Benjamins letzte Grenze

10 Minuten geht er den immer steiler werdenden Weg voran. Mit festem, kontinuierlichen Schritt. Dann eine Minute Pause. Luft und Kräfte sammeln. Die nächsten 10 Minuten und so fort. Im Weinberg wird der Anstieg zu steil. Er wird es nicht schaffen. Doch die Weggefährten stützen ihn von beiden Seiten. Ziehen ihn mit hinauf. Die schwarze Aktentasche mit dem Manuskript wird schwer und schwerer. Das Manuskript muss gerettet werden. Das ist entscheidend. „Es ist“, so sagt er zu Lisa Fittko, seiner Fluchthelferin, „wichtiger als meine eigene Person.“[1]

Der Blick auf Portbou    (Foto: HB)

Mit Hilfe von Lisa Fittko, dem 16jährigen Joseph und seiner Mutter Henny Gurland schafft es der 48jährige Herzkranke bis auf das 500 Meter hohe Felsplateau. Vom Pass aus sieht man beides: Das zurückgelassene Frankreich mit ihrem Ausgangspunkt Banyuls-sur-Mer und das nordostspanische Portbou mit der Grenzstation.

Der Weg dorthin hatte vom Ausgangsort fast zehn Stunden gedauert. Für Benjamin sieben, da er die Nacht bereits auf einer Lichtung der Fluchtroute – „la route Lister“ – verbracht hatte. Man war ein Drittel des Weges bereits aus Erkundungsgründen am Vortag gegangen. Benjamin hatte sich geweigert mit den anderen wieder zurück nach Banyuls-sur-Mer zu gehen, weil er seine Kräfte schonen musste. Der schwierigste Teil des Weges war bis zum Plateau geschafft. Ein holpriger Weg führte hinab nach Portbou. Lisa Fittko musste sich von ihren Schützlingen trennen, da sie selbst sich ohne gültige Papiere in Spanien nicht aufhalten durfte.

An der rettenden Grenze zu Spanien war jedoch die Passage für Benjamin und die beiden Gurlands zu Ende. Ihnen und weiteren Flüchtlingen wie Grete Freund und Carina Biermann fehlte das inzwischen erforderliche französische Ausreisevisum.[2] Sie wurden von der Polizei im Hotel »Fonda de Francia« für die Nacht einquartiert und sollten am nächsten Tag zurück ins Innere Frankreichs gebracht und möglicherweise der Gestapo übergeben werden.

Das Hotel “Fonda de Francia”             (Foto: HB)

Benjamin ist vom Unglück verfolgt, das schon dem Kind in Gestalt des »bucklicht Männlein« das praktische Leben oft erschwert hatte.[3] In der »Berliner Kindheit um Neunzehnhundert« hat er ihm die abschließende Geschichte zugewiesen. „Das Männlein kam mir überall zuvor. Zuvorkommend stellte sich´s in den Weg.“ Es heißt: „Wen dieses Männlein ansieht, gibt nicht acht.“ In einer Bemerkung der Mutter lautete das »Ungeschickt läßt grüßen.«[4] Mit dem Kapitel „Der Bucklige“ leitet Hannah Arendt ihren Benjamin-Essay ein. Zum Ende kommt sie auf die Visasperre, die Benjamins Passieren der französisch-spanischen Grenze verhindert hat. „Einen Tag früher wäre er anstandslos durchgekommen, einen Tag später hätte man in Marseille gewußt, dass man zur Zeit nicht durch Spanien kommen konnte. Nur an diesem Tag war die Katastrophe möglich.“[5]

Grabkammern auf dem Friedhof von Portbou  (Foto: HB)

Die Lage erschien für Benjamin absolut aussichtlos. Der Gestapo, die einen Sitz im Ort hat, will er nicht in die Hände fallen. Konsequent hat er auch für eine solche Situation vorgesorgt. In der Nacht vom 25. auf den 26 September 1940 nimmt er eine Überdosis Morphium. Der herbeigerufene Arzt stellt Gehirnblutungen als Todesursache fest. Vermutlich hat Henny Gurland, die bei ihm war, den Arzt den Umständen entsprechend informiert. Nur keine zusätzlichen Schwierigkeiten. Ein katholischer Priester gibt Benjamin die letzte Ölung. Henny Gurland sorgt für das Begräbnis. Eine Gruft für fünf Jahre wird bezahlt. Auf dem Friedhof von Portbou wird er als Benjamin Walter bestattet. Die Eintragungen im Totenbuch der Gemeinde und die Aufbewahrung des persönlichen Eigentums von Benjamin werden richterlich veranlasst und aktenmäßig festgehalten.[6]  Am 28. September 1940 wird Herr Benjamin Walter auf dem katholischen Friedhof von Portbou begraben. Das Grab erhält allerdings keine namentliche Bezeichnung. Hannah Arendt, die den Friedhof noch im Oktober besucht hat, kann es deshalb nicht finden.

