»Hell aus dem dunklen Vergangnen …«

Arbeiterbewegung und 1. Mai

„In Deutschland nahmen die Arbeitslosigkeit und die Streiks dramatisch zu, es häuften sich die Straßenkrawalle. Knapp zwei Monate vor Nexös Geburtstag hatte Berlins SPD-Polizeipräsident Karl Zörgiebel die Maidemonstrationen untersagt. Als sich die Kommunisten über das Verbot hinwegsetzten, ließ Zörgiebel auf die demonstrierenden Arbeiter schießen. 31 Tote, auch zufällige Passanten, Hunderte Verletzte und Verhaftete waren die traurige Bilanz. Bald nach dem Geburtstag entschloß sich Nexö, seinen Wohnsitz am Bodensee aufzugeben und nach Dänemark zurückzukehren.“[1] Dort hatte man den 60. Geburtstag des „verlorenen Sohnes“ und ehemaligen Sozialdemokraten von Seiten der regierenden dänischen Sozialdemokratischen Partei mit großem Aufwand gefeiert. Auch aus Rußland trafen Glückwünsche ein und Alexandra Kollontai, die sich gerade in Oslo aufhielt, meldete sich ebenfalls. Im September 1931 reiste Nexö auf Einladung des Staatsverlages für Belletristik nach Moskau.

Bereits im Juni 1912 hatte Lenin die »Prawda« aufgefordert, den Roman „der aus der Feder des bekannten dänischen Schriftstellers Nexö, den die ernste sozialistische Presse den skandinavischen Gorki nennt“ zu veröffentlichen. Beim Besuch in Leningrad wandelte man den Vergleich Lenins um und behauptete, die Stärke und Bedeutung des Romans »Pelle«[2] verdanke der Autor „einzig und allein dem Einfluß Gorkis, der den proletarischen Entwicklungsroman geschaffen habe.“[3] Diese Behauptung erbitterte den Dänen ebenso wie die, er habe im wesentlichen Werke der Autobiographie geschrieben.

In seinem Essay »Martin Andersen Nexö, Pelle der Eroberer«[4] stellt Hans Mayer fest: „Anderson Nexö hatte Recht. Nur eine Betrachtung, die sich mit der bloßen Romanfabel, der Stoffwelt in einem engen Sinn, zu begnügen pflegt, konnte den Dänen … zum »Schüler« Gorkis machen. … Nur scheinbare Übereinstimmung der Themen bei beiden: die Entwicklung der dänischen und der russischen Arbeiterbewegung um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. … Streiks und Aussperrungen, kraftlose Ohnmacht von Erniedrigten und Beleidigten, dann aber Genossenschaft, Organisation, siegreiche Vereinigung. “[5]

Umfassend, über Jahrzehnte und detailliert erzählt Nexö das Werden der Arbeiterbewegung mit Niederlagen und Siegen, dem Leiden und Kämpfen. Prägend und eindringlich werden auch beispielhafte Handlungen, Charaktere und identifikationsstiftende Artefakte wie die traditionsreiche „Rote Fahne“ geschildert. „Die Jungen standen schweigend da und starrten die Fahne an, die soviel mitgemacht hatte und gleichsam das heiße rote Blut der Bewegung war. Vor Pelle entrollte sich eine ganz neue Welt. … Wenn er es nun gewesen wäre, der das glühende Tuch gegen die Unterdrücker geschwungen hätte – er.“[6]

Die Kongruenz der Themen, Kämpfe und Entwicklungen betreffen sowohl den 1907 erschienen Roman Gorkis »Die Mutter«, als auch das in diesem Zeitraum geschriebene Buch Nexös »Pelle der Eroberer«. Dass Nexö kein Schüler Gorkis ist – im Geburtsjahr liegen sie nur ein Jahr auseinander – zeigt nach Mayers Darstellung deutlich die „literarische Herkunft“ der Schriftsteller. Die frühe Entwicklung Gorkis sei undenkbar ohne Tschechow. Martin Anderson Nexös Entwicklung müsse in der geistigen Korrelation zu Henrik Pontoppidan[7] gesehen werden. 1917 erhielt dieser den Nobelpreis für Literatur, insbesondere auch für seinen Roman »Hans im Glück«, den sowohl Bloch[8] als auch Lukács[9] schätzten. Übersetzt wurde er für den Leipziger Kippenberg-Verlag durch Mathilde Mann, die für den gleichen Verlag 1912, zwei Jahre später, den zwischen 1906 bis 1910 geschriebenen Roman »Pelle der Eroberer« übersetzte.

