„Wir haben viel von ihm gelernt“

Hans Mayer zum 115. Geburtstag

Knapp einen Monat vor seinem 40. Geburtstag wurde Hans Mayer am 24. Februar 1947 zum Vorsitzenden der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« VVN Hessen gewählt. Der Zeitungsbericht vom 25. Februar merkt zu seiner Person an, dass er „früher bei Radio Frankfurt“ gearbeitet hatte. Dorthin hatte ihn im Mai 1946 Golo Mann als amerikanischer Kontrolloffizier für den Hessischen Rundfunk von der Nachrichtenagentur Dana, der späteren Deutschen Presseagentur (dpa), abgeworben.[1]

Beim Rundfunk war Mayer als Chefredakteur für Nachrichten und Politik zuständig. Unter anderem führte er in der Redaktion Gespräche mit dem Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem SPD-Vorsitzenden Kurt Schuhmacher.[2] Als Chefredakteur hat er auch am „Nürnberger Prozeß“ teilgenommen und zu dem Urteil über die Kriegsverbrecher am 2. Oktober 1946 einen Kommentar verfasst.[3]

Der Wechsel zum Rundfunk hatte Mayer auch eine „hübsche Wohnung“ in der Parkstraße nicht weit von seinem Arbeitsplatz ermöglicht. Sein „Status als Verfolgter des Naziregimes“ verbesserte auch seine materiellen Lebensumstände.[4] Die VVN hatte in den frühen Jahren nach dem Krieg einen wichtigen gesellschaftlichen Stellenwert. Neben der Sicherung der Existenz der politisch Verfolgten setzte sich die überparteiliche und überkonfessionelle Vereinigung auch für das Streben nach Wiedergutmachung für die erlittenen Verfolgungen ein. Allgemeine Ziele waren zum Beispiel die Mitwirkung an der Entnazifizierung, wozu auch die Bekämpfung der „Persilschein-Ausstellung“ in den eigenen Reihen gehörte. Wichtig waren ebenfalls die Einrichtungen für Kranken- und Erholungsheime. Dies geschah auch in Zusammenarbeit mit den Bruderorganisationen der VVN im Ausland.

Vom 15. bis 17. März 1947 fand in Frankfurt die „1. Interzonale Länderkonferenz der VVN“ statt. Sie gilt als die bundesweite Konstituierung der bisher regional existierenden VVN-Verbände. Anwesend waren auf dieser Konferenz 68 Delegierte der 4 deutschen Besatzungszonen und der Stadt Berlin und 62 Gäste aus 21 Ländern. „Mit allem Nachdruck forderten die … Vertreter von 250.000 Überlebenden des faschistischen Terrors eine Wiedergutmachung, die sie als eine politische moralische und rechtliche Pflicht des deutschen Volkes betrachteten.“[5]

In seiner Rede an den Kongress stellt Hans Mayer, Mitbegründer der VVN, deutlich heraus, dass sich knapp eineinhalb Jahre nach dem Ende des Naziregimes die Hoffnungen der Anfangsphase deutlich geändert haben. Es gehe darum ein „neues Antlitz“ Deutschlands zu zeigen:

„Und wie muss dieses neue Antlitz aussehen? Damit spreche ich von uns, den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes, den Verfolgten des Naziregimes. Wir haben heute im deutschen Volk eine gute Presse. Wir wollen uns keinen Illusionen hingeben. Vor eineinhalb Jahren glaubten wir, ein wirklicher Aufbau Deutschlands von unten nach oben auf gesunder demokratischer Grundlage sei möglich, bei der diejenigen Menschen, die sich im Widerstand am besten bewährt hatten, die wirklich Opfer der politischen und religiösen Überzeugung gebracht hatten, dass es diesen Menschen vorbehalten sein sollte, auch diejenigen Kräfte zu stellen, die den deutschen Neuaufbau leiten können. […]