Als er starb war Benjamin trotz Fittkos Bezeichnung noch kein „alter Mann“. Geboren am 15. Juli 1892 in Berlin war der schwer herzkranke Mann gerade 48 Jahre. Sein größtes Opus, das »Passagen-Werk«, blieb unvollendet. Auch wenn man nicht weiß, welches Manuskript sich in der schwarzen Aktentasche befand, gelang es seinen Freundinnen und Freunden doch über die Jahre eine umfangreiche Sammlung seiner Werke und Briefe zu veröffentlichen. Der 1940 in Portbou unbekannte „Dr. Benjamin Walter“ gilt heute zu Recht als einer der weltweit berühmtesten Philosophen und Kulturkritiker des 20. Jahrhunderts.

Am 25. September 1940 hatte Walter Benjamin eine Postkarte aus Portbou an das »Sekretariat des Instituts für Sozialforschung« in Genf geschickt. Juliane Faves informierte von dort Hans Mayer, um mit ihm zu beraten, was man zur Rettung Benjamins tun könne.[7] Wie man dann Anfang Oktober erfuhr, war Benjamin aber inzwischen gestorben. Hans Mayer veröffentlichte in der schweizerischen Zeitschrift »Die Tat« einen Nachruf auf Walter Benjamin. Adorno im »Aufbau« in New York. Brecht schrieb zwei Gedichte für den toten Freund. In dem »Zum Freitod des Flüchtlings W.B.« heißt es: „Ich höre, daß du die Hand gegen dich erhoben hast / Dem Schlächter zuvorkommend. / Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend / Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben / Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.“

Die “Passage” zum Meer (Foto: HB)

Es war mitnichten das „Bucklichte Männlein“, das Walter Benjamin in den Tod getrieben hat. Das waren das faschistische Deutschland, das Frankreich Petains und das faschistische Spanien Francos. Es gab auch keine Chance für so viele bekannte und unbekannte andere Emigrantinnen und Emigranten. In Banyuls-sur-Mer beginnt der 16 Kilometer lange »Walter-Benjamin-Weg« der am Friedhof von Portbou endet. Dort hat der jüdische Künstler Dani Karavan ein beeindruckendes Denkmal geschaffen. Es ist eine Hommage an Walter Benjamin aber auch an alle anderen vom Faschismus Verfolgten. Eine »Passage«, die vom Friedhof hinab zum Meer führt, endet an einer Glaswand. Darauf steht: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren, als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.«

> Für Walter Benjamin – Erinnern und Eingedenken.
Eine Veranstaltung der Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG)
3. Oktober 2020 um 18:30 Uhr
Im „Brunosaal“ Klettenberggürtel 65 in Köln

[1] Zitiert nach den Aussagen von Lisa Fittko, in ihrem Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“, München Wien 1985, S. 133. Die Informationen über den Fluchtweg entstammen dem Kapitel „Der alte Benjamin“ in diesem Buch.
[2] Zu dem Sachverhalt im Einzelnen siehe Carina Birmann, Müde der Verfolgung, in: Begegnungen mit Benjamin, herausgegeben von Erdmut Wizisla, Leipzig 2015, S. 357-368. Carina Birmann war Rechtsanwältin und zwischen 1926 und 1938 Botschaftsrätin für Rechtsfragen in der Österreichischen Botschaft in Paris. Ebenso Grete Freund, Brief an eine unbekannte Person, in: Begegnungen mit Benjamin, S. 348-350.
[3] Siehe Hannah Arendt, Der Bucklige, in Arendt und Benjamin – Texte, Brief, Dokumente, herausgegeben von Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main 2006, S. 47ff
[4] Walter Benjamin, Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Fassung letzter Hand, Berlin 2017, S.77 und 76
[5] Hannah Arendt, a.a.O., S. 65
[6] Die inzwischen genauer bekannten Umstände des Todes und der Beerdigung sind detailliert dargestellt in dem Buch „Für Walter Benjamin“ herausgegeben von Ingrid und Konrad Scheuermann, Frankfurt am Main 1992. Dort wird auch der 27. September als Todestag in Erwägung gezogen.
[7] Siehe Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt 1982, S. 259