»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein«

Es ist nie endgültig geklärt worden, aber in seiner schwarzen Aktentasche, die Walter Benjamin auf der Flucht aus Frankreich nach Portbou mit sich trug, hatte er wohl ein Manuskript seiner Thesen »Über den Begriff der Geschichte« bei sich. Der Inhalt dieser Thesen, geschrieben vor 80 Jahren, reicht bis in die aktuelle Gegenwart und Benjamin zeigt sich als brillanter Analytiker der Vorgänge, die sich vor unseren Augen abspielen.

Gedenkstein für Walter Benjamin auf dem Friedhof in Port Bou – Foto: H. B.

Die Ergebnisse der Kommunal-Wahlen in Frankreich kritisieren die herrschende Politik des Präsidenten Macron nachhaltig. Unerwartet werden wesentliche Städte von fortschrittlichen Bündnissen mit Grünen gewonnen oder auch wie in Paris von den Sozialisten gehalten. In Lyon, Marseille, Bordeaux, Straßburg und Grenoble sind Grüne und andere linksgerichtete Kandidaten und Kandidatinnen an der Spitze. Die Regierung tritt zurück und Macron versucht, mit Jean Castex als neuem Premierminister seine geschwächte Position zu festigen. Seine Hauptgegnerin von der „Rassemblement National“ (RN) kann nicht an vielen Orten Fuß fassen, aber als einzige größere Stadt gewannen die Rechten das südfranzösische Perpignan. Dort hat sich Louis Aliot, an der Spitze eines Rechtsbündnisses durchgesetzt. Er präsentiert und repräsentiert in Auftreten und Konzeptionen ein anscheinend in der Mitte der Gesellschaft sich bewegendes „Rassemblement National“.

Seit 2013 gibt es in Perpignan ein Kulturzentrum mit dem Namen Walter Benjamin, der die Stadt wohl in der Endphase seines Exils passiert hat, um nach Port-Vendre zu kommen wo er seine Fluchthelferin Lisa Fittko getroffen hat. Dieses „Centre d´ Art“ hat sich nach einem glorreichen Start 2014 allerdings nicht zu einem renommierten Museum für zeitgenössische Kunst entwickelt. Louis Aliot hat, als neuer Bürgermeister des Ortes, bekannt gegeben, es mit einer neuen Konzeption wiederzubeleben. Er will es zu einem Ort machen, der „der Schöpfung und der Pflicht zur Erinnerung gewidmet ist, mit Einrichtung von Ausstellungen, Konferenzen, Künstlerresidenzen, Schöpfungen vor Ort.“ Zusätzlich will er es zu einem Zentrum machen, das dem jüdischen Gedächtnis, dem Schicksal der Zigeuner und der tragischen Geschichte der spanischen „Retirada“ dient. Das klingt irreal und ist nicht zu glauben, wenn das RN tagtäglich Ausländer und Migranten in all ihren Formen stigmatisiert.

Ein berechtigter Aufschrei der Empörung kommt von linken Intellektuellen, die die Weichwasch-Strategie des RN nur zu klar durchschauen.[1] Es setzt sich fort, was Walter Benjamin in seiner VII. These formuliert hat. „Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die jemals gesiegt haben. … Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.“[2] Es gilt also, die Vereinnahmungs-Strategie des Herrn Aliot genau zu verfolgen und „gegen den Strich zu bürsten“ um „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“.[3] Benjamins Thesen sind, um mit Hans Mayer zu sprechen, keine Absage an das utopische Denken. Der Engel der Geschichte blickt zurück. „Die Hoffnung liegt im Vergangenen“ mit dessen Kenntnis der Aufbruch in die Zukunft erfolgen muß.[4]

[1] Siehe den nachstehenden Aufruf: Offener Brief vom 30. Juni 2020.
[2] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, GS, Bd I. 3, S.696
[3] A.a.O., S.702
[4] Hans Mayer, Der Zeitgenosse Walter Benjamin, Frankfurt am Main 1992, S.77


Nachtrag 1:

Die Akademie der Künste wendet sich nachdrücklich gegen die Vereinnahmung des Gedenkens an Walter Benjamin durch die französische Rechte. Sie erklärt sich solidarisch mit dem Brief der französischen Intellektuellen, der am 30. Juni in “Le Monde” veröffentlicht worden ist:

Pressemeldung der Akademie der Künste vom 03.08.2020:

