Zwei Aussenseiter in Ithaka-Dublin

Zum 80. Todestag von James Joyce

Als James Augustine Aloysius Joyce am 13. Januar 1941 kurz nach 2 Uhr morgens im Rotkreuzhospital in Zürich starb, hatte er sich durch den Roman »Ulysses« über den “Welt-Alltag der Epoche” die Unsterblichkeit gesichert.[1] Der Roman erschien in der ersten Auflage 1922 im Verlag der Pariser Buchhandlung „Shakespeare and Company“ von Sylvia Beach am 2. Februar 1922 zum 40. Geburtstag von Joyce. Die Kapitel, die 1918–1920 in der amerikanischen Zeitschrift »The Little Review« vorab gedruckt worden waren, wurden wegen Obzönitäten beschlagnahmt. Insofern ist diese erste Fassung von diesen bereinigt worden und damit keine vollständig Ausgabe.

Cover der Erstausgabe von “Ulysses (Foto gemeinfrei)

Die 1000 gedruckten Exemplare waren schnell vergriffen. Harriett Shaw Weaver,[2] die Joyce seit 1914 unterstützte, finanzierte eine zweite Auflage, die auch in England verbreitet werden sollte. England, Irland, Kanada und Australien hatten das Buch auf den Index gesetzt. Über das Schicksal der zweiten Auflage schreibt Sylvia Beach „Die zweite Auflage wurde, wie die erste in Dijon gedruckt…aber sie trug den Vermerk: »Herausgegeben von John Rodker, Egoist Press«. Zweitausend Exemplare wurden produziert. Man brachte einen Teil per Schiff nach Dover, wo die Exemplare prompt beschlagnahmt wurden und »in des Königs Kamin« verheizt wurden – nach Miss Weavers war das der gebräuchlichste Ausdruck dafür. [..] Auch die in die Vereinigten Staaten geschickten Exemplare gingen zugrunde, wahrscheinlich hat man sie wie so viele junge Katzen im Hafen von New York ertränkt.“[3]

Erst mit einem berühmt gewordenen Urteil vom 6. Dezember 1933 über das anhängige Verfahren „Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen das Buch mit dem Titel ‘Ulysses'” hob ein Richter namens John Woolsey den Bann auf. Irland folgte 1934, England 1936, Kanada erst 1949.[4]

Die erste vollständige und von Joyce autorisierte – durchaus anerkennenswerte – deutsche Übersetzung durch Georg Goyert erschien 1927 im Rhein-Verlag Zürich. Sie erhielt Kritik von Joyce Freunden aber auch viel Zuspruch, so in dem schon zitierten Beitrag von Hermann Broch[5]. 1938 wurde Joyce von dem Bochumer Lehrer und Anglisten Karl Arns im ersten Band seines Index der anglo-jüdischen Literatur (1938) denunziert. Dort schreibt Arns auf Seite 6: „… trotzdem lassen wir eine Liste solcher nicht-jüdischer Autoren folgen, die Juden und jüdische Motive behandeln…“[6]. Dass Joyce keineswegs Jude war, spielte für die Nazis keine Rolle. Die Hauptgestalt des Leopold Bloom im »Ulysses« und der avantgardistische Stil von Joyce reichten aus, die Bücher von Joyce aus den deutschen öffentlichen Bibliotheken zu entfernen.

Von der Schwerverständlichkeit des Werkes ist nicht nur in der Anfangszeit, sondern auch bis in die Gegenwart viel gesprochen worden. Laut Broch war quasi die Zeit einer Generation notwendig, bis man die „Zeitgerechtheit“ des Romans zu erkennen begann. Es geht um einen Quer- und Längsschnitt durch das Jahrhundert am 16. Juni 1904 in Dublin. Der Blick auf 16 Stunden im Leben des jüdisch geborenen und dreimal getauften Durchschnittsbürgers Leopold Bloom, von Beruf Anzeigenakquisiteur, und den korrespondierenden Weg des zweiten Protagonisten, des Jesuitenschülers und Dichtergelehrten Stephan Dädalus, ist ein komplexes historisches, literarisch, wissenschaftliches und sprachlich explodierendes Jahrhundertwerk. Es hat seine Wurzeln in der Odyssee und zahlreichen weiteren literarischen Werken Europas bis in die Gegenwart.

