Anne Bendel: Im Erfahrungsraum des Archivs

Hans Mayer. Ein Nachlass auf Widerruf

Im Verlag machiavelli edition in Köln ist eine Untersuchung von Anne Bendel erschienen, die die Funktion und Bedeutung von Literatur-Archiven in den Blick nimmt: „Diese Studie schlägt vor, die Literatur als mögliche Gegen-Erfahrung zum Archiv zu begreifen,“ steht auf der Umschlagseite des Buches, in dem sie sich im zweiten Teil ausführlich mit dem Nachlass des Literaturwissenschaftlers und Schriftstellers Hans Mayer (1907-2001) beschäftigt. Es ist ein Glücksfall für unsere HMG, dass nun eine so detaillierte Untersuchung zum Nachlass von Hans Mayer und dessen Nutzbarkeit vorliegt. Und Anne Bendel stellt die richtigen Fragen, um der Bedeutung seines Nachlasses auf den Grund zu gehen. Ist das Archiv der geeignetste Ort, um Erinnerung am Leben zu erhalten? Oder ist die Literatur der Ort, der die Lücken des Archivs zu schließen vermag? Mit Bezug auf Hans Mayer ist eine Fragestellung zentral: Ist Hans Mayers Nachlass, dessen Leben seit der Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft im Jahr 1938 durch die Nazis im Zeichen des Widerrufs stand und dessen Nachlass vom Einsturz des historischen Archiv Köln im Frühjahr 2009 betroffen war, ein Nachlass auf Widerruf? (Bendel, S. 18)

Geschickt verknüpft Anne Bendel ihr Wissen zum Nachlass von Hans Mayer mit biographischen Angaben aus seinem Leben und mit Interpretationen seiner Werke. Ihre vorzüglichen Kenntnisse der Werke Mayers machte diese Untersuchung zu einem großen Gewinn für die Arbeit unserer Hans-Mayer-Gesellschaft: „Den Fall Hans Mayer habe ich aus dem Grunde gewählt, weil dieser nicht nur politisch, sondern auch archivologisch interessant ist. Hans Mayer hat – und dies ließe sich durchaus konstatieren – als einer der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts all das miterlebt und durchlitten, was eben dieses konfliktreiche Jahrhundert ausmacht.“ (Bendel, S. 397)

Heiner Wittmann hat mit Anne Bendel über ihr kürzlich in der machiavelli edition in Köln erschienenes Buch, über die Archivarbeit und Hans Mayer gesprochen:

„Frau Bendel, Sie arbeiten als freischaffende Archivarin. Sie haben gerade im Verlag machiavelli edition in Köln ein Buch über Hans Mayer veröffentlicht: „Im Erfahrungsraum des Archivs. Hans Mayer: Ein Nachlass auf Widerruf“. Was ist das Besondere an einem Archiv und wieso verknüpfen Sie das Archiv so eng mit dem Werk von Hans Mayer?

Zunächst halte ich das Archiv für etwas sehr Dynamisches. Es ist nicht der Ort, der die Vergangenheit entschlüsselt oder an dem wir Antworten finden, sondern ein Ort von vielen. Zudem ist das Archiv stets in Veränderung, auch wenn wir manchmal glauben, dass es etwas Abgeschlossenes wäre. Das Archiv hat für mich etwas sehr Zukünftiges, weil wir durch die Öffnung oder Schließung von Archiven (z.B. durch Sperrfristen) Wege in die Zukunft möglich oder unmöglich machen – zumindest für eine bestimmte Zeit. Das Archiv erlaubt einen doch sehr spezifischen, etwas überspitzt gesagt, vielleicht sogar beengten Blick auf Vergangenes. Das hat auch rechtliche Gründe, auf die ich hier im Detail aber nicht eingehen will. Lassen Sie mich dies kurz am Beispiel Hans Mayer ausführen. Im Fall Hans Mayer haben wir Dokumente, die es eigentlich nie hätte geben dürfen – aus der Zeit der Observation durch die Staatssicherheit der ehemaligen DDR… .  Bitte lesen Sie weiter.

