WEISSGERÄUSCHE in Wuppertal

Erinnerungen an Paul Celan zu seinem 50. Todestag

Zu seinem 60. Geburtstag im März 1967 erhielt Hans Mayer eine von Walter Jens und Fritz Raddatz herausgegebene Festschrift.[1] In ihr enthalten war auch als Erstdruck ein Gedicht von Paul Celan. Es begann mit den Worten

„WEISSGERÄUSCHE, gebündelt,
Strahlen-
gänge
über den Tisch
mit der Flaschenpost hin.“[2]

Hans Mayer verstand das Gedicht als Erinnerung an die erste gemeinsame Begegnung in Wuppertal im Oktober 1957. Es war auf einer Tagung zu dem Thema »Literaturkritik – kritisch betrachtet«, auf der er nicht nur Celan und Ingeborg Bachmann sondern auch Hans Magnus Enzensberger und Walter Jens kennenlernte; Heinrich Böll kannte er schon von einer früheren Begegnung. Er interpretierte es, bezogen insbesondere auf den letzten Vers, als „ein Gedicht wo zwei Juden einander erkennen an den – im geistigen Sinne – Verschlüssen der Gebetsriemen, an den Gelenken.“[3] Die zitierten Anfangszeilen blieben ihm aber verschlossen. Bei einem späteren Treffen in Paris fragte er Celan und der antwortete: „Aber wir haben damals doch in Wuppertal über das Gedicht als Flaschenpost gesprochen. Sie haben da die These von Adorno ʹKann ein Gedicht eine Flaschenpost sein?ʹ diskutiert. Die ʹWeißgeräuscheʹ sind die Papiere, die dort auf dem Tisch hin und her gingen.“[4] Im weiteren Verlauf des Interviews erläutert Mayer dann, dass Celan unter gar keinen Umständen ein „hermetischer“ oder „monologischer“ Dichter sei.

Ausführlich macht Mayer dies in seiner »Erinnerung an Paul Celan«[5] an mehreren Gedichten deutlich. Zur Zeit Mayers als Hochschullehrer in Hannover kam Celan dorthin zu einer Lesung aber auch zur Arbeit mit Studenten bei der Interpretation seiner Gedichte. In seinen Texten suchte er auch immer die Anrede mit Formulierungen wie „hörst du“ oder „weißt du“. Mayer stellt fest: „Celan liebte Genauigkeit.“

Das herausragendste Beispiel dafür ist Celans Büchnerpreis-Rede von 1960.[6] Sie ist nicht leicht zu lesen, aber im Vergleich mit anderen Preisträger-Reden eine der präzisesten Darlegungen über Büchners Verständnis von Kunst sowie über Celans Theorie von Kunst und Dichtung. Den inhaltlichen Anstoß dazu hatte Mayer für Celan im Frühjahr 1960 gegeben, als er vor französischen Germanisten der »École Normale Supérieure« ein Büchner-Seminar gehalten hatte.[7] Zu dem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, einer der Teilnehmer, Paul Celan, den Büchnerpreis bekommen sollte. In seinem Artikel »Paul Celans Büchnerpreis-Rede« macht Mayer wunderbar einleuchtend den Ablauf, Inhalt und Bezug zu Büchners ästhetischer Auffassung deutlich. Darüber hinaus erklärt Mayer überzeugend, dass Celans Rede eine explizite Gegenposition zu der des ersten Büchnerpreis-Trägers Gottfried Benn ist, dessen Namen in der Rede aber überhaupt nicht erwähnt wird. „Wer Celans Ablehnung alles Redens von »monologischer Lyrik« kennt, mitsamt der Marburger Rede Gottfried Benns über Probleme der Lyrik wird die obstinate Wiederholung der Anrede [der Zuhörerinnen und Zuhörer Celans] als folgerichtig empfinden bei einem Lyriker, der auch im Gedicht stets das Du sucht, das Gespräch: Adressaten und Partner.“[8]

Zum letzten Mal hat Mayer Celan bei der Hölderlin-Tagung am 22. März 1970 in Stuttgart gesprochen. Warum der Dichter bald darauf ins Wasser ging, weiß Mayer nicht. Er zitiert aus dem Nachruf des ehemaligen Feuilletonchefs der »Neuen Züricher Zeitung« Werner Webers, zu Celan: »Jetzt hat er das Leben verlassen. Sein Weggehen hat Entsprechungen in seinen Gedichten, wo das Umgangsreden abschwinden mußte, damit die Sprache buchstäblich >zu Wort< kommen kann. Zum letzten Wort an der Grenze des Verstummens.«[9]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift herausgegeben von Walter Jens und Fritz Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1967
[2] Ebenda, S.105
[3] Hans Mayer Interview zu Paul Celan im Gespräch mit Jürgen Wertheimer am 11. März 1997 in: arcadia / Volume 32 (1997) Heft 1 S. 298-300
[4] Ebenda S.298
[5] Dieser Aufsatz findet sich im Band II der Erinnerungen von Hans Mayer (S. 312-328) und textgleich in HM, Zeitgenossen, Frankfurt am Main 1998, S. 122-141
[6] https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/paul-celan/dankrede
[7] HM, Paul Celans Büchnerpreis-Rede 1960. »Der Meridian«, in: HM, Zeitgenossen S.142-157
[8] A.a.O., S. 144
[9] HM, Erinnerungen II, S. 327