung zum 50jährigen Erscheinen von Hans Mayers „Aussenseitern“ dar und steht in voller Länge als Download zur Verfügung.
Heinrich Bleicher (Vorsitzender HMG)
Hans Mayer war sowohl als interpretierender Philologe als auch als Vertreter der jungen DDR bzw. zuvor der SBZ vielfältig mit Thomas Mann und seinem Werk verbunden, beide eint zudem nach ihrer Flucht vor dem nationalsozialistischen Terror ein jahrelanges Exil in der Schweiz. Hier und anlässlich der Goethe- und Schiller-Feiern in Weimar 1949 und 1955 fanden auch die meisten ihrer persönlichen Begegnungen statt, wobei Mayer Thomas Mann, der „bereits Nobelpreisträger“ (Mayer: Mann. 23) war, schon um 1930 einmal in München besucht hatte. Immerhin stand Hans Mayer mit Thomas Mann in den Fünfziger Jahren professionell auf so guten Fuß, dass er vorab seinen Schiller-Vortrag „als Manuskript aus Kilchberg erhalten“ hatte, „weil er noch in der zwölfbändigen Gesamtausgabe erscheinen sollte, die der Ostberliner Aufbau-Verlag zu seinem 80. Geburtstag vorbereitet.“ (Mayer: Mann, 16) Eine weitere verborgene Verbindung zwischen Hans Mayer und Thomas Mann war sicher auch, dass in dessen „Anfängen“ die „Versuchung des Außenseitertums […] groß gewesen sein“ (Mayer: Mann, 22) muss. Mayer nimmt an, dass sich Thomas Mann „wohl noch vor der Begegnung mit Katia Pringsheim, die Dualität aus bürgerlichem Lebenslauf und außenseiterhafter Literatur“ (ebd,) als Doppelexistenz vornahm. Dies impliziert auch eine Doppelung zwischen heterosexueller Ehe in der realen Welt und Fiktionen einer geschlechtlich fluiden Quasi-Welt (vgl. Wolf, 623-625), die sich mit den ‚Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull‘ (1954, vgl. Füllmann 2021, 74) und der ‚Betrogenen‘ (1953) bis ins Spätwerk erstreckt. Der Autor der Studie ‚Außenseiter‘ von 1975 hatte also gute Gründe sich lebenslang mit Thomas Mann auseinanderzusetzen.
Als „ein Rheinländer“ (Mayer: Mann, 28) war Hans Mayer bei einem der letzten Gespräche in der Schweiz, was nahelag, vor allem an Thomas Manns besagter neuer Novelle ‚Die Betrogene‘ und der Wahl ihres Schauplatzes Düsseldorf und des nahegelegenen Schlosses Benrath als Orte der novellentypischen Liebeshandlung interessiert. Thomas Mann hatte hier eine Münchner Anekdote, die ihm 1952 seine Frau berichtete (GKFA 6.2, 274), an den Rhein verlegt. Im Gespräch mit Mayer reagierte Thomas Mann etwas ungehalten auf die Verbindungen, die sein jüngerer Gesprächspartner mit Blick auf die Novellenhandlung zu Goethe aufbaute: „Ich sehe überhaupt keine Beziehung zwischen meiner Arbeit und Goethe!“ (Mann: Mayer, 28) Dabei ist das ‚Lob der Vergänglichkeit‘, das der Novellenschluss des ‚Tods in Düsseldorf‘ (so Mayers Titel eines Beitrags über ‚Die Betrogene’ in: ders.: Thomas Mann, 408-426), enthält, eine skeptische Wendung des Pantheismus der Goethezeit. Dieses Weltmodell variiert Thomas Mann zeitgleich in einem naturphilosophischen Aufsatz mit jenem Titel ‚Lob der Vergänglichkeit‘ von 1951 (Vgl. Füllmann 2021, 145) Ein solche Achtung der Natur spricht auch die todesmutig sterbende Novellenheldin Rosalie aus, wenn sie am Schluss sterbend zu ihrer Tochter sagt: „Aber wie wäre denn Frühling ohne den Tod? Ist ja doch der Tod ein großes Mittel des Lebens, und wenn er für mich die Gestalt lieh von Auferstehung und Liebeslust, so war das nicht Lug, sondern Güte und Gnade.«“
Ein kleines Rücken noch, näher zur Tochter, und ein vergehendes Flüstern:
»Die Natur – ich habe sie immer geliebt, und Liebe – hat sie ihrem Kinde erwiesen.«“ (GFKA 6.1, 540)
