„Dem Proustianer, der ich geworden war…“*

Mit Hans Mayer zum 150. Geburtstag von Marcel Proust

„Marcel Proust, zwischen dem Faubourg Saint-Germain und der Unterwelt, der alles durchschaut, auch sich selbst, indem er Charlus agieren läßt und Bloch.”[1] Mit diesen Worten hat Hans Mayer in Aussenseiter den Roman La Recherche du temps perdu / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem Satz zusammengefasst, der ganz und bewusst subjektiv seinen Blick auf Prousts Hauptwerk enthält. Darum geht es: Die Beschreibung der mondänen Feste in den Salons des Faubourg Saint-Germain und die Entwicklung der Personen, die die Salonkultur bestimmen, so wie die gleiche mondäne Gesellschaft auch die Entwicklung der Personen bestimmt, die Proust in der Recherche en détail nachzeichnet auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Mayer nennt in seinem Satz nur zwei Personen den Baron Charlus, dessen Homosexualität in „Sodom und Gomorrha“ aufgedeckt wird und Prousts Jugendfreund Albert Bloch, der nach einem seiner ersten Auftritte in einem Salon, dort (erstmal) nicht wiedergesehen werden will. Später, mehr oder weniger geläutert, erscheint Bloch als Dichter wieder und seine Gespräche mit Charlus schärfen ihre Charaktere.

Ende 1934 entdeckt Hans Mayer Proust: „Jetzt kaufte ich mir alle broschierten Bände mit dem scheinbar so manierierten Titel >A la Recherche du Temps perdu< und brauchte nun wochenlang kaum noch Gesellschaft, schon gar nicht Zuspruch, nur wenig Essen, was vorteilhaft war. Ich hatte Swann und Odette, die monströse Verdurin und den nicht minder monströsen Charlus, Kathedralen und Sonaten und blühende Bäume. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt.“[2]

Marcel Proust, A la recherche du temps perdu 1987-1989.

Hans Mayer hat nur in den Aussenseitern der Recherche eine längere Passage gewidmet, aber Marcel Proust ist in seinem Gesamtwerk stets präsent, die Recherche gehörte zu seinem literarischen Grundgerüst. Immer wieder erinnert er an seine Proust-Lektüre, oft auch um erklärende Parallelen zu anderen Schriftstellern herzustellen: Als das Stück Sodome et Gomorrhe von Jean Giraudoux 1943 im besetzten Paris aufgeführt wird, erinnert Mayer an den gleichnamigen Roman von Proust, in dem beim Weltuntergang Sodom und Gomorrha im Gegensatz zu Giraudoux die Bedeutung als „bloßes Synonym für Teilaspekte der Welt: sie sind die Welt schlechthin, und die muß untergehen“[3] hat. Oder  wie Richard Lindner um 1950 als Maler von Proust den „inneren Zusammenhang alles existentiellen Außenseitertums“[4] erlebt. Und die Recherche erinnert Mayer auch an grundlegende Fragen der Ästhetik: in La Prisonnière plaudert Baron de Charlus über die Doppelmoral mit dem Sorbonneprofessor Brichot, der genau weiß, wer früher „auch so“ gewesen sei. Brichot versichert seinem Gesprächspartner: »Bei uns ist das nicht mehr wie bei den Griechen.«[5] „Chalus wird böse“, bemerkt Mayer und höhne später gegen die Päderasten und Proust macht aus Albert eine Albertine.[6] Später notiert Mayer den Gegensatz zwischen Oscar Wilde und Proust, der keinen homosexuellen Roman verfasst habe, denn es gehe nur um die Erinnerung, in der „sexuelle Vollziehung nur als vergangene“ geschildert wird.[7]