Anne Bendel
Im Erfahrungsraum des Archivs.
Hans Mayer. Ein Nachlass auf Widerruf
343 Seiten

ISBN 9-783949-89805-1 € 29.00 [D]
Bestellung per Mail an:
mail@machiavelli-edition.com

Zeitgenosse Horkheimer

Vor 90 Jahren wurden viele Intellektuelle, Schriftsteller*innen, Künstler*innen aber auch politische Feinde der Nazifaschisten ins Exil gezwungen. Entscheidende Daten waren die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, der Reichstagsbrand vom 27. auf den 28. Februar und auch die Bücherverbrennung am 10. Mai in Berlin[1]. In Köln war Hans Mayer nicht mehr sicher. Die Nazis hatten ihm schon einmal aufgelauert und ihn zusammengeschlagen. Der Grund: Er hatte als Gerichtreferendar an einem Prozess gegen Robert Ley, den Kölner Gauleiter und Herausgeber des »Westdeutschen Beobachters« teilgenommen. Es war klar, dass man ihn suchen und festnehmen würde, zumal er als »Roter Kämpfer« und führendes Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) in Köln verhaftet werden würde.[2]

Gerade noch rechtzeitig, bevor im April „die Braunen ihn abholen wollten“[3] war Mayer von Köln zum Abschluss des 2. Staatexamens nach Berlin gereist. Die Prüfung hatte er bestanden, doch der dort ebenfalls anwesende damalige Staatsekretär Roland Freisler teilte ihm mit, dass er die Entlassungsurkunde als Gerichtsreferendar erhalten würde.[4] Mit Hilfe von Freunden aus der KPD-O und durch seinen Vater gelangte Mayer von Berlin in die Eifel und von dort über die Grenze nach Belgien und ins französische Elsaß. Von dort ging es Anfang 1934 weiter nach Paris.

Dort traf er Ende 1934 im Hotel Lutézia wohnend Max Horkheimer. Dieser hatte ihn auf Empfehlung Hans Kelsens, der in Genf im Exil lebte, aufgesucht. In Genf hatte auch das aus Frankfurt emigrierte Institut als »Institut de Recherches Sociales« vorübergehend einen Aufenthaltsort gefunden. Horkheimer wollte den jungen Doktor der Rechte für die Mitarbeit an der Zeitschrift des Instituts für Sozialforschung gewinnen wollte. Das Gespräch der beiden war das bis dahin nur gering erforschte Phänomen der Autorität. „ … was sich gegenwärtig in Deutschland und Italien, demnächst wohl auch in anderen Teilen der Welt abspiele, hänge aufs engste mit Phänomenen der Autorität in der bürgerlichen Familie zusammen. Autorität und Familie: diesem Zusammenhang versuchte ein Arbeitsprojekt des Institutes beizukommen…. Ich bekam den Auftrag, da der mächtige Mann aus Genf offensichtlich einen Versuch mit mir wagen wollte, die Zusammenhänge zwischen Autorität und Familie in der Theorie und Bewegung des Anarchismus zu untersuchen. Am Ende des Gesprächs hatte ich einen Forschungsauftrag für sechs Monate erhalten.“[5]

Die gesamte Studie über »Autorität und Familie« ist dann 1936 in Paris als 1. Forschungsbericht des Institutes erschienen. Dieses selbst war inzwischen mit Hauptsitz in New York angekommen, wo Horkheimer 1935 das Vorwort verfasst hatte. Zu den auch in der Untersuchung enthaltenen Enquêten erklärt Horkheimer: „… die Umfragen waren nicht als Mittel beweiskräftiger Statistik gedacht, sie sollten uns mit den Tatsachen des täglichen Lebens in Verbindung halten und jedenfalls vor weltfremden Hypothesen bewahren. Vor allem jedoch sind sie dazu bestimmt, eine fruchtbare Typenbildung zu ermöglichen; die charakterologischen Einstellungen zur Autorität in Staat und Gesellschaft, die Formen der Zerrüttung der familialen Autorität durch die Krise, die Bedingungen und folgen straffer oder milder Autorität im Hause, die in der Öffentlichkeit herrschenden Ansichten über den Sinn der Erziehung und anderes mehr sollen anhand der Enquêten typologisch gekennzeichnet und dann durch einzelne Erhebungen weiter erforscht werden.“[6]

