Die Kunst, einen Roman zu schreiben

Zum 70. Todestag von André Gide

Mit seinem Drang zu einer bedingungslosen Individualität und seinem Einzelgängertum war André Gide (*22. November 1869 in Paris 19. Februar 1951 in Paris) ein Außenseiter und passte somit als literarisches Beispiel neben Oscar Wilde vorzüglich in Hans Mayers gleichnamiges Buch Die Außenseiter (1975). Zuerst vergleicht Mayer Gides Falschmünzer (1925) mit Das Bildnis von Dorian Gray (1890), die einzigen Romane der beiden Schriftsteller. Beide Romane enthalten einen „geheimen Satanismus … der zwar als Kunstmittel eingesetzt wurde, ohne doch in solcher ästhetischen Funktion ganz aufzugehen. “ (Außenseiter, S. 267) Im Folgenden fällt die Präzision auf, mit der Mayer die Figurenkonstellation in den Falschmünzern präsentiert und zeigt damit eine Literaturkritik, die sich auf eine sehr genaue Lektüre des Textes stützt. Es ist eine männlich geprägte junge Welt: „Alle Erwachsenen haben allein die Funktion zu stören.“ (Außenseiter, S. 270). Wie die Älteren so stören hier die Frauen. Sie werden gehaßt oder verachtet. (Außenseiter, S. 270)

DIe Kirche von Cuverville
Die Kirche von Cuverville

Les Faux monnayeurs (Die Falschmünzer, 1928) erscheint 1925. Wie Gide dies selbst betonte, sein erster Roman. In ihm setzt sich der Romancier Édouard daran, einen Roman zu verfassen. Es geht um die Epik des Romans, die verschiedenen Stationen seines Entstehens, denen eine Aufmerksamkeit gewidmet wird, die das eigentliche Werk übersteigt. Die Ereignisse und die Figuren treten dabei in den Hintergrund, denn Edouard versucht für sich und den Roman die Realitäten zu ordnen, was er in seinem Journal d’Édouard, aus dem immer wieder Abschnitte in den Falschmünzern erscheinen, festhält: „Für mich gibt es nur eine poetische (Und dieses Wort gebe ich in seiner umfassenden Bedeutung hier wieder) Existenz, um schon mal nur mit mir anzufangen. Es scheint mir manchmal, dass ich nicht wirklich existiere, aber ich stelle mir einfach nur vor, dass ich bin.“ (Les Faux monnayeurs, 1925, S. 73, übers. v. H.W) Wie ihn als Hauptperson gibt es im Roman weitere Personen wie Bernard Profitendieu oder Lucien Bercail, die sich auch über den Wert ästhetischer Betrachtungen aus ihrem Milieu lösen möchten. Später notiert Édouard in seinem Tagebuch: „Ich beginne das zu begreifen, was ich das eigentliche Thema‘ meines Buches nenne, das wird, ganz ohne Zweifel, die Rivalität zwischen dem realen Leben und der Vorstellung sein, die wir uns von ihr machen.“ (Les Faux monnayeurs, 1925, S. 201, übers. v. H.W) In einem gewissen Sinne dokumentieren die Falschmünzer Gides eigene Überlegungen zur Gattung des Romans oder überhaupt einer auch zu einer Episode in diesem Roman, in der es wirklich um Falschgeld geht.

Das Grab von André Gide und seiner Frau Madeleine auf  dem Friedhof von Cuverville

Für Mayer gehören die Falschmünzer zum Genre des homosexuellen Romans mit seinem „parasitären Kosmos“ (S, 271). Der Gegensatz zwischen Edouard und Passavant steht im Zentrum ihres Kampfes um den jungen Olivier. Edouard obsiegt und gewinnt Olivier: „eine Lustspielwelt ohne Frauen.“ (S. 272) Es gibt auch Mayers Blick auf die Biographie Gides und er erinnert an den geliebten Marc Allégret, der Olivier in seinem Leben war., Der Beleg ist Gides Tagebucheintrag vom 8. Dezember 1917, in dem er seiner immensen Enttäuschung Ausdruck verlieh, dass M. bei [Jean] C.[octeau] gewesen sei.

Es ist nicht nur die besondere Gattung des Romans, die Mayer skizziert, sondern der Einblick, den er uns in die so präzise Konstruktion und Entstehung des modernen Romans vermittelt. Sie sollte uns dazu anregen, Gide wieder zu lesen.

Gide stammte aus einer protestantischen bürgerlichen Familie. Sein Vater stirbt 1880. Gide wächst fast ausschließlich unter Frauen auf. 1891 erschienen seine Erstlingswerke Les Cahiers d’André Walter (Die Aufzeichnungen und Gedichte des André Walter, 1969) und Voyage d’Urien (Die Reise Urians, 1991). Ab 1891 ist er zu Gast bei den Dienstagsabenden Stéphane Mallarmés im Kreis der Symbolisten, deren Einfluss in Gides Gesamtwerk zu erkennen ist. 1893-1895 reist er nach Nordafrika, entdeckt dort für sich eine Gefühlswelt ohne Grenzen und hat, wie man heute sagt, sein Coming-out, das er in L’immoraliste, 1902 (Der Immoralist, 1905) bestätigt, wenn auch auf eine eher diskrete Weise, bevor er wieder ausführlicher in Corydon, 1924, (dt. 1932) explizit darauf zurückkommt. 1895 heiratet er Madeleine Rondeaux (1867–1938) seine Cousine, mit der er eine nach außen erscheinende förmlich-bürgerliche Ehe führt. Im gleichen Jahr erscheint Paludes. Zwei Jahre später Nourritures terrrestres und Les nouvelles nourritures, (Uns nährt die Erde, 1930, Die Früchte der Erde, 1935, Neue Früchte der Erde, 1999). Es wird das Kultbuch einer ganzen Generation: alle Sinnesempfindungen werden in einer exaltierten Weise dargestellt: einem jungen Schüler, Nathanaël, wird die Befreiung von allem gelehrt: „Nathanël, ich lehre Dich die Inbrunst.“ (S. 21)

Mit Jacques Copeau, Jacques Rivière und Jean Schlumberger gründet Gide 1908 die Nouvelle revue française. Mit La porte étroite, 1909 (Die enge Pforte, 1909) und Isabelle, 1911, beginnt sein Durchbruch. 1914 veröffentlicht Gide die Sotie (Narrenspiel) Les caves du Vatican (Die Verliese des Vatican, 1922) mit der berühmten Passage des Acte gratuit, als der Protagonist Lafcadio seinen Mitreisenden Amédé Fleurissoire auf einer Brücke aus dem Zug wirft. La Symphonie pastorale, 1919 (Die Pastoralsymphonie, 1925) zählt zu seinen besonderen Erfolgen, gehört der Band doch zu den Erzählungen, die sein Werk besonders gut charakterisieren.

Dem Studium der Menschen galt immer sein besonderes Interesse, insoweit folgt er seinem Vorbild Montaigne und dessen Individualismus: Essais sur Montaigne, 1929 und Les pages immortelles de Montaigne. Choisies et expliquées par André Gide, 1946, (Denken mit Michel de Montaigne: Eine Auswahl aus den Essais, vorgestellt von Andre Gide, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von H. Helbling, 2005) Das Thema »individueller Freiheit« wird sein ganzes weiteres Werk bestimmen. Eine Autobiographie Si le grain ne meurt (1924) wird 1930 unter dem Titel Stirb und werde übersetzt. Ab 1889 führte Gide sein berühmtes lebenslanges Tagebuch: Journal intime, 1952, (Intimes Tagebuch, 1952), mit dem er das Entstehen seiner Werke begleitet und immer wieder auf sein Hauptthema zurückkommt, der Mensch habe sich so zu akzeptieren, wie er sei: Schon 1897 schreibt in er den Nouvelles nourritures terrestres: „Ich mag nichts, was den Menschen herabsetzt; nichts, was dazu neigt, ihn weniger weise, weniger selbstbewusst oder weniger reaktionsschnell zu machen. Denn ich akzeptiere nicht, dass Weisheit immer von Langsamkeit und Misstrauen begleitet wird. Das ist auch der Grund, warum ich glaube, dass in einem Kind oft mehr Weisheit steckt, als in einem alten Mann.“ (Les nouvelles nourritures, in: Les nourritures terrestres, 1917-1936, S. 230, übers. v. H.W.)

Gide wollte sich und seine Leser von allen Zwängen, von jedem Anspruch moralischer Art befreien. Keine überkommene Konvention sollte gelten. Ihm ging es um das authentische Ich. Seine Kritik ist fundamental, für ihn zählt in erster Linie das Individuum. Gide vereinigt in seinem Werk alle Stilgattungen: Dichtung, Roman, Erzählungen, Theaterstücke, Essays, Soties und Zeitungsartikel. Seine vielen Reisen machten ihn international bekannt. 1947 erhält der den Nobel-Preis für Literatur.

In Was ist Literatur? (1947) zitiert Sartre Die Früchte der Erde als ein Beispiel für die Geisteswerke, die in sich das Bild des Lesers tragen, für den sie bestimmt seien. In diesem Sinne könne er, so Sartre, nach der Lektüre ein Porträt Nathanëls anfertigen und der Entfremdung, von der sich lösen solle. Die einzige Gefahr, in die er gerate, sei die, sich von seinem Milieu nicht lösen zu können.

Auch wenn Gide nach eigenem Ermessen nur einen Roman verfasst hat, der zudem auch noch das mögliche Scheitern dieser Gattung berichtet, so gilt sein Gesamtwerk doch den Überlegungen, wie die Mittel der Ästhetik und der Epik die Kunst bestimmen, einen Roman zu schreiben Damit verbunden ist die Suche nach dem Individuum, seiner Autonomie, die als Thema das Gesamtwerk Gides kennzeichnet, der stets nach den Werten forscht, die das Leben ausmachen und bestimmen.

Nicht unbegründet stellt Hans Mayer in einem Beitrag für »Die Zeit« vom 28. März 1980 deshalb heraus, dass es durchaus sinnvoll sei, das Tagebuch („Journal“) des Autobiographen Gide in die berühmte Liste der Hundert Bücher aufzunehmen.

Fotos: © Heinrich Bleicher