Akademie der Künste protestiert gegen die Vereinnahmung des Gedenkens an Walter Benjamin durch die französische Rechte

AdK_PM_2020.08.03_PRAES_Benjamin(1)
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Nachtrag 2:

Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten
hat sich auch mit einer Stellungnahme zu dem Thema geäußert:

Berlin, 08.07.2020

Verkehrte Welt?
Gegen den politischen Missbrauch des Gedenkens an Walter Benjamin

Wer zur Zeit nach Perpignan blickt, muss mit Verblüffung erleben, dass ein wichtiger Vertreter der extremen Rechten, Louis Aliot, neu gewählter Bürgermeister der Stadt, ehemaliger Lebensgefährte von Marine LePen und Vizepräsident des Rassemblement National (RN) das gegenwärtig geschlossene Walter-Benjamin-Zentrum für zeitgenössische Kunst möglichst bald wiedereröffnen will. Was verbindet Louis Aliot und den RN mit dem deutsch-jüdischen Schriftsteller und Emigranten Walter Benjamin? Kurz gesagt: Nichts!

Walter Benjamin, der als deutscher Jude und Antifaschist schon 1933 nach Frankreich fliehen musste, konnte dank der Unterstützung der antinazistischen Emigration in Frankreich überleben. Als der deutsche Faschismus Polen überfiel, wurde er gemeinsam mit mehreren tausend deutschen Emigranten als „feindlicher Ausländer“ von der konservativen Regierung knapp drei Monate in Frankreich interniert. Im November 1939 aus dem Internierungslager entlassen flüchtete Benjamin nach Lourdes, von wo er zunächst weiter nach Marseille reiste, bevor er im September 1940, nach dem deutschen Überfall auf Frankreich und der Etablierung des Vichy-Regimes im „unbesetzten Teil“, versuchte, über Spanien nach Portugal zu fliehen und von dort mit einem USA-Visum auszureisen. Zwar gelang ihm mit Hilfe von französischen Antifaschisten bei Portbou der Grenzübertritt nach Spanien. Aus Angst vor einer Auslieferung an die Deutschen nahm er sich jedoch in der Nacht vom 26./ 27. September 1940 das Leben.

Walter Benjamin repräsentiert damit das genaue Gegenteil der politischen und kulturellen Positionen und der historischen Bilder, für die französische Rechte in Form des Rassemblement National (RN) bis heute steht.

Vollmundig kündigte Louis Aliot an, aus dem Kulturzentrum solle ein Dokumentationszentrum über Flucht und Vertreibung werden. Jüdische Flüchtlingsschicksale sollten hier genauso beschrieben werden wie die der spanischen Republikaner, die gegen Franco kämpften und nach Frankreich fliehen mussten. Auch der Sinti und Roma solle gedacht werden. Was so respektabel klingt, hat nur einen einzigen Zweck: Der RN solle salonfähig werden und den „rechtsradikalen, antisemitischen, fremdenfeindlichen Mief“ loswerden, wie Jürgen Ritte, Literaturwissenschaftler an der Sorbonne-Nouvelle, betont.

Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten, die Dachvereinigung von Organisationen ehemaliger Widerstandskämpfer, Partisanen, Angehörigen der Anti-Hitler-Koalition, Verfolgten des Naziregimes und Antifaschisten heutiger Generationen aus mehr als zwanzig Ländern Europas und Israels verurteilt dieses unwürdige Schauspiel des RN und die Instrumentalisierung von Walter Benjamin.

Die FIR setzt sich mit ihren Mitgliedsverbänden in Frankreich und anderen Ländern seit Jahrzehnten für ein angemessenes Gedenken an alle antifaschistischen Kämpfer und Verfolgte der faschistischen Terrorregime ein. Sie fordert von der französischen Regierung, ein würdiges Gedenken an Walter Benjamin zu gewährleisten. Dabei unterstützt sie den Appell französischer Intellektuelle, die sich in der Tageszeitung „Le Monde“ in einem offenen Brief gegen die Pläne von Louis Aliot und dem RN positioniert haben.

Dr. Ulrich Schneider
Generalsekretär

Die französische Originalfassung: http://www.hans-mayer-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2020/08/2020-Verkehrte-Welt-Benjamin-fr-1.pdf

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»Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.«
Für Walter Benjamin

Offener Brief

Knapp 80 Jahre trennen uns von diesen Worten, die heute unheilverkündend klingen.