Herbst und Tod verbinden sich hier monistisch mit einem ‚Maifest‘. Der Bezug zu Goethe ergibt sich desweitern in der Ähnlichkeit der späten Liebe Goethes in Marienbad mit der späten Liebe der Novellenfigur Rosalie von Tümmler zum jung-sportiven Amerikaner Ken Keaton, die anlässlich eines gemeinsamen Ausflugs nach Benrath, inklusive Chateau-Besichtigung, kulminiert. Hier jedoch lag auch ein persönliches Geheimnis Thomas Manns zugrunde, wie Hans Mayer erst viel später über die posthum veröffentlichen Tagebücher erfuhr: die Düsseldorfer Lande waren auch die Heimat von Klaus Heuser (Vgl. Mayer: Mann, 419). Und dieser war Sohn eines Düsseldorfer Kunstprofessors und er war eine an Goethe erinnernde späte Liebe Thomas Manns, die sich wie diejenige der Rosalie von Tümmler, „Rheinländerin von Geblüt und Mundart“ in den „den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts“ (GFKA 6.1, 458), hier des zwanzigsten, ereignete. Für Hans Mayer stand, was Thomas Manns literarische Produktion betraf, ohnehin fest, „daß alle Außenwelt von diesem Partner nur als Möglichkeit für künftige Schreibvorgänge genutzt wurde.“ (Mayer: Mann, 20)
Die Betrogene: Inhalt und thematische Schwerpunkte
Von Goethe stammt auch das Wort von der „unerhörten Begebenheit“, die die Novelle kennzeichnen soll (Füllmann: Novelle, 100). In Thomas Manns später Novelle ‚Die Betrogene‘ (1953) ist dies eine Krebsblutung Rosalies, die diese für eine wiedergekehrte Monatsblutung hält. Ein Todesbote der trügerischen Natur wird mit einem genuin weiblichen Lebensboten verwechselt. Als reizender wie aufreizender Liebesbote kommt hier ein junger Mann aus den USA hinzu, in den die Novellenprotagonistin sich ‚verguckt‘. Sie ist eben auch liebeskrank. Es ist in diesem Kontext – und mit Blick auf die Sanatorien Thomas Manns vom ‚Tristan‘ bis zum ‚Zauberberg‘ – kein Zufall, was Mayer im Zusammenhang einer Ehrendoktorverleihung in Jena unterstreicht: Der Dichter bedauerte, dass „man ihm nicht, wie ursprünglich geplant, den Dr. med. honoris causa verliehen habe.“ (Mayer: Mann, 18)
Die Novelle erzählt von Rosalie von Tümmler, einer etwa fünfzigjährigen Witwe, die zusammen mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Villa lebt. Als der jung-unbedarfte US-amerikanische Englischlehrer Ken Keaton in das Leben der Familie tritt, erlebt Rosalie eine unerwartete körperliche und emotionale Wiedererweckung. Sie glaubt erneut fruchtbar zu sein, doch die Frucht ihres Leibes stellt sich als ein tödlicher Krebs heraus. Die titelgebende „Betrogene“ ist Rosalie selbst, die vom eigenen Körper, vom Leben, vom Schicksal und vielleicht auch von der Liebe getäuscht wurde. Rosalie verwechselt Lebenszeichen mit Lebenslügen. Für Hans Mayer manifestiert sich dies in seinem Aufsatz ‚Tod in Düsseldorf‘ (1980) auch in der „Blumensymbolik“ zwischen Krokus und Herbstzeitloser“, „mit ihrem Verwirrspiel zwischen den Jahreszeiten und Lebenszeiten, Liebe und Tod“ (Mayer: Mann, 408). Rosalies späte erotische Blüte wirkt beinahe tragikomisch, weil sie in einem scharfen Gegensatz zur Realität ihres alternden Körpers steht.
‚Die Betrogene‘ ist mithin nicht nur ein psychologisch feingliedriges Werk über Selbsttäuschung, Verdrängung und weibliche Sexualität, sondern sie ist auch tief verankert in einem spezifischen geografischen und kulturellen Kontext: dem Rheinland. Die Verbindung zwischen Ort und Handlung ist nicht nur atmosphärischer, sondern auch symbolischer Natur – das Rheinland fungiert als ambivalenter, antikisch-westlicher fundierter Resonanzraum für Themen wie Vitalität, Verfall, Illusion und Neubeginn.