Wir wissen, dass es eine Illusion war, und es war für uns eine schmerzliche Erfahrung, zu sehen, daß schrittweise … immer mehr diejenigen Kräfte, die sich wirklich im Antinazikampf bewährt haben, aus der Öffentlichkeit weggezogen, weggezerrt, weggedrückt werden, um ersetzt zu werden, durch wen? Durch die Ewiggestrigen, die Ewigheutigen, die nur eine Garantie ganz bestimmt der deutschen Gegenwart und Zukunft geben werden, nämlich, daß sie immer wieder bereit sein werden, bei aller Schlechtigkeit des jeweiligen Regimes sich zur Verfügung zu stellen.“

Abschließend stellt Mayer fest: „Unsere Aufgabe ist, über alle Parteien, Bekenntnisse und Abstammung hinweg eine Vereinigung der Menschen zu schaffen, die warnen, die aufpassen, die den Zeigefinger heben, und die schreien, und die notfalls mit allen Mitteln der Kraft der Zahl und der Überzeugung, die sie verkörpern, der Welt zeigen, wie notwendig es ist, gegen den Nazismus zu kämpfen.“[6]

Klare Positionierungen wie diese und andere ähnliche Beiträge im Rundfunk waren am Vorabend des „Kalten Krieg“ von Seiten der Amerikaner nicht mehr erwünscht. „Daß meine Kommentare zur Außenpolitik immer stärker mißfielen im amerikanischen Hauptquartier, wurde mir hinterbracht. […] Ich bekam ein Staatsbegräbnis. Am nächsten Tag (nach einem Kommentar über Tito, HB) wurde ich vom Intendanten und der Versammlung aller Redakteure verabschiedet.“[7]

Mayer war arbeitslos. Die Rettung kam von Seiten der SPD und Gewerkschaften. Am   12. April 1947 fand die offizielle Wiedereröffnung der Akademie der Arbeit in der Aula der Johann Wolfgang Goethe-Universität unter Beteiligung der amerikanischen Militärregierung, des hessischen Kabinetts, der Stadtverwaltung und zahlreicher Gewerkschafter, Betriebsräte und Vertreter der Industrie- und Handelskammer sowie aller politischen Parteien statt. Die Leitung der Akademie übernahm Franz Joseph Furtwängler. Dieser bot Hans Mayer eine Stelle als Dozent für Gesellschaftswissenschaft an. Inhaltlich gesehen knüpfte diese Tätigkeit an die Arbeit für Horkheimers Institut für Sozialforschung in der Zeit des Exils an und Mayer stellte sich freudig dieser neuen Aufgabe.[8]

Intensiv kümmerte er sich aber auch um Aktivitäten der VVN. Konkret um die alltäglichen Hilfsaufgaben in der schweren Nachkriegszeit, aber auch als Redner bei verschiedenen Tagungen wie der „Internationalen Juristenkonferenz des Rates der VVN vom 20. bis 22. Mai, wo er die Eröffnungsrede hielt. Mit dabei war er auch bei der „Internationalen Gedächtniskundgebung für die Opfer des faschistischen Terrors“ vom 10.-12. September in Berlin oder nach der Aufnahme der VVN in die »Fédération Internationale des Résistants« FIAPP bei Beratungen vor dem Rat der VVN.[9]

Als Vorsitzender der VVN konnte Hans Mayer auch am „Ersten deutschen Schriftstellerkongress“ vom 4.-8. Oktober in Berlin teilnehmen. Unter dem Vorsitz von Ricarda Huch, Günther Weisenborn und anderen tagten dort zum ersten und letzten Mal in jener Zeit Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Besatzungszonen. Sowohl diejenigen, die bereits aus dem Exil zurückgekehrt waren als auch solche, die die Zeit des Nazifaschismus in der inneren Emigration verbracht hatten.[10] Nach einem Beitrag von Anna Seghers sprach Hans Mayer zum Thema „Der Schriftsteller und die Gesellschaft“.[11] Für die »Frankfurter Hefte« schrieb Mayer einen Bericht über den Kongress. Er endet mit den Worten: „Der Schriftsteller ist ohnmächtig, wenn er abermals, wie in den vergangenen Jahren, das Objekt von Gewalten abgibt, die nicht aus seiner Sphäre sind, aus der Sphäre des Wortes und des Geistes. Er ist ohnmächtig, wenn er nicht die Gewalt des >j´accuse< kennt und anzuwenden weiß, die Macht des anklagenden Wortes. Von solcher Entscheidung, die jeder für sich treffen muss, hängt die Zukunft in der deutschen Literatur ab. Das wenigstens ist uns in Berlin klar geworden.“[12]

