Vertrieben, Verfemt, Vergessen.

Theodor Lessing – ein schwieriges Andenken

Unter dem Tagungsthema »Sinngebung des Sinnlosen. Zum Leben und Werk des Kulturkritikers Theodor Lessing (1872-1933)« fand im Oktober 2004 zum
70. Todestag eine Tagung im Moses Mendelsohn Zentrum in Potsdam statt. Den Auftakt der Tagung bildete ein Vortrag des Schriftstellers Günter Kunert. Dieser betonte nachdrücklich in seinem Vortrag „Theodor Lessing. Der Prophet“ die starke Wirkung, die Lessing und sein philosophisches Denken auf ihn ausgeübt hatten. In zahlreichen thematisch vielfältigen Beiträgen wurde an einen Menschen erinnert, der in der Zeit der Weimarer Republik zu den bekanntesten Wissenschaftlern zählte. Der Titel des letzten Tagungspanels „Vertrieben, Verfemt, Vergessen“ gilt leider wohl auch heute noch.

Theodor Lessing           (Foto: Willi Burgdorf)

Als politischer Schriftsteller war Theodor Lessing bekannt wie Kurt Tucholsky. Bekannt war er nicht nur in seiner Heimatstadt Hannover, wo er an der Technischen Hochschule lehrte, sondern auch als Vortragsreisender in der gesamten Republik. Aufgrund seiner Ausbildung und der thematischen Vielfalt seines Schaffens war er Mediziner, Psychologe, Wanderlehrer, Journalist, Kritiker, Begründer der ersten Arbeiterunterrichtskurse in Dresden und Mitbegründer der Volkshochschule in Hannover.

Der am 8. Februar 1872 geborene Sohn einer alten jüdischen Familie verbrachte eine bedrückende Schulzeit, die für ihn ebenso wie das Elternhaus „eine Hölle“ war. Zum Schluss fand sich jedoch ein Lehrer der Verständnis für den Schüler hatte und ihn durch das Abitur brachte. Das Studium in Literatur, Philosophie und Psychologie schloss er mit der Promotion ab. Eine Habilitation an der Uni Dresden wurde dem Juden, Sozialisten und öffentlichen Verfechter des Feminismus verwehrt. Den 1. Weltkrieg verbrachte der Pazifist als Feldarzt und schrieb als eines seiner größeren und bekannten Werke den Essay »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. Veröffentlicht werden konnte das Buch wegen der Militärzensur erst nach dem Krieg.

Mit diesem Werk ging er auch auf Vortragsreise. In Köln referierte er bei der »Gruppe sozialistischer Studenten« zu der auch Hans Mayer gehörte. Die Debatten müssen hart und konfrontativ gewesen sein. Mayer erinnert sich: „Der hochgewachsene Mann mit dem langen, damals ungewöhnlichen Bart… wich allen Versuchen aus, die historischen Abläufe genauer zu betrachten und nach irgendeiner Sinnhaftigkeit zu befragen. Da stand ein illuminierter Nietzscheaner, der Nietzsches durchaus historisch motivierte Kritik an einem spezifischen Historismus ausweitete: einerseits in Negierung aller Geschichtsbetrachtung, in apodiktischen Aktionismus zum anderen. Was sollten uns diese » vorlogischen, logischen und paralogischen Betrachtungen«, wenn es um Geschichte ging.“[1] Der Sozialist und Sozialdemokrat Lessing fand keinen Zugang und kein Verständnis bei seinen Zuhörern.

Als Privatdozent an der Technischen Universität Hannover verdiente Lessing nur unzureichend. Gemeinsam mit seiner zweiten Frau Ada, geborene Abbenthern, gründete er die Volkshochschule in Hannover-Linden. Im Januar 1920 fand die offizielle Gründungsfeier statt. Ada Lessing, Sozialdemokratin wie ihr Mann, wurde Geschäftsführerin und hatte diesen Posten bis zu ihrer Entlassung im Jahre 1933 inne. Einen großen Teil seines Lebensunterhaltes verdiente sich Lessing als Publizist. Er schrieb für Franz Pfempferts »Aktion«, für Leopold Schwarzschilds »Tagebuch«, für das »Prager Tageblatt« und für den »Dortmunder Generalanzeiger«. Die Zahl seiner Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften werden auf über zweitausend Artikel geschätzt.[2]