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Doch auch jenseits allem rein poetischen ‚Geist der Goethezeit‘ zeigt sich das Rheinlandbild Thomas Manns auch im Politischen von westlichen Ideen beeinflusst. Entsprechend dem rheinischen Wahlverhalten, das auch Anna Seghers im Exil positiv hervorhebt (Seghers: Köln, 111), ist Rosalie von Tümmler für eine deutsche Offizierswitwe nämlich erstaunlich republikanisch und freiheitsliebend, wie die ironische Erzählhaltung unterstreicht. So sagt sie:
„Wir haben doch jetzt die Republik, wir haben die Freiheit, und die Begriffe haben sich sehr verändert zum Légèren, Gelockerten hin, das zeigt sich in allen Stücken.“ (GKFA 6.1, 514)
Selbst in aus der Brusttasche heraushängenden Taschentüchern junger Männer glaubt Rosalie „ganz deutlich ist darin ein Zeichen und sogar eine bewußte Kundgebung republikanischer Auflockerung der Sitten zu erkennen.“ (ebd.)
„Le bel idéal napoléonien“ (Barrès, 181), das für Barrès im Rheinland Offenbachs, Heinrich Heines (Barrès, 15) und August Bebels (Barrès, 182) auch nach mehr als hundert Jahren fortlebt und sich auch in rheinischen Kriegerdenkmälern für die Soldaten des großen Korsen manifestiert, zeigt also auch im modischen Detail. Die altpreußisch-reaktionäre „propagande germanique“ (Barrès, 85) hat da – laut Barrès und sogar seinem ehemaligen Gegenspieler Thomas Mann nach dem endgültigen Ende Preußens – einen etwas schwereren Stand als anderswo in deutschen Landen.
Doch das in jeder Hinsicht milde Klima des Westens und die sinnenfrohe Atmosphäre kontrastieren mit dem unausweichlichen Tod, der Rosalie bevorsteht. Thomas Mann nutzt die rheinische Natur nicht bloß als Hintergrund, sondern als Spiegel der inneren Zustände seiner Figuren. Die blühende Landschaft steht für Rosalies vermeintliche Wiedergeburt – doch sie wird rasch zur Kulisse eines langsamen Sterbens. Doch wie der scheinbar ewig fließende Rhein hat auch das Leben seine verborgenen Strömungen und Untiefen. Der Körper betrügt, wie es auch die Natur zu tun scheint: Was wie Neubeginn wirkt, ist in Wahrheit ein Ende.
Symbolik des Körpers: Rosalie als existenziell-weibliche Außenseiterin
Schon bei Rheinfahrt zum Schloss deutet sich Rosalies körperlicher Verfall sanft an: „Ihr verschmälertes Gesicht war sehr lieblich unter dem Filzhütchen mit der Feder darauf“ (GKFA 6.1, 527), heißt es da und die schwindenden Lebenskräfte zeichnen sich so in ihren Zügen ab. Der Vater Rhein mutiert so zum Styx.
Das Ende der Rosalie wird dann mit einer naturalistischen Drastik erinnert, die an die Hospital-Szene in Thomas Manns ‚Königliche Hoheit‘ (1909) oder gar an Gottfried Benns ‚Morgue‘-Gedichte erinnert. Wie der Zeitzeuge Hans Mayer 1980 feststellte, lösten diese Schilderungen in den 1953 durchaus eine Abwehr des Lesepublikums aus:
„Ingrimm war zu spüren bei den Rezensenten und ihren Lesern, fast eine Verstörung. Das seit und durch Freud modisch gewordene Schlagwort vom ‚Tabu‘ schien sich anzubieten. Hatte Thomas Mann in der ‚Betrogenen‘ ein Tabu verletzt, vielleicht gar in Form mehrerer Verstöße?“ (Mayer: Mann, 410)
Jenseits des Medizinischen betont Mayer – aktuelle Gender-Diskussionen vorwegnehmend – als Verstörungsmoment „das Tabu der tradierten Geschlechterrollen“, das die Novelle verletzt: „Die männlich werbende Frau, der gleichsam wie ein ‚Weib‘ begehrte junge Mann“ (Mayer: Mann, 412).
Doch auch das Körperliche rührt mit dem „weibliche[n] und beschwiege[n] Geheimnis der Blutungen“ (Mayer: Mann, 412) an Tabuisiertes.