Von Berlin reist Mayer weiter nach Leipzig, wo er auf Einladung und in Vorbereitung der ihm zugesagten Professur für Weltliteratur drei Vorlesungen hielt. Eine davon über „Frankreich zwischen den Weltkriegen“. Ein umfangreicherer Text dazu war 1945 im Verlag der Exilzeitschrift „Über die Grenzen“ erschienen, für die Mayer in der Schweiz gearbeitet hatte. Die Wiederauflage 1946 im Oberbadischen Verlag Singen erschien unter dem Titel „Von der Dritten zur Vierten Republik – Geistige Strömungen in Frankreich 1939-1945“.[13] Auch darin plädiert er für die Verantwortlichkeit des Geistes. „Alle Literatur muss heute danach befragt werden, ob und mit welcher Kraft sie der Humanität und der menschlichen Emanzipation zu dienen vermochte.“[14]

An seinen Erfahrungen und Lernprozessen aus dem Exil und den daraus resultierenden Forderungen und Aufgaben, die er nach dem Krieg von Anbeginn vertreten hatte, hat Mayer sein ganzes Leben lang festgehalten. Immer auch mit vehementem politischen Anspruch, aber nicht im Sinne einer Parteipolitik. Der Organisation der Verfolgten des Naziregimes und ihren Zielen ist er treu geblieben. Angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf die Ukraine, aber auch das Erstarken des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik haben die Forderungen zur Gründung der VVN weiterhin Aktualität: Nie wieder Faschismus, für Frieden und Freiheit.

Am 19. Mai 1999, auf den Tag genau zwei Jahre vor seinem Tod, wurde ihm die VVN-Ehrenmitgliedschaft durch deren Kreisvereinigung Tübingen-Mössingen verliehen. Er revanchierte sich mit einem Vortrag zum Thema „Jahrgang 1907 – Rückschau auf das Jahrhundert.“ In der Traueranzeige im Mai 2001 dankte die VVN ihrem Mitbegründer dem „Homo doctus – Homme de lettres – Sozialist ohne Parteibuch Verkörperung eines besseren Deutschland mit den Worten: „Wir haben viel von ihm gelernt“.

Heinrich Bleicher

[1] Siehe Hans Mayer, Ein deutscher Auf Widerruf -Erinnerungen I, Frankfurt 1982, S.336
[2]Siehe ebenda, S.360 ff
[3] Siehe ebenda, S. 342 ff
[4] Siehe ebenda S. 334 und 353
[5] Ulrich Schneider, Zukunftsentwurf Antifaschismus: 50 Jahre Wirken der VVN für »eine neue Welt des Friedens und der Freiheit«, Bonn 1997, S. 21
[6] A.a.O., S.22
[7] Hans Mayer, Erinnerungen I, S. 373 f
[8] Hans Mayer, Erinnerungen I, S. 378 ff
[9] Siehe dazu Jens Rüggeberg/Ulrich Schneider, Hans Mayer Widerstandskämpfer – Emigrant -Antifaschist, Bonn 0.J. (2007), S. 26 ff
[10] Siehe Hans Mayer, Erinnerungen I, S. 387-396
[11] Siehe Erster Deutscher Schriftstellerkongress 4.-8. Oktober 1947, herausgegeben von Urusla Reinhold, Dieter Schlenstedt und Horst Tanneberger Berlin 1997, S. 208-212
[12] Hans Mayer, Erinnerungen I, S. 395 f
[13] Hans Mayer, Von der Dritten zur Vierten Republik, Singen 1946
[14] A.a.O., S. 76