Nach dem „escape game“ (Fluchtspiel) Portbou’s getreu dem Motto “Rettet Walter Benjamin”  – einem obszönen Rollenspiel, das die Teilnehmer einlud, seine letzten Tage noch einmal zu erleben –  folgt nun die dunkle, viel ernstere Zeit einer ganz anderen Ordnung, die Zeit einer neuen Instrumentalisierung des Schicksals des deutschen Philosophen, der sich umgebracht hat, um dem Nationalsozialismus zu entkommen. Ein Verrat ganz anderen Ausmaßes.

In der Tat entdecken wir an der Wende im Programm von Louis Aliot, Abgeordneter des „Rassemblement National“( Nachfolgeorganisation des Front National, CWA) und Kandidat “ohne Etikett” für das Rathaus von Perpignan, – nicht ohne Schaudern -, seinen erklärten Willen, das “Kunstzentrum Walter Benjamin”, das derzeit geschlossen ist, wieder zu eröffnen, um es zu einem Ort zu machen, der „der Schöpfung und der Pflicht zur Erinnerung gewidmet ist (Einrichtung von Ausstellungen, Konferenzen, Künstlerresidenzen, Schöpfungen vor Ort…)“. Werden wir es zulassen, dass Walter Benjamin zur Beute, zur Trophäe, zur Kriegsbeute wird, in dem gewaltigen Versuch der Entdämonisierung des „RN“, der zu diesem Zweck nicht zögert, sich zusätzlich zum jüdischen Gedächtnis, des Schicksals der Zigeuner und der tragischen Geschichte der spanischen „Retirada“ (Der Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs. CWA) zu bemächtigen?

Erinnerung und Geschichte verpflichten. Sie verpflichten uns, und erinneren daran, dass sich die Partei von Herrn Aliot im Erbe der nationalistischen, politischen Bewegungen befindet, vor denen Benjamin in den 1930er und 1940er Jahren zuerst in Deutschland, dann in Frankreich und in Europa gezwungen wurde zu fliehen, die ihn verfolgten und gegen die er immer wieder aufstand. Einer unter vielen anderen „Namenlosen“, der für sie Zeugnis ablegen muß.

Es ist dringend notwendig, sich ihrer und ihrer Kämpfe zu erinnern und in unserer Gegenwart dieses schreckliche Urteil in vollem Umfang zu ermessen: »Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« [W.B. Über den Begriff der Geschichte, (1940) GS I.1, S. 695]

Es ist dringend notwendig ihnen den Namen Walter Benjamin zu entreißen – um ihn zu schützen – vor den Händen der äußersten Rechten und all derjenigen, die die Geschichte der Unterdrücker von gestern umschreiben wollen, während sie Ausländer und Migranten in all ihren Formen stigmatisieren.

Wir sind davon überzeugt, dass die Erinnerung an das, was sich in Port Bou, nur einen Steinwurf von Perpignan entfernt, abgespielt hat, für Walter Benjamin wie für so viele andere, uns dazu verpflichtet, mit größter Eindeutigkeit zu reagieren. „No pasaran!“ [„Sie kommen nicht durch“: Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg. CWA)]

In diesem Geist des Widerstands gegen alle Formen des Vergessens und der Manipulation unseres kollektiven Gedächtnisses, widersetzen wir uns entschieden und mit allen verfügbaren Mitteln, dagegen, dass der Name Walter Benjamins während der Legislaturperiode eines Bürgermeisters des „Rassemblement National“ im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung eines Kunstzentrums in Perpignan in Verbindung gebracht wird.

(Übersetzung Claudia Wörmann-Adam)

  1. Juni 2020

Liste der ersten Unterzeichner und Unterzeichnerinnen:

