“Die unerschrockensten Gedanken”

Zum 20. Todestag von Hans Mayer

Am Montag, dem 28. Mai 2001, 9 Tage nach seinem Tod in Tübingen, ist Hans Mayer auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt worden. Eine große Trauergemeinde, mit zahlreichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern sowie Prominenz aus den Bereichen Musik und Theater sowie Wissenschaft und Verlagen bis hin zum Bundespräsidenten Rau, war versammelt. Unter ihnen auch seine Schülerinnen und Schüler sowie Freunde und Freundinnen wie Inge und Walter Jens, Christa Wolf, Christoph Hein und Volker Braun. Letzterer hat für das im Februar erschienene Buch mit Gesprächen über Hans Mayer[1] den nachfolgenden Beitrag beigesteuert:

In den Ruinen des Jahrhunderts sieht Hans Mayer, der Hundertjährige, eine Wegwerfgesellschaft“, schrieb ich 1998, überzeugt, daß er das Alter erreiche – sein Selbstgefühl gab ihm unerhörte Spannkraft, und daß er sein Zeitalter wie kein anderer auffaßte. Schon im Leipziger Hörsaal 40 waren wir generös bedient worden, und noch der Greis äußerte die unerschrockensten Gedanken: die bürgerliche Gesellschaft verschwindet, der Kapitalismus bleibt. Kulturschöpfung und Kulturzerstörung; das Selbstgefühl, „so eine Lebenstatsache in mir“, ließ ihn nicht irre werden an der geschichtlichen Handlungsfähigkeit, und ich hörte ihn Karl Kraus zitieren:

                    Immer noch meint Ihr, es gehe um Meinungen,
                    aber der Widerspruch ist in der Welt.

Ein Großer seines Metiers wird uns deutlich in seinen charakteristischen Stücken: der Versuch über den Erfolg Goethes, vielmehr dessen Mißerfolge, und Die plebejische Tradition Brechts gehören unbedingt dazu. Ich habe ihn im Witz schwelgen und in jähem Zorn gesehn, oder eins nach dem andern, in der Gasse des Frankfurter Theaters, bei der Brecht-Ehrung zu lange mit seiner freien Rede wartend, in der Akademie der Künste, als dem hundertjährigen Jünger gehudelt wurde, im Hotel Excelsior in Köln, als wir am 18. 3. 1990 das Wahlergebnis erfuhren. Der Verletzliche, rohe Verhältnisse fliehend, der Deutsche auf Widerruf, hatte eine größte Tugend: Gerechtigkeit, Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik. Und wer (die Lumpen wagen es alle nicht), durfte in sein Buch über die Deutschen schreiben: Im Herzen kündet es laut sich an: Zu was Besserm sind wir geboren. – Als ich nach seiner Beerdigung die Chausseestraße überquere, fragt ein altes schlumpiges Weib: Wat for eine Arroganz is nu wieder gestorben? – Nein, leugne, ich – Diepgen etwa? – Nein, meine Dame, ein Herr.”

Grab Hans Mayers (Foto: HB)

Nach der Geburt in Köln 1907 und der Studienzeit, Jahren des Exils in Frankreich und der Schweiz, seinen Professuren in Leipzig und Hannover und dem langen Lebensabend in Tübingen hat er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chauseestrasse in Berlin neben dem Brecht-Haus seinen letzten Ort gefunden. In der Nähe seines Grabes befinden sich u.a. die Ruhestätten von Bertolt Brecht, Heinrich Mann, Anna Seghers und Georg Wilhelm Friedrich Hegel aber auch zahlreicher Schriftstellerkolleginnen und Kollegen, die er in seinem langen Leben persönlich gekannt hat.

[1] Der unbequeme Aufklärer – Gespräche über Hans Mayer, Herausgegeben mit einer Einleitung von Heinrich Bleicher, Mössingen-Talheim 2022. Weitere Informationen zu diesem Buch aus dem Talheimer-Verlag finden sich hier: https://tinyurl.com/2p8x37ph