Einleitend folgen dann vor den Einzelstudien, zu denen auch die Untersuchung Hans Mayers gehört, allgemeine theoretische Entwürfe über Autorität und Familie die Horkheimer, Fromm und Marcuse historisch, sozialpsychologisch und ideengeschichtlich darstellen. Generalisierend stellt Horkheimer fest: „Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft in jedem Individuum als legitime Quelle von Recht und Wahrheit entgegen. Es endigt mit der Verhimmelung der bloßen Autorität als solcher, die ebenso leer an bestimmtem Inhalt ist wie der Begriff der Vernunft, seitdem Gerechtigkeit, Glück und Freiheit für die Menschheit als historische Losungen ausgeschieden sind.“[7] In Bezug auf die konkrete historische Situation stellt er fest, dass die Beurteilung der „autoritativen Regierung“ ohne Hinblick auf die zugrunde liegende ökonomische Struktur vom Wesentlichen absieht.

Im ideengeschichtlichen Teil geht Marcuse auf den total-autoritären Staat nicht explizit ein, da er diesen Zusammenhang schon in einem Artikel von 1934 in der Zeitschrift für Sozialforschung betrachtet hatte.[8]

In ausführlicher Kritik an Ernst Forsthoff und Carl Schmitt heißt es da: »Die Herrschaftsform dieses nicht mehr auf dem Pluralismus der gesellschaftlichen Interessen und ihrer Parteien gegründeten, aller formalrechtlichen Legalität und Legitimität enthobenen Staates ist das autoritäre Führertum und seine „Gefolgschaft. „Die politische und staatsrechtliche Prägung des nationalen Rechtsstaates ist im bewussten Gegensatz zu der des liberalen bürgerlichen Rechtsstaates die des autoritären Führerstaates. Der autoritäre Führerstaat sieht in der Staatsautorität das wesentlichste Merkmal des Staates.“ (Forsthoff, Der totale Staat)«[9]

Hans Mayers Beitrag über „Autorität und Familie in der Theorie des Anarchismus“ erschien, wie andere Beiträge auch in gekürzter Fassung bei einigen Kapiteln. Bekannt ist, dass es nicht die Theorie des Anarchismus gibt, sondern je nach Autor sehr unterschiedliche Sichten und Herangehensweisen. Das Gemeinsame ist der »Kampf gegen die „Autorität“, im Bekenntnis zur Abschaffung des Staates und des Rechtes und zu einem Zustand der Befreiung des Individuums, in welchem alle zwangsweisen Bindungen und Einschränkungen dieser Freiheit soweit sie nicht freiwillig übernommen werden, aufgehört haben.«[10] Am Beispiel einzelner namhafter Anarchisten wie Bakunin, Stirner, Godwin, Guilleaume und Kropotkin erläutert Mayer die Theorieansätze im Anarchismus. Als systematisches Gegenbeispiel greift er des Öfteren auf Marx zurück. Was insgesamt in seiner Untersuchung nicht abgedruckt wurde, ist ein Kapitel über die Studentenbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts.

Allerdings, die zweibändige Studie, so Hans Mayer, „erwies sich als Zeitzünder“. In der Reihe „Junius-Drucke“ erschien sie zur Zeit der Studentenbewegung 1968 als begehrter Raubdruck komplett für 12,– DM. Mayer erwarb einen Raubdruck für 3,50 DM in dem sein Essay und die von Karl A. Wittfogel und Herbert Marcuse enthaltenen Beiträge waren.[11] Bei Wiederlektüre der Beiträge erscheint es durchaus als sinnvoll angesichts der aktuellen Entwicklung und dem Anwachsen rechter Denkweisen, das Thema Autorität erneut zu reflektieren.

Interessant und nicht ganz nachvollziehbar ist, dass Mayer in seinem Buch „Zeitgenossen“ kein Kapitel über Horkheimer aufgenommen hat, wohl aber z.B. über Adorno, Brückner, Hermlin und andere.[12] Es gibt allerdings ein kleines Kapitel über Horkheimer in seinen Erinnerungen Band I[13]. Auch dieses umfasst Erinnerung und Deutung. Mehrfach hat er Horkheimer auch nach seiner Exilzeit wiedergetroffen. Eingeladen hatte er ihn auch als er nach dem Rauswurf beim Frankfurter Rundfunk 1948 Dozent an der »Akademie der Arbeit« in Frankfurt war. Dort hatte er seine Studenten auch in Soziologie unterrichtet; u.a. über Émile Durkheim über den er bereits einige Jahre zuvor in der Zeitschrift für Sozialforschung geschrieben hatte.