Im längsten Absatz von Hans Mayer über Marcel Proust, wieder in den Aussenseitern geht es, wie eingangs bereits angedeutet, u. a. um den Baron Charlus und Albert Bloch, sind doch ihre Gespräche so emblematisch für die ganze Recherche: Es geht um das Wiedersehen nach einigen Jahren: „Bloch war im Sprung eingetreten, wie eine Hyäne.“[8] Ein Wiedersehen nach zwanzig Jahren, eine Gelegenheit, jetzt über seinen künstlerischen und offenbar auch gesellschaftlichen Aufstieg zu sprechen, über den der Erzähler nachdenkt, zumal Blochs Start in diesem „Roman-fleuve“ einer mit Hindernissen war. Natürlich interessiert sich Mayer für Bloch, weil dieser so viel und auch irgendwie schön über die Literatur erzählt, und Mayer ist wohl auch ein wenig enttäuscht: „in einem Tonfall, der einerseits an den Polizeibericht gemahnt…“ In Bezug auf de Musset sagt das „Vernehmungsprotokoll“ „Hochstapler“: Alles ist gewollt und stilisiert,“ notiert Mayer: „Die vollkommene Konvention der Unkonvention.“ Und dann Blochs Manieren: Nochmal „Perfekte Konvention der Unkonvention“, mit Blochs wunderbarer Entschuldigung, als er sich zum Mittagessen um eineinhalb Stunden verspätet: „Ich lasse mich niemals durch den Trubel der Atmosphäre oder die herkömmlichen Zeiteinteilungen beeindrucken. Gern würde ich die Opiumpfeife oder den malaiischen Kris wieder zu Ehren bringen, aber ich ignoriere die viel gefährlicheren, und übrigens platt bourgeoisen Instrumente: die Uhr und den Regenschirm.“ (S. 403). Bloch der perfekte Außenseiter, den man nicht wiedersehen will. Was Charlus betrifft: „Übrigens ist Charlus‘ Argumentation zugunsten von Dreyfus schlimmer als die nackte antisemitische Negation,“ (S. 403) erklärt Mayer, Charlus meint der Landesverrat von Dreyfus richte sich höchstens gegen „Judaea“. Unmittelbar fechten er und Bloch ihre Unterschiede nicht aus, aber Mayer erkennt deren besondere Stellung ihrer Konfrontation im Roman: „In der Gesamtkomposition des großen Romans aber ist die als wichtiges Bauelement verarbeitet.“ (ebenda) Präzise gibt Mayer die Entwicklung der beiden Figuren wieder: „Im Maße wie Bloch in die Gesellschaft der aristokratischen Salons hineinwächst, wird Charlus unaufhaltsam von ihr ausgeschieden.“ (S. 405)

Im zweiten Band von Ein Deutscher auf Widerruf erinnert Hans Mayer an eine der berühmtesten Stellen in der Recherche: Der Erzähler tunkt seine »Madeleine« in seinen Tee und nimmt sogleich – seiner unwillkürlichen Erinnerung folgend – alle Düfte des Gartens war, die aus der Tasse aufsteigen. So beginne seine Suche nach der verlorenen Zeit, notiert Mayer: „Den zeremoniell servierten Kräutertee in Frankreich konnte ich niemals ausstehen.“[9] Und im Gespräch über Paul Celan erinnert sich Mayer unwillkürlich an Proust: „Wer sich erinnert, hat damit zugleich die Möglichkeit, sich nicht zu erinnern. Wer plötzlich, wie bei Proust nachzulesen, eine Kindheitserinnerung an die Großmutter wiederfindet, oder jäh die kleine musikalische Wendung aus einer Sonate von Vinteuil erinnert, hat lange im Zustand eines intermittierenden Vergessens gelebt. Nun ist das Damalige ins Bewusstsein zurückgekehrt.[10]

Die immer wiederkehrende Begegnung mit Proust unter verschiedenen Vorzeichen im Werk von Hans Mayer verführt zum Lesen oder Wiederlesen der Recherche du temps perdu.