Michael Löwy, Philosoph
Enzo Traverso, Philosoph
Eric Fassin, Soziologe
Anatoli Wassiljew, Regisseur
Natacha Isaeva, Übersetzerin, Dramatikerin
Pippo Delbono, Regisseur
Mari-Mai Corbel, Schriftstellerin
Jean-Marc Adolphe, Journalist, Essayist
Marie José malis, Regisseurin, Theaterregisseurin
David Bobée, Regisseur, Theaterregisseur
Ronan Chenaud, Schriftsteller, Dramatiker
Benjamin Stora, Historiker
Etienne Balibar, Philosoph
Yves Chemla, Literaturprofessor
Katerina Thomadaki, Filmemacherin, bildende Künstlerin, ehemalige außerordentliche Professorin an der Universität Paris I-Sorbonne
Loc Touzé, Choreograf
Michael Riot-Sarcey, Historiker
Maurizio Gribaudi, Historiker
Ludivine Bantigny, Historiker
André Gunthert, Historiker
Patrick Boucheron, Historiker
Paul B. Preciado, Philosoph
Eliane Baumfelder, pensionierte Lehrerin
Francoise Morvan, Übersetzerin, Schriftstellerin
Nicole Lapierre, Anthropologin, Soziologin
André Markowicz, Übersetzer, Dichter
Marie José Mondzain, Philosophin
Jean-Louis Comolli, Filmemacher, Schriftsteller
Francoise Armengaud, Philosophin
Nathalie Raoux, Historikerin
Madeleine Claus, Lehrerin, Schriftstellerin
Bruno Tackels, Philosoph
Emmanuel Faye, Philosoph
Maria Maillat, Schriftstellerin
Anne Roche, Philosophin
Marc Berdet, Philosoph
Héléne Peitavy, Künstlerin
Olivier Moulai, Videofilmer.

Wer den offenen Brief unterzeichnen möchte, wende sich bitte an die nachfolgende Adresse:

prix.europeen.walterbenjamin@gmail.com

weitere Informationen: https://prixwb.hypotheses.org/
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Port Bou Der Namenlosen gedenken
Ein Blick in das Denkmal für Walter Benjamin und die “Namenlosen” am Friedhof in Port Bou, geschaffen von Dani  Karavan. – Foto: HB


Der offene Brief in französischer Fassung:

«Si l’ennemi triomphe, même les morts ne seront plus en sûreté»
Pour Walter Benjamin.

 Lettre ouverte

80 ans à peine nous séparent de ces mots – qui résonnent aujourd’hui d’une sinistre manière.

Après l’escape game de Portbou « Sauvez Walter Benjamin »  – un jeu de rôle obscène qui invitait les participants à revivre ses derniers jours –, voici venu le sombre temps, beaucoup plus grave, d’un tout autre ordre, le temps d’une nouvelle instrumentalisation du destin du philosophe allemand qui s’est donné la mort pour échapper au nazisme. Une trahison d’une toute autre portée.

En effet, au détour du programme de Louis Aliot, député du Rassemblement national, et candidat “sans étiquette” à la mairie de Perpignan, on découvre non sans frémir sa volonté de réouvrir le « centre d’art Walter Benjamin », aujourd’hui fermé, pour en faire un lieu dédié « à la création et au devoir de mémoire (mise en place d’expositions, de conférences, de résidences d’artistes, création in situ …).” Laisserons-nous Walter Benjamin devenir un butin, un trophée, une prise de guerre dans la vaste tentative de dédiabolisation, puis de normalisation du Rassemblement national, qui dans ce but n’hésite pas à évoquer, outre la mémoire juive, les gitans et l’histoire tragique de la retirada espagnole ?

Mémoire et histoire obligent. Elles nous obligent à rappeler et à nous rappeler que le parti de Monsieur Aliot se situe dans l’héritage des mouvements politiques nationalistes qui, dans les années 1930 et 1940, en Allemagne d’abord, puis en France en Europe, ont contraint Benjamin à fuir, l’ont persécuté et contre lesquels il s’est toujours dressé. Un parmi tant d’autres « sans nom » et qui doit témoigner pour eux.

Il est urgent de se souvenir d’eux, de leurs combats, et de prendre la pleine mesure dans notre présent de cette phrase terrible : « Si l’ennemi triomphe, même les morts ne seront pas en sûreté. Et cet ennemi n’a pas fini de triompher. »

Il est urgent d’arracher le nom de Walter Benjamin – pour le mettre en sûreté – des mains de l’extrême-droite et de tous ceux qui réécrivent l’histoire, une fois encore, à l’encre des oppresseurs d’hier tandis qu’ils stigmatisent, sous toutes ses formes, l’étranger et le migrant.

Nous sommes convaincus que la mémoire de ce qui se joua à Portbou pour Walter Benjamin comme pour tant d’autres, à quelques encablures de Perpignan, nous oblige à réagir avec la plus grande netteté. No pasaran. C’est dans cet esprit de résistance à toutes les formes de l’oubli et de la manipulation de notre mémoire collective que nous nous opposons fermement , et par tous les moyens disponibles, à ce que le nom de Walter Benjamin soit associé à la réouverture d’un centre d’art à Perpignan, sous la mandature d’un maire appartenant au Rassemblement national.