Nach Adornos Tod schrieb Mayer einen Text über diesen der unter dem Titel „Nachdenken über Theodor W. Adorno“ im Zeitgenossenbuch steht.[14] Es folgte eine Einladung Mayers nach Montagnola wohin Horkheimer sich auf seinen Altersitz zurückgezogen hatte. Man erinnert sich an ehemalige Begegnungen, Freunde und Bekannte.

Resümierend schließt Mayer das Kapitel folgendermaßen: „Man hat in der Forschung den »späten« Horkheimer als Fehlentwicklung deuten wollen: als eine – vielleicht altersbedingte – Absage an alles, was mit der Kritischen Theorie bewirkt werden sollte. Auch das glaube ich nicht. Dieser Horkheimer der letzten Lebensjahre befand sich im Einklang mit seinen Anfängen, mit der deutsch-jüdischen Symbiose, mit dem Vater.“[15]

Es lohnt sich Horkheimer als Zeitgenossen zu betrachten, auch wenn am 7. Juli sein 50. Todestag ist. 1934 erschienen in Zürich unter dem Titel »Dämmerung« seine »Notizen in Deutschland«. Unter dem Stichwort „Asylrecht“ heißt es: „Früher oder später wird das Asylrecht für politische Flüchtlinge in der Praxis abgeschafft. Es passt nicht in die Gegenwart. Als die bürgerliche Ideologie Freiheit und Gleichheit noch ernst nahm und die ungehemmte Entwicklung aller Individuen noch als Zweck der Politik erschien, mochte auch der politische Flüchtling als unantastbar gelten. Das neue Asylrecht gehörte zum Kampf des dritten Standes gegen den Absolutismus, es beruhte auf der Solidarität des westeuropäischen Bürgertums und seinesgleichen in zurückgebliebenen Staaten. Heute, wo das in wenigen Händen konzentrierte Kapital zwar in sich gespalten, aber gegen das Proletariat zur solidarischen und reaktionären Weltmacht geworden ist, wird das Asylrecht immer störender. Es ist überholt. Soweit die politischen Grenzen Europas nicht gerade den Interessendifferenzen von gegnerischen, mehrere Nationen umspannenden Wirtschaftsgruppen entsprechen, fungieren sie fast bloß als allgemeines ideologisches Herrschaftsmittel, und als Reklamemittel der Rüstungsindustrie. Das Asylrecht wird vor den gemeinsamen Interessen der internationalen Kapitalistenklasse verschwinden, … Hat ein Mensch aber die Hand gegen das Ungeheuer des Trust Kapitals erhoben, so wird er in Zukunft keine Ruhe mehr finden vor den Krallen der Macht.“[16]

 

[1] Zu der Bücherverbrennung vor 90 Jahren hat der Verein EL-DE-Haus eine Aktionswoche durchgeführt, an der auch die Hans-Mayer-Gesellschaft als Kooperationspartner beteiligt war. Siehe: http://verbranntundverbannt.info/
[2] Siehe dazu: Ludwig August Jacobsen, So hat es angefangenen- Ein Bericht aus den Tagen der „nationalen Erhebung“ in Köln, mit einem Nachwort von Hans Mayer, Köln 1987
[3] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf – Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 161ff
[4] A.a.O., S.162. Das von Freisler unterzeichnete Schreiben befindet sich im Nachlass Hans Mayers im Historischen Archiv in Köln.
[5] A.a.O. S. 179f
[6] Studien über Autorität und Familie- Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, Paris 1936, S. X
[7] A.a.O., S. 26
[8] Herbert Marcuse, Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang III (1934), S. 161ff. Dieser Text ist online verfügbar: https://archive.org/details/ZfS_1934_III_Heft_2_k/page/n2/mode/1up. Zugriff: 1.6.2023
[9] ebenda
[10] Studien über Autorität und Familie, Band 2, S. 825
[11] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, S. 181
[12] Hans Mayer, Zeitgenossen – Erinnerung und Deutung, Frankfurt am Main 1998
[13] A.a.O. S. 178ff
[14] A.a.O., S.23-47
[15] Hans Mayer, Erinnerungen Band I, S. 187f
[16] Max Horkheimer, Dämmerung – Notizen in Deutschland, S.178