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Paris geboren. Er war Schüler im Lycée Condorcet und hat an der École des Sciences Politiques studiert und an der Sorbonne Vorlesungen von Henri Bergson gehört. 1888 begann er in literarischen Zeitschriften zu publizieren, die er mit Freunden gegründet hatte, wie die Revue lila oder die Le Banquet. Ab 1893 schrieb er auch für die Revue blanche, wo auch Mallarmé und Gide ihre Texte veröffentlichten. Die Welt der Salons des Faubourg Saint-Germain wird ihm sehr vertraut, indem er Berichte über ihre Feste schreibt, erste Vorübungen zu den langen Kapiteln über die Soirée in der Recherche. 1896 erscheint Les plaisirs et les jours (dt. Tage der Freuden 1926) mit einer Sammlung von Aufsätzen und Rezensionen. Danach begann er einen Roman, Jean Santeuil, den er aber unvollendet ließ, der erst 1952 (dt. 1965) aus seinem Nachlass erschien. 1899 übersetzt er John Ruskin Sesame and the Lilies. Contre Sainte-Beuve (dt. Gegen Sainte-Beuve, 1954) entsteht 1908-1910. Um 1908 begann Proust mit der Imitation großer Schriftsteller und erzählte in Pastiches et mélanges, 1919 (dt. Pastiches; 1969) die Diamanten-Affäre Lemoine aus der stilistischen Sicht von Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, sogar aus der Feder von Sainte-Beuve, der den Roman von Flaubert über diese Affäre rezensiert, Michelet, Émile Faguet oder Saint-Simon und schärft mit diesen Übungen sein stilistisches Können. 1909 begann er mit den ersten Arbeiten für seinen Romanzyklus A la recherche du temps perdu (15 Bände, 1913-1927) (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1953-1957). Der Start war schwierig, die ersten drei Verlage, denen er das Manuskript schickt, lehnten es ab. Dann erschien 1913 der erste Band bei Grasset, wofür Proust alle Kosten übernahm. Die begeisterten Kritiken gaben ihm Recht. 1916 übernahm die Nouvelle Revue française alle Rechte und veröffentlichte 1919 A l’ombre des jeunes filles en Fleur (dt. Im Schatten junger Mädchenblüte). Für diesen Band erhielt er im gleichen Jahr den »Prix Goncourt«.

Die Recherche ist ein großartiger Romanzyklus, der das mondäne Leben im Faubourg Sait-Germain und u.a. die Urlaubsfreuden in Balbec an der Küste vorstellt. Es geht um Liebe und viel Eifersucht, es geht um die Imagination, überhaupt darum wie Literatur Ideen transportiert, wie Erinnerung entsteht, was die Vergangenheit für uns bedeutet, wie sich im Kopf der Leser, in unseren Köpfen die Realität zusammensetzt. Kunst und Technik (Telefon, Auto, Eisenbahn), menschliche Beziehungen in allen ihren Formen, die Empfindlichkeiten jeder Art, wie das ästhetische Gefühl entsteht, wie Literatur wirken kann, wie eine Gesellschaft sich über Jahrzehnte hinweg verändern kann, das sind die großen Themen der Recherche. Es ist ein Kompendium der (Literatur-) Ästhetik, in dem der Autor uns immer wieder von Neuem grundlegende Einsichten präsentiert.

Die vier Pléiade-Bände der Recherche du temps perdu (1987-1989) enthalten jeder jeweils auf seinen letzten Seiten auf mehreren Seiten ein Résumé des jeweiligen Bandes.

Marcel Proust ist am 18.11.1922 in Paris gestorben.

Heiner Wittmann

* Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. I, Frankfurt 21985, S. 234.

[1] Mayer, Aussenseiter, Frankfurt 1975, S. 379.
[2] Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. I, Frankfurt 21985, S. 189.
[3] Mayer, Aussenseiter, S. 137.
[4] Mayer, Aussenseiter, S. 162.
[5] Mayer, Aussenseiter, S. 177.
[6] Vgl. Mayer, Aussenseiter, S. 182.
[7] Vgl. Mayer, Aussenseiter, S. 266.
[8] Vgl. Mayer, Aussenseiter, S. 401 und im Folgenden, S. 401-406.
[9]  Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. II, Frankfurt 1984, S.267.
[10]  Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. II, S.321f .