Große Aufmerksamkeit aber auch Widerstand seitens staatlicher Stellen erregte er mit seinen Berichten über den Prozess gegen den Massenmörder Fritz Haarmann in Hannover 1924. Sowohl als Publizist aber auch als Psychologe und Kulturkritiker verfolgte er den Prozess. Er „stellt eine Beziehung her zwischen den triebhaften Verbrechen eines einzelnen und dem staatlich befohlenen und organisiertem Töten im Krieg.“[3] Außerdem macht er die Fehler und Unfähigkeiten des Gerichts in verschiedenen Artikeln im »Prager Tageblatt« deutlich. Darüber hinaus den gesamten Prozess im Buch »Haarmann -Die Geschichte eines Werwolfs“[4]. Lessing, der hier, wie auch in anderen Prozessberichten mit der Kritik an den Fehlern der Polizei und den gesellschaftlichen Umständen der von den Kriegsfolgen und Armut geprägten Stadt Hannover nicht sparte, wurde vom Prozessverlauf ausgeschlossen. Nachdem Lessing das Haarmannbuch mit den genau benannten Fehlern und Versäumnissen der Richter und der Polizei beendet hatte, tauchte ein Schuldgeständnis Haarmanns auf, dass der mit ihm wegen gemeinsamen Mordes verurteilte Hans Grans unschuldig sei. Das Todesurteil gegen Grans wurde aufgehoben, das gegen Haarmann vollstreckt. Dies alles änderte aber nichts daran, dass Lessing als „Nestbeschmutzer“ seiner Heimatstadt weiter gehasst blieb. Es sollte aber schlimmer kommen.

Vor der 1925 anstehenden Wahl des Generalfeldmarschalls von Hindenburg zum Reichspräsidenten schrieb er in der Ausgabe des »Prager Tageblatt« vom 25. April 1925 einen Artikel über ihn der als leicht satirische Charakterstudie angesehen werden kann.[5] Sie beginnt mit den Worten: „Wenn man in das gute väterliche Antlitz des alten Hindenburg blickt, so fällt zunächst auf: die fast furchtbare Schwere dieses Antlitzes. … Ich kenne dies Antlitz und kenne sein Leben seit früher Jugend. … Bismarck hat von sich selber das schöne Wort gebraucht: „lch bin mit vollem Bewußtsein auf einer gewissen Stufe der Entwicklung stehen geblieben”. Das hatte Hindenburg nicht nötig. Die Natur hat ihn so einfach, so gradlinig und selbstverständlich gewollt, daß es überhaupt nichts zu entwickeln gab; nur die unbedenkliche Entfaltung eingeborener Vorurteile. Deutscher, Preuße, Christ, Monarchist, Soldat, Kamerad, …“[6]

Im weiteren Verlauf schildert Lessing Hindenburg als eine ehrbare aber für das Amt völlig untaugliche Person. Kritisch und ahnungsvoll warnend endet der Artikel mit folgenden Worten: „Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: besser ein Zero als ein Nero. Leider zeigt die Geschichte, daß hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.“ Am 30. Januar 1933 war es dann so weit. Hindenburg übergab die Macht an Adolf Hitler.

Den Artikel im »Prager Tageblatt« hatte in Hannover kaum jemand wahrgenommen. Aber am 7.  Mai 1925 einen Tag vor einer Huldigungsfeier des gewählten Reichspräsidenten in Hannover, lancierte der »Hannoversche Kurier« verkürzte und verfälschte Zitate des Lessing-Artikels. Eine Hetzkampagne im großen Stil wurde gegen den Juden, Pazifisten und Sozialisten ins Werk gesetzt. Nationale und völkische Kreise griffen ihn an. Studenten gründeten einen „Kampfbund“ gegen ihn.

Wie das ablief, hat Arnold Zweig 1936 auf Wunsch von Anna Seghers in einem Gedenkartikel für den ermordeten Theodor Lessing eindrucksvoll beschrieben. Auch mit einem Rückblick auf dessen Werdegang unter Bezug auf die Lublinski-Affäre und den literarischen Streit mit Thomas Mann.[7]

Arnold Zweig: „Der Vorgang soll einmal schematisch festgehalten werden, mit dem in Deutschland die Tötung eines geistigen Menschen abrollt. Am Anfang steht das deutsche Kapitalverbrechen: Lästerung der Armee. …Erschien ein Aufsatz der das tat, in einer linken Zeitschrift, so gab es in den nächsten Tagen entrüstete Zitate daraus in den Blättern, die der Reichswehr nahe standen – Zitate, aus dem Zusammenhang zerrissene Sätze, zurechtgestutzte Zitate, Zitate, oft gefälscht dem Wortlaut nach, durch Weglassungen, Nachsätze, zuallermeist dem Sinne nach. Nur eine winzige Minderheit der Rechten las die Zeitschriften der Linken selbst; niemals gehörte dazu die Studentenschaft. Auf den Wink der abdruckenden Zeitschriften aber begann aufgrund dieser Zitate die Hetze gegen den Verfasser. … Stand er beim Staat in Lohn und Brot (wie die Herren geistige Ämter auffaßten) so ging man systematisch an seine Ausräucherung. Studententumulte in seinen Vorlesungen, drohende Artikel gegen ihn in den lokalen Zeitungen der Reaktion, Aufforderung zum Boykott, Bekanntgabe seiner Wohnung.“[8]