Herzlichen Glückwunsch Leo Kreutzer

Zu seinem heutigen 85. Geburtstag hat die Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG) ihrem Mitglied Professor Leo Kreutzer die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Zunächst als Assistent und dann als würdiger Nachfolger Hans Mayers hat Professor Leo Kreutzer dessen Denkweise und Herangehen an Literatur aufgenommen und weiterentwickelt. Das >Doppeltblicken< und das Prinzip >Ähnlichkeit< beim dialektische Hoffnungsdenken hat er sich zu eigen gemacht und für seine Arbeit in Hannover und an afrikanischen Universitäten für eine interkulturelle Literaturwissenschaft fortgeführt. „Die Folgen dieser Tätigkeit sind groß“, resümierte Hans Mayer zu Professor Leo Kreutzers 60. Geburtstag.

Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie in Tübingen, Nancy und Köln promovierte Kreutzer 1964 an der Universität Tübingen über Hermann Brochs Romantrilogie »Die Schlafwandler«. Die Bekanntschaft und dann Zusammenarbeit mit Hans Mayer nach dessen Ankunft in Tübingen führte dann insbesondere in seiner Assistentenzeit in Hannover von 1965-1969 dazu, eine germanistische Literaturwissenschaft zu praktizieren, die ihn „von den Unarten des Fachs“ fernhielt. In seinem 2022 erschienenen Buch zu Hans Mayer unter dem Titel »Ein Hannoveraner auf Widerruf« formuliert er das so: „Dass ich Hans Mayer über Jahre regelmäßig zuhören konnte, wie er bei der Arbeit im Hörsaal stets, dabei aber niemals im Sinne einer >werkimmanenten Interpretation<, den literarischen Text in den Mittelpunkt stellte, hat mich davor bewahrt, meine eigenen Bemühungen an den Erwartungen einer germanistischen >Fachwelt< auszurichten.“[1]

Nach seiner Habilitation bei Hans Mayer über das Thema »Alfred Döblin – Sein Werk bis 1933«[2] ging Kreutzer als Literaturredakteur zum Westdeutschen Rundfunk in Köln. Am 1. Januar 1974 wurde er dann Nachfolger von Hans Mayer auf dem Lehrstuhl für “Neuere und Neueste deutsche Literatur” an der Universität Hannover. Wie Lese- und Lebenserfahrung sich gegenseitig erhellen können hatte Kreutzer auch bei Mayer gelernt und eine Arbeitsweise des „intertextuellen und >intermedialen Doppeltblicken< als dialektische Art des Wahrnehmens übernommen. „Dialektisch ist diese Art des Wahrnehmens, weil sie, wie ein dialektisches Denken einen Sachverhalt durch These und Antithese erfasst, eine Erscheinung als zu einer anderen >im Widerspruch stehend< wahrnimmt. Durch die Dialektik eines >doppelt blickenden< Wahrnehmens hat Hans Mayer seinen Blick auf die Gegenstände seine Analyse geschärft.“[3]

Von Hans Mayer war seinem Nachfolger bei der Übergabe des Lehrstuhls ein afrikanischer Habilitand ans Herz gelegt worden. Daraus ergab sich bald eine weitere Betreuung von afrikanischen Doktoranden und Habilitanden. Kultur- und wissenschaftspolitisch stand Kreutzer damit vor einer enormen Herausforderung für seine Lehre und Forschung in methodischer Sicht. Er entwickelte eine Strategie des >interkulturellen Doppeltblickens< für die Literaturwissenschaft.