Die Steigerung des Grauens folgt noch: Was in Rosalie wächst, ist nicht die weibliche Liebe, sondern ein monströses wie narrativ demonstrativ präsentiertes Krebsgeschwulst, wie es nur im Frauenkörper wuchern kann. Ein Mediziner mit Namen Muthesius, der nach Hans Mayers Interpretation an den Hofrat Behrens im ‚Zauberberg‘ erinnert (Mayer: Mann, 412), nimmt eine „bimanuelle Untersuchung“ an Rosalie vor. Er stößt in ihrem Innern auf einen „für das Alter der Patientin viel zu großen Uterus“: Dann lässt sich „beim Verfolgen des Eileiters“ ein „unregelmäßig verdicktes Gewebe und statt eines schon sehr kleinen Ovariums“ ein „unförmige[r] Geschwulstkörper erkennen.“ Dort, wo neues Leben wächst, erscheint hier der Tod: Man kann „nicht zweifeln, daß im Uterus selbst Gebärmutterkrebszellen in voller Entwicklung begriffen waren. Es wies all die Bösartigkeit Zeichen rapiden Wachstums auf.“ Der männliche Blick des Professors auf das genuin weibliche Krankheitsbild ist nüchtern: „»Nenne ich ausgedehnten Befund«, sagte er zu seinem Assistenten.“ (GKFA 6.1, 538)
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Rosalie stirbt gleichsam an ihrer Weiblichkeit, die Natur nimmt die Naturnahe zu sich. Der Humanist Thomas Mann schließt die monströse Krankheit als Humanes in sein Menschenbild ein, aber er lässt dem Menschlichen das letzte Wort:
„Rosalie starb einen milden Tod, betrauert von allen, die sie kannten.“ (GKFA 6.1, 540)
Dies ist kein Femizid. Hierin unterscheidet sich Rosalies Ende vom grausigen Ende der abgestochenen Lulu Wedekinds (Mayer: Außenseiter, 133). Die weibliche Existenz wird hier indes existenziell außenseiterhaft im Sinne Hans Mayers. Dieser hat in seiner grundlegenden Studie zu den ‚Außenseitern‘ selbst die Außenseiterstellung mit Krebserkrankungen in Verbindung gebracht. Etwa im Falle des homosexuellen Außenseiters Arthur Rimbaud, „der am 10. November 1891, mit 37 Jahren, qualvoll am Krebs gestorben“ war (Mayer: Außenseiter, 247). Die körperliche Zerstörung erscheint Mayer als das folgerichtige Ende einer Außenseiterexistenz in einer zerstörerischen Gesellschaft, die unter sozialem Druck von „der provokanten Skandallust zur provokanten Unscheinbarkeit“, zwischen „Skandal und die Gleichschaltung“ pendelt (Mayer: Außenseiter, 240).
Ähnlich provokant wie das körperlichen Monströse einer Krebserkrankung zwischen Gebärmutter und Eierstock bei der ‚Betrogenen‘ ist – in Anknüpfung an die Essays von Montaigne – indes die Konzeption existenziellen, nicht intentionalen Außenseitertums in Hans Mayers Studie. Da heißt es dann:
„Allein ob die permanente Aufklärung noch eine Chance hat in der Aktualität und Zukunft, muß an jenen Außenseitern der Gesellschaft demonstriert werden, die als Monstren geboren wurden. Ihnen leuchtet nicht das Licht des kategorischen Imperativs, denn ihr Tun kann nicht zur Maxime einer allgemeinen Gesetzlichkeit gemacht werden. Eben darum jedoch muß sich Aufklärung vor ihnen bewähren.“ (Mayer: Außenseiter, 11)
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Hans Mayer geht wie Thomas Mann bei der ‚Betrogenen‘ Montaignes Essays folgend in Bereiche des Humanen vor, die der Krankheit zugeordnet werden könnten und novellistisch-anekdotisch geschildert werden:
„Montaigne wählt nach seiner stilistischen Gewohnheit das Alltagserlebnis. Was er berichtet, trug sich »vorgestern« zu. Bauernleben in der Gascogne. Eine Familie mit einem Kind von 14 Monaten, das keine Nahrung annimmt außer der Ammenmilch. Es trägt einen kopflosen Zwilling mit sich herum.“ (Mayer: Außenseiter, 12)
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Die genuin fraulichen monströsen Auswüchse im Inneren der Rosalie von Tümmler im 20. Jahrhundert nehmen ihr ebenso wenig die Menschlichkeit wie die Auswüchse am Äußeren der von Montaigne geschilderten Landbewohner des 16. Jahrhunderts.
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Die landschaftliche Idylle am Rhein wird in Thomas Manns ‚Die Betrogene‘ zur sarkastischen Brechung der tragischen Realität. Die Natur zeigt in und außerhalb des menschlichen Körpers der Rosalie von Tümmler ihr Janusgesicht. In diesem Spannungsfeld gelingt es Thomas Mann, ein letztes Mal einem Werk die großen Fragen des Menschseins als Frausein im Interdiskurs, pendelnd zwischen Kulturgeographie, Mythos und Medizin, zu verhandeln. Dies erfolgt wie regelmäßig in seinem Werk an einer Außenseiterfigur (Vgl. Kurwinkel, 12f).