Die Hetze und das Kesseltreiben gegen Lessing liefen genauso ab. Er ging zum Gegenangriff über. In seinem Artikel „Massenwahn“ schildert und analysiert er den gesamten Vorgang einschließlich der Haltung der Universität ihm gegenüber und die Parteinahme für ihn durch sozialistische Studenten sowie SPD und KPD. Resümierend hält Lessing fest: „Aber es handelt sich nicht um mich und um mein Werk. Es handelt sich um ein Symbolisches. Dies war die erste Kraftprobe des kommenden Deutschland. Jenes Deutschlands, das auf den Staatsstreich hofft, auf die neue Militarisierung der Seelen und auf die Wiederkehr der >großen Zeit< … Ein Deutschland hoffnungsloser Verdummung, demutlosen Dünkels! …“[9]

Nach der Machtübergabe durch Hindenburg an Hitler flieht Lessing am 1. März mit seiner Frau Ada in die Tschechoslowakei und lässt sich dort im Kurbad Marienbad nieder. Lessing setzt seine publizistische Tätigkeit fort und will mit seiner Frau dort eine Schule für emigrierte jüdische Kinder eröffnen. Am 10. Mai werden seine Bücher verbrannt und am 25. August wird er ausgebürgert. Auf seine Ermordung wird ein Kopfgeld ausgesetzt. In der Nacht vom 30. auf den 31. August wird er in seiner Wohnung von zwei nationalsozialistischen Mördern hinterrücks erschossen. Seine Frau und eine Tochter überleben und kehren später nach Hannover zurück.

Zur 50-Jahr-Feier der von Theodor Lessing mitbegründeten Volkshochschule hält Hans Mayer 1969 einen Vortrag. Titel: „Bericht über ein politisches Trauma.“ Er erinnert an die Hetze, Verfolgung und den Mord. Natürlich auch an den Philosophen in der Nachfolge Schopenhauers und Nietzsches. „Das Paradoxon eines Denkens wider das Denken hat Lessings Leben und Wirken so widerspruchsvoll gemacht. Dieser Feind der Dialektik wurde ein Opfer der Dialektik. Seine Entrüstungen galten der Geistlosigkeit und Herzensträgheit.“[10] Um Theodor Lessing kennen zu lernen schlägt er vor, dessen Jugendgeschichte zu lesen »Einmal und nie wieder«. Die Sinngebung meine nicht Untergangssehnsucht „sondern das Unwiederbringliche des einmal gelebten Augenblicks“.[11]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Band 1, S. 120
[2] Theodor Lessing, Wortmeldungen eines Unerschrockenen – Publizistik aus drei Jahrzehnten, herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Hans Stern, Leipzig und Weimar 1987, S. 29
[3] Hanjo Kesting, Denker der Not, in Ein bunter Flecken am Kaftan, Göttingen 2005, S. 2
[4] Theodor Lessing, Haarmann die Geschichte eines Werwolfs, herausgegeben von Rainer Marwedel, Frankfurt am Main 1989
[5] Faksimile siehe: https://anno.onb.ac.at/cgi-content/annoshow?call=ptb|19250425|3|100.0|0
(Zugriff am 7.2.2022)
[6] ebenda
[7] Siehe dazu u.a. https://www.deutschlandfunk.de/philosophie-und-so-ward-grau-die-welt-100.html (Zugriff am 7.2.2022)
[8] Arnold Zweig, Theodor Lessing, ermordet am 31. August 1933, in: Ders., Essays Zweiter Band Krieg und Frieden, S. 91-98, S. 93f
[9] Theodor Lessing, Wortmeldungen eines Unerschrockenen, S. 341
[10] Theodor Lessing. Bericht über ein Trauma in: Hans Mayer, Der Repräsentant und der Märtyrer, Frankfurt am Main 1971, S. 94-120, hier 119
[11] Der Volltext findet sich im >Projekt Gutenberg<
https://www.projekt-gutenberg.org/lessingt/einmal/chap001.html (Zugriff am 7.2.2022)
Für die unermüdliche Herausgabe der Texte Lessings ist Rainer Marwedel mit den von ihm bereits bearbeiteten Texten hervorzuheben. Siehe dazu auch den Artikel in der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 03.02.2022. Willi Winkler, Zwei Leben. https://tinyurl.com/2p8hj6d7 (Zugriff am 7.2.2022)