Mit Talar auf dem Weg zur Disputation (Foto. Privat)

In den 1990er Jahren entstand aus dieser Literaturbetrachtung für ungleichzeitige gesellschaftliche Entwicklungsprobleme und Modernisierungskonflikte die »Ecole d´Hannovre«. Diese Entwicklung entstand in Verbindung mit zahlreichen Gastprofessuren an Deutschabteilungen im subsaharischen Afrika. Gewürdigt wurde diese Arbeit mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Cheikh Anta Diop Dakar im November 2006. Der Festvortrag anlässlich der Verleihung kann hier nachgelesen werden.[4]

Zum 70. Geburtstag Hans Mayers hat Professor Kreutzer dann mit Kolleginnen und Kollegen des WDR einen Film über den Genussmenschen Hans Mayer gedreht. Ein Essen mit Walter Höllerer, Ivan Nagel, Fritz Raddatz und Martin Walser bei Günter Grass in Wewelsfleth. Die Erstsendung des Films erfolgte am 6. April 1977 im WDR. Der Titel: »Jeden Abend ein Anruf von Hegel. Eine Unterhaltung mit Hans Mayer anlässlich seines 70. Geburtstags.«

Wir wünschen, dass der Genussmensch Leo Kreutzer noch lange seinen Vorlieben folgen kann. Ad multos annos.

 

[1] Leo Kreutzer, Ein Hannoveraner auf Widerruf – Mit Hans Mayer an der Technischen Universität Hannover, Hannover 2022, S. 7.
[2] Leo Kreutzer. Alfred Döblin – Sein Werk bis 1933, Stuttgart 1970.
[3] Leo Kreutzer, Ein Hannoveraner auf Widerruf, S.10.
[4] Die deutschsprachige Fassung des Vortrags findet sich in: Leo Kreutzer. Goethe in Afrika. Hannover (Wehrhahn Verlag) 2009. S. 102-131.

Bertolt Brecht – Der Dichter und die Ratio

Zum 125. Geburtstag Bertolt Brechts

„Niemals wieder, weder vorher noch später, hab ich ihn so glücklich, heiter und daseinswillig erleben können wie in jenen Frühlingstagen des Jahres 1954 in Amsterdam.“[1] Mit diesen Worten beginnt Hans Mayer seine Erinnerung an Brecht in dem 1996 erschienen letzten Buch über den Schriftsteller mit dessen Werk er sich über 40 Jahre beschäftigt hat.[2]

Kennengelernt hatte der junge Hans Mayer Texte von Brecht schon mit 15 Jahren. Besonders beeindruckt hatte ihn nach dem Kriegserlebnis als Junge das Gedicht der »Legende vom toten Soldaten«. Mit den frühen Dramen konnte er sich aber nicht recht anfreunden. Der Durchbruch kam mit der »Dreigroschenoper«, die Mayer 1928 in Berlin in der damaligen Originalbesetzung gesehen hatte; später dann auch in Köln und Düsseldorf. Zur Zeit der »Dreigroschenoper« hatte der früher eher anarchisch orientierte Brecht sich dem Studium des Marxismus gewidmet. Seine Lehrer damals waren Karl Korsch und Fritz Sternberg. Mit letzterem hatte er während seiner Berliner Zeit vor dem Exil im engen Kontakt gestanden. Einerseits in einer sich regelmäßig treffenden Gruppe zu der auch Alfred Döblin und Arnolt Bronnen gehörten. Andererseits standen aber Sternberg und Brecht, nachdem sie sich beim ersten Treffen fast zerstritten hatten, im sehr engen Austausch. Sternberg von Haus aus Ökonom und Soziologe, erhielt von Brecht jedes Manuskript zum Lesen als Voraussetzung für eine engen inhaltlichen Austausch. In seinen 1963 erschienen »Erinnerungen an Brecht« hat Sternberg diese Zeit von der Mitte der 20er Jahre bis zur Flucht ins Exil 1933 sehr dezidiert geschildert.[3]