Hans Mayer stellt über formale Nachfolge die Frage, worin Nexös Roman dem Vorbild Pontoppidans treu blieb – und worin er sich ihm entzog. „Auch diese Geschichte des Hans im Glück beginnt, wie später jene des kleinen Pelle, in Lebenszuversicht und Erobererstimmung.“ Pelle ist allerdings mehr Typ als Charakter, wie Gorkis »Mutter«. „Er ist dann weit weniger der Knabe und Junge und Mann Pelle, als der “Repräsentant einer langsam und schwerfällig sich emanzipierenden Arbeiterklasse.“[10]

Nach einer Parallelreflektion zum Romanmosaik von Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« kommt Mayer zu der Schlussfolgerung: „Andersen Nexös Buch bedeutet eine Weiterführung -und gleichzeitig eine Umkonzipierung – der Geschichte vom »Hans im Glück«. Bei Pontoppidian erwies sich der Titel am Ende als traurige Ironie. Pelle wird wahrhaft als Glückskind und Eroberer dargestellt.“[11]

In »Morton der Rote« schreibt Nexö die Geschichte von Pelle und seinem Freund Morton fort. Dort allerdings hat sich Pelle zu einem sozialdemokratischen Minister entwickelt, der nicht mehr mit des Autors Sympathie für »Pelle« versehen und entwickelt wird. Als vom Übergang zum Kommunismus geprägter, auf eine andere Geschichte zurückblickender Mann, gelingt es dem Autor 40 Jahre später nicht, eine organische Verbindung der beiden Romanwerke herzustellen. Mayer stellt fest: „Man muß von einem sonderbaren Vorgang einer Zurücknahme und Umfunktionierung des eigenen Jugendwerkes sprechen.“ Das allerdings tut dem Stellenwert und der Qualität des »Pelle« als eines ausgezeichneten literarischen Werkes über das Werden und den Durchbruch der schwedischen Arbeiterbewegung vor dem 1. Weltkrieg keinen Abbruch.[12]

Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Dänemark und auch in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg war natürlich, wie auch die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zeigt, eine historisch völlig andere Situation als die Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Der stark reformistische Charakter der Sozialdemokratie trieb auch die zwischen SPD und KPD stehenden Sozialisten in der Weimarer Zeit um. In der Zeitschrift »Der Rote Kämpfer – Marxistische Arbeiterzeitung«, die der junge Hans Mayer mit anderen Linkssozialisten in den Jahren 1930 und 1931 herausgab, heißt es in einem Artikel zum 1. Mai 1931: „ Das Erstarken reformistischer Gesinnung in den Reihen des Proletariats, das Anwachsen des kleinbürgerlichen Elements in der SPD verändert völlig den Charakter der Maifeier…. Aus dem Kampftag wurde ein kleinbürgerlicher Festtag. … 1. Mai 1931. Das darf und kann kein Tag sein der beschaulichen Erinnerung und der behaglichen Festesfreude. Eine solche Feier ist ein Hohn auf die wirkliche Lage der Arbeiterschaft.“[13]

[1] Aldo Keel, Der trotzige Däne. Martin Andersen Nexö, Berlin 2004 S. 188f
[2] Martin Andersen Nexö, Pelle der Eroberer, Gesammelte Werke Band 1 und 2, Berlin 1951
[3] Keel, Der trotzige Däne, S.193
[4] In: Hans Mayer, Weltliteratur, Frankfurt am Main 1997, S. 310-324
[5] A.a.O., S. 311
[6] Martin Andersen Nexö, Pelle, S. 100
[7] Henrik Pontoppidan (24. Juli 1857-21. August 1942), dänischer Schriftsteller, der vor allem als Erzähler hervortrat. Mit »Hans im Glück«, zunächst zwischen 1898 und 1904 in acht Bänden veröffentlicht, schuf er einen der umfangreichsten und bedeutendsten Romane der dänischen Literatur. Siehe: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Henrik_Pontoppidan (Zugriff: 28.4.2020)
[8] Siehe: Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 83-88. Im Netz unter: http://www.henrikpontoppidan.dk/text/seclit/secartikler/bloch.html (Zugriff 29.4.2020)
[9] Siehe: Georg Lukács, Theorie des Romans, Darmstadt 1965, S. 96-113 http://www.henrikpontoppidan.dk/text/seclit/secartikler/lukacs.html (Zugriff 29.4.2020)
[10] HM, Martin Andersen Nexö, S.315
[11] A.a.O, S.317
[12] Dass dieses Thema auch heute noch Zuwendung und sogar renommierte Preise gewinnen kann, zeigt der 1987 von Bille August produzierte Film, mit dem er 1989 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt.
[13] Peter Friedemann / Uwe Schledorn (HG), Aktiv gegen Rechts. Der Rote Kämpfer – Marxistische Arbeiterzeitung 1930-1931, Dezember 1994, S. 94