Axel Schmitt hat in seiner Besprechung für die 2004 im Großformat mit umfangreichen Erläuterungen erschienene Sonderausgabe aus dem Suhrkamp Verlag kurz und präzise die einzigartige Stellung dieses Jahrhundertromans definiert:

„Joyce’ “Ulysses” erhält diese Plastizität und Tiefendimension auf dreierlei Weise: 1. durch die von Kapitel zu Kapitel wechselnde Erzähltechnik, die vom objektiven Erzählstil (Er-Form) über die erlebte Rede und den inneren Monolog bis zur Dramatisierung und schließlich zur Auflösung der Szene in Frage-und-Antwort-Spiele reicht; 2. durch eine in der bisherigen Romanliteratur unerreichte Präzision und Rücksichtslosigkeit in der Darstellung feinster, bis in die Zonen des Vor- und Unbewussten reichender psychischer Regungen, Vorstellungen und Wünsche; 3. durch die Verwendung von Homers “Odyssee” als mythisch-poetischer Folie, als Rahmen und Deutungssystem, das die trivial-moderne Szenerie ständig relativiert, parodiert und in Relief setzt.“[7]

Vermutlich ist es vielen Leserinnen und Leser des »Ulysses« wie dem Autor dieser Zeilen ergangen. Man fühlt sich verpflichtet, bemüßigt oder animiert dieses Buch ebenso wie den »Zauberberg», den »Mann ohne Eigenschaften« oder auch »Die Suche nach der verlorenen Zeit« zu lesen und kommt über die ersten 100 Seiten im Anlauf nicht hinaus. Die Vielfalt der Themen, Bezüge, Beschreibungen und Referenzen scheinen dem Lesen im Wege zu stehen. Dabei lassen sich diese Hürden mit der von Dirk Vanderbeke und anderen herausgegebenen sowie kommentierten Sonderausgabe in der Übersetzung von Hans Wollschläger leicht überwinden.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Einführungstext. Einfach und übersichtlich ist in der Marginalspalte und am Fuß jeder Seite der Stellenkommentar untergebracht. Ebenfalls beigefügt sind Stadtpläne von Dublin, ein Personenverzeichnis und eine Strukturübersicht zum Aufbau des Werkes. Wer das Buch nicht hat oder erwerben kann, findet alle strukturellen Hinweise ebenfalls mit einem kurzen Einführungstext für alle 18 Kapitel im Internet.[8]

Stuart Gilbert hat eine klug verfasste Untersuchung zum Verständnis des Buches unter dem Titel »Das Rätsel Ulysses« vorgelegt, die in erster deutscher Auflage 1932 ebenfalls im Rhein-Verlag erschienen ist.[9]

Das englische Original dieses Buches nutzte Hans Mayer als er den Abschnitt über »Leopold Bloom als Odysseus« für seine »Aussenseiter« schrieb. Begonnen hatte die Arbeit an seinem wohl berühmtesten Buch im zwanzigsten Stock eines Hochhauses am Lake Michigan. „Fünf Jahre planvoller Arbeit an dem neuen Buch sind weitgehend Leben gewesen unter den Amerikanern: mit dem Truthahn-Dinner am Tag des einstmals biblischen Erntedankes; […] Der Außenseiter in der Menge. Das war ein quälendes Phänomen des 19. Jahrhunderts: als sich die bürgerliche Gesellschaft zur Kenntlichkeit entwickelte. Bei Baudelaire und E.A. Poe geht es um die gleiche  fixe Idee. Die hilflose Einsamkeit in einer Welt der Anderen.“[10]

In Gilberts Buch fand Mayer den Hinweis, den Joyce diesem über ein Buch des französischen Altphilologen Victor Bérard zur »Odyssee« gegeben hatte. Aufgrund seiner Recherchen hatte er sie als „ein ursprünglich phönizisches, also semitisches Logbuch interpretiert.“ [11] Die bekannten Hinweise auf Ahasvers ewige Wanderschaft in Bezug auf Blooms Gang und Ulysses Wanderung reichen Mayer deshalb nicht aus: „Man wird folglich davon ausgehen müssen, daß Joyce die odysseischen Abenteuer, sowohl bei Homer wie hier in der irischen Hauptstadt und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als jüdische Erleidnisse versteht.“[12] Die Struktur des »Ulysses« interpretiert Mayer so als erst getrennte und dann gemeinsame Tagesreise des semitischen Odysseus und seines griechisch-irischen Homer. Beide sind Außenseiter. „Stephan ist Ire und Katholik, doch bricht er aus der Gemeinschaft aus, seine Bücher und poetischen Visionen entfremden ihn der Umwelt. In Trunk und Blasphemie sucht er die Gemeinschaft abzuschütteln. … Leopold Bloom…kommt in seinen inneren Monologen von diesem Jüdischsein nicht los.“[13]