In dieser Zeit war er einer der gefragtesten politischen Redner bei Veranstaltungen linker politischer Parteien und der Gewerkschaften. Hans Mayer hat in seiner Kölner Zeit vorübergehend auch eng mit ihm zusammengearbeitet und schildert ihn in seinem Buch »Ein Deutscher auf Widerruf«. »Die Wirkung des Mannes war außerordentlich, weit stärker als diejenige all der anderen Referenten mit oft berühmten Namen. Der Volkstribun eines Typs, den es in Deutschland kaum je gegeben hat in der wirklichen Arbeiterpolitik. Ein jüdischer Danton gleichsam, gedrungen, mit zornigen Armbewegungen und einem ansteckenden Hohngelächter, wenn er verkündete: »Die Bourgeoisie ist nicht mit der Demokratie verheiratet, sondern mit dem Profit!«“[4]

An dem promovierten Ökonomen und Soziologen schätzte Brecht aber auch dessen weitgefasste literarischen Kenntnisse. Die erste stundenlange Debatte zwischen den beiden drehte sich um die Frage, inwieweit im Drama oder der Literatur das Liebesverhältnis zwischen einem Mann und einer Frau tragenden Charakter für den gesamten Stoff haben könne. Der historische Rahmen dafür spannte sich von Platon über Dante, Shakespeare und Goethe bis in die Gegenwart. Resümierend stellt Sternberg in den Erinnerungen fest: „Wir redeten die ganzen Jahre immer wieder über ein und dasselbe Thema: über den Dichter in der Zeit, oder um es noch deutlicher zu sagen: über den Dichter in unserer, in der heutigen Zeit, über den Dichter in Deutschland vor 1933.“[5]

Für Brecht war unabdingbar, dass der Dichter sich zu den konkreten Verhältnissen äußern und auf deren Veränderung drängen müsse.

Angesichts der Wirtschaftskrise, steigender Arbeitslosigkeit und dem Aufstieg der Nazis diskutierte und stellte man sich die Frage, was zu schreiben und zu tun sei. Ein Thema dabei war die Frage, wie man zu den Leuten aus der Mittelschicht sprechen könne. Wie könne man einerseits die Gruppe der Handwerker und Kleinhändler ansprechen und andererseits Angestellte, Ingenieure oder Architekten. Für alle diese unterschiedlichen Gruppen musste man einen anderen Ansatzpunkt finden, sie anzusprechen und politisch zu überzeugen. Für jede von ihnen gäbe es einen unterschiedlichen „Umsetzungsgrund“. Spezifisch andere Zugänge gebe es auch zu der Gruppe der Frauen. Die innenpolitische Lage war ebenfalls ständiges Thema.

Differenziert war zwischen den Beiden auch die Einschätzung und Haltung zur Sozialdemokratie und zur Kommunistischen Partei. Ein einschneidendes gemeinsames Erlebnis war der 1. Mai 1929, der sogenannte „Blutmai“, an dem der sozialdemokratische Polizeipräsident Zörgiebel auf die gegen das Demonstrationsverbot protestierenden Kommunisten schießen ließ. Laut Sternberg waren es wohl die Erlebnisse der drei Tage vom 1. bis 3. Mai die Brecht in die Nähe der Kommunisten rücken ließ. „Daß Arbeiter, die wie seit Jahrzehnten am 1. Mai demonstrieren wollten, für die Polizei nur Pöbel darstellten, war wiederum für Brecht ein Erlebnis, daß er nicht mehr vergaß; noch ein Jahrzehnt später, als wir längst in der Emigration waren, erzählte er davon.“[6]

Ende 1930 als die Weltwirtschaftskrise bereits begonnen hatte, wurde Brechts Stück »Die Maßnahme« uraufgeführt. Für Sternberg war diese Aufführung „ein gewaltiges, einzigartiges Erlebnis.“[7] Nach jeder Aufführung gab es Diskussionen mit Brecht. „Er schrieb immer wieder neue Schlüsse zu seinen Stücken – und dies schon damals als keine Partei ihn dazu nötigte. Brecht wollte die Welt verändern, und es gab wohl keinen Marxschen Satz, der ihn stärker berührte als der, daß die Philosophen bisher die Welt nur verschieden interpretiert hatten, daß es aber gelte, sie zu verändern. Brecht wollte mit seinen Stücken die Welt verändern. Er war ein unermüdlicher Arbeiter auf diesem Feld.“[8] Ausführliche Diskussionen hatten die beiden auch über den »Julius Cäsar« von Shakespeare und die (Un-)Möglichkeit ihn aktuell als Theaterstück aufzuführen; anders als den »Galilei«. Dieses Stück in verschiedenen Fassungen ist nach Auffassung Sternbergs auch eine Art Schlüssel zum Verständnis des 17. Juni und der Politik der SED unter Ulbricht. „Brecht mußte für dieses Theater in Ostberlin zahlen, wie Galilei zahlen mußte, als er unter den Augen der Inquisition seine Forschungen fortführen mußte.”

