Diesen Roman unbedingt (wieder-)lesen

Hans Mayer: Anmerkungen zu Flaubert (1821-1808)

Am 12. Dezember jährt sich der Geburtstag von Gustave Flaubert (1821-1880) zum zweihundertsten Mal. Der Autor von Madame Bovary. Sittenbilder aus der Provinz wurde von Hans Mayer mit den Anmerkungen zu Flaubert, die 1954 in Sinn und Form erschienen, gewürdigt. 1989 erschien dieser Aufsatz wieder in Hans Mayers Weltliteratur. Studien und Versuche zusammen mit einem Text über Bouvard und Pécuchet, der als Einleitung zu einer Reihe von Lesungen aus Flauberts Roman für den Rundfunk entstanden war.

Büste Flauberts im Museum (Foto: HB)

Völlig unvergleichbar sind Sartres monumentale Studie über den Idioten der Familie (1970/71, neu aufgelegt und erweitert 1988), in dem er der Frage nachgeht, wie es Gustave Flaubert gelingen konnte, sich zum Autor der Madame Bovary zu entwickeln, um dann Madame Bovary interpretieren zu können, mit Hans Mayers Rezension der Madame Bovary, in der er den Aufbau und die Stoßrichtung des 1858 erschienen Romans so klar und präzise vorträgt, so dass ein Resümee von Mayers Beitrag nur lauten kann: „Sie müssen diesen Roman unbedingt (wieder-)lesen.“

Es geht um das Schicksal der Apothekergattin Emma Bovary (und ihren Ehegatten Charles), ihre Sehnsüchten und ihre Enttäuschungen, die sie schließlich in den Selbstmord treiben: „Die Meisterschaft des Künstlers, der diese zwiespältige, bald traurig, bald heiter stimmende Geschichte jeweils im richtigen Ton vorträgt, ist immer wieder bewundernswert,“ (S. 236) erklärt Hans Mayer, der in dieser kurzgefassten Betrachtung, den Aufbau des Romans, die Protagonistin und die wesentlichen Personen, die mit ihr in Beziehung stehen und die Wirkung dieses Romans so eindrucksvoll in die Literaturgeschichte einordnet.

Zunächst skizziert Mayer die Entstehung des Romans und die Reaktionen auf seine Veröffentlichung. Flauberts Schreibprozess ist in seiner Korrespondenz ausführlich belegt. Die Aufregung in Rouen über diesen Roman erinnert daran, wie präzise Flaubert mit seiner Geschichte über die bürgerliche Madame Bovary die Verhältnisse seiner Zeit getroffen hatte, genauso zielsicher, wie das Skalpell bei der Klumpfußoperation geführt wurde. Es geht in diesem Roman um eine „unerbittliche Darstellung bürgerlicher Lebensformen“ (Mayer, S. 242), wobei aber die ersten Leser und selbst Flauberts Freunde die „wunderbaren Formproportionen der Madame Bovary“ (S.243) nicht erkannten.

Es sind vor allem Mayers Anmerkungen zur Erzählstruktur dieses Romans, mit denen er ihn in das Gesamtwerk von Flaubert von der Erziehung des Herzens bis zu Bouvard und Péchuchet einordnet, die die unvergleichliche Bedeutung dieses Romans so nachhaltig unterstreichen: „Er (i. e. Flaubert, W.) liebte Madame Bovary als sein Geschöpf – und als Verkörperung des eigenen Erzählens.“ (S. 249) Die Geschichte, die in diesem Roman erzählt wird, reicht weit über Yonville hinaus. Es geht um die weitreichende Desillusionierung der Ehe, die beide Ehegatten durchmachen, es geht um ihre Illusionen, Hoffnungen und ihr finale Enttäuschungen.

Flaubert nimmt die Dramaturgie des modernen Kinos voraus, wenn Madame Bovary und ihr Liebhaber auf dem Balkon miteinander turteln und unten die Rede zum Landwirtschaftsfest gehalten wird. Cross-cut, der allerbesten Sorte.

Zu Besuch bei Madame Bovary. Flaubert: “Madame Bovary -das bin ich selbst” (Foto: HB)

Hans Mayer besitzt die Kunst, ein großes Werk der Literaturgeschichte in seiner Zeit und in seiner Wirkung für uns heute zu platzieren (vgl. S. 250 f). Und er zeigt, wie es Flaubert mit seinen sprachlichen Mitteln gelingt „kleine Gefühle mit allzu großem Ausdruck zu kontrastieren“ (S. 253) Da ist es die „Poesie des Wortes“ (S. 254), mit der Mayer die Konstruktion dieses Romans aufdeckt und sie mit seinen Beobachtungen belegt. Sein genauer Blick auf die Dialoge erklärt uns deren Aufbau, Anwendung und Bedeutung in diesem Roman.

Mayers Anmerkungen über Flauberts Roman Bouvard und Pécuchet widersprechen allen, die dieses Werk für misslungen halten. Beide lesen viel, sehr viel und probieren alles aus, und scheitern immer wieder grandios, geben die Hoffnung nicht auf, lesen wieder und scheitern wieder genauso jämmerlich. Bildung hilft nicht weiter? Ja, es geht um „Theorie und Praxis” (S. 260). Mayer nennt die beiden Helden dieses Romans „unzeitgemäß gewordene Aufklärer aus der Zeit eines Voltaire, Diderot und den Enzyklopädisten“ (S. 260), aber so lautet Mayers Schlussfolgerung, der Roman ist „immer noch ein Bildungsroman“ (S. 23). Die Dummheit ist sein großes Thema, das den „Nihilismus und die Absurdität heutiger Romane“ (S. 263) vorwegnimmt.

Heiner Wittmann

Das Museum in der 51 rue Lecat in ROUEN