Das Kapitel in dem dies am deutlichsten ausgeführt wird, ist das 12. Kapitel „Kyklop“, in dem, bezogen auf den einäugigen Riesen in der Odyssee, Bloom den als »Bürger« bezeichneten Nationalisten und Antisemiten mit dessen Saufkumpanen trifft. Während des ganzen, zum Teil heftigen Gespräches, schwankt Bloom zwischen dem was er sein will – ein echter Ire – und dem was er als Aussenseiter ist. Im 16. und 17. Kapitel erzählen Bloom und Dädalus woher sie kommen und wer sie sind. Wahrhaftigkeit, Identität und Herkunft sind wesentliche Themen. Doch auch der Versuch der Schreib-Technik im 17. Kapitel „Ithaka“, von Joyce als „Katechismus“ bezeichnet, führt trotz der „scheinbar objektiven und äußerlich exakten Darstellung“[14] nicht zur Klarheit, da Gedanken und Gefühle handlungsbestimmend und interpretierend sind. So kommt Mayer zu der Einsicht: „Bloom und Stephen bleiben draußen. Sie verkörpern die Gleichzeitigkeit der Ausfahrt mit der Heimkehr. Aber die Ausfahrt des Stephen Dädalus führt, im >Ulysses< nicht weg von Dublin. Und die Heimkehr Blooms zu seiner träumenden Penelope ist auch keine.“[15]

Was Blooms Penelope, mit bürgerlichem Namen Molly Bloom, in ihrem inneren Monolog über 78 Seiten in 8 Sätzen über ihre Herkunft, ihr Leben mit Bloom und die erotischen Erfahrungen mit anderen Männern ausführt, sei der individuellen Lektüre überlassen. Sie lohnt sich, genauso, wie das Lesen dieses Jahrhundertwerks immer noch ein literarischer Genuss ist.

Heinrich Bleicher

[1] Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart, in: Hermann Broch der Denker, Zürich 1966, S. 74-106. Den zugrunde liegenden Vortrag hatte Broch am 22.4. 1932 in der Volkshochschule in Wien gehalten.
[2] Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Harriet_Shaw_Weaver (Zugriff am 12.1.2021) Harriet Shaw Weaver war eine Frauenrechtlerin und Journalistin sowie Herausgeberin. Als linke Aktivistin trat sie erst der Labour Party und dann der Communist Party bei.
[3] Sylvia Beach, Treffpunkt – ein Buchladen in Paris, München 1963, S.129
[4] Wolfgang Wicht, Ein Jahrhundert.-. Roman: Ulysses von James Joyce, zitiert nach https://www.via-regia.org/bibliothek/pdf/heft70_71/wicht_ein_jahrhundert_roman.pdf.
[5] Siehe Fn 1
[6] Zitiert nach dem Wikipedia-Eintrag über Goyert. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Goyert#cite_note-2. (Zugriff 12.1.2021)
[7] Axel Schmitt, Ulyssism, James Joyce und der “Welt-Alltag einer Epoche” am 16. Juni 1904, in: literturkritik.de https://literaturkritik.de/id/7166. (Zugriff am 10.1.2021)
[8] Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Ulysses
[9] Inzwischen gibt es eine Taschenbuchausgabe davon im Suhrkamp-Verlag. Ebenso hilfreich ist auch das Buch von dem Joyce-Biographen Richard Ellmann, Odysseus in Dublin, Frankfurt 1978
[10] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II, Frankfurt 1984, S. 388-393
[11] Hans Mayer, Aussenseiter, Frankfurt 1975, S. 407
[12] Hans Mayer, ebenda
[13] A.a.O. S. 408f
[14] James Joyce, Ulysses, Frankfurt 2004, S. 896
[15] Hans Mayer, a.a.O. S. 412f