Interessant, weil in vielerlei Hinsicht korrespondierend, sind auch die Ausführungen Hans Mayers zu den genannten Theaterstücken in dem Beitrag »Bert Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene«.[9] Das Resümee dort ist allerdings – bezogen auf die Theaterkunst – nachdenklich stimmend: „Nicht zuletzt ist Brecht mit seinem Postulat einer neuen Zuschauerkunst gescheitert. Der von Ulbricht (und von Moskau) dekretierte real existierende Sozialismus hatte in der DDR bloß bewiesen, daß es, kaum verändert, ein deutsches Kleinbürgertum gab, welches wenig gelernt und kaum etwas vergessen hatte. Wie sollte da eine neue Zuschauerkunst entstehen. Sie besaß weder eine Basis noch einen Überbau.“[10]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer, Brecht, Frankfurt am Main 1996
[2] Siehe: http://www.hans-mayer-gesellschaft.de/hans-mayer/bibliographie/
[3] Fritz Sternberg, Der Dichter und die Ratio – Erinnerungen an Bertolt Brecht herausgegebenen und kommentiert von Helga Grebing, Berlin 2014
[4] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Frankfurt am Main 1982, S. 136
[5] Fritz Sternberg, Der Dichter und die Ratio, S.12
[6] A.a.O., S.25
[7] A.a.O., S.27
[8] A.a.O., S.28f
[9] Hans Mayer, Bert Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene, in: Brecht für Anfänger und Fortgeschrittene – Ein Lesebuch ausgewählt von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main 1993, S. 9-36
Der gleiche Text findet sich auch in Hans Mayer, Brecht, S. 447-480
[10] A.a.o., S. 480

„Im Dunkel des gelebten Augenblicks“

Vor 30 Jahren hat Hans Mayer einen Artikel für die »Züricher Zeitung« zur Erinnerung an den 30. Januar 1933 geschrieben. Unter Bezug auf die im Titel genannte Formel Ernst Blochs weißt er darauf hin, „daß nicht nur der Einzelne, sondern manchmal auch die sogenannte Menschheit den folgenreichsten Augenblick ihres Daseins zwar als Vorgang erlebt, doch ohne zu ahnen, was sich bei diesem Vorgang für ihre Gegenwart und Zukunft ereignet hatte. Das Dunkel steckt mitten in der Tageshelle.“

Der Tag des Widerrufs wurde von den meisten Beteiligten bei der Machtübergabe an Hitler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg nicht in seiner Tragweite erkannt; außer von Hitler selbst. Dem war klar, dass er die als Reichskanzler erhaltene Macht nicht mehr hergeben würde. Die Einkreisungsstrategie der konservativen und reaktionären Rechten in der Regierung war eine vollständige Verkennung der Tatsachen und Machtverhältnisse.

Es war dem gescheiterten ehemaligen Reichskanzler Franz von Papen gelungen, den lange wiederstrebenden Hindenburg zu überzeugen, dass der von einer konservativen Kabinettsmehrheit „eingerahmte“ NSDAP-Führer keine Gefahr darstellen würde. Zu einem späteren Zeitpunkt, nachdem er die Arbeiterparteien und die Gewerkschaften gebändigt oder zerschlagen hätte, sollte er dann in die Wüste geschickt werden.

Kurz skizziert Mayer die Regierungszusammensetzung vom 30. Januar 1933: „Jener Papen wurde Vizekanzler, der deutschnationale Zeitungsmagnat Alfred Hugenberg, ein ehemaliger Krupp-Direktor, war auch im Kabinett. Die Reichswehr wurde durch einen Berufsoffizier vertreten. Die Finanzen hütete ein Adliger der Deutschnationalen, durchaus kein Freund des neuen Reichskanzlers, wie man wußte. Alles war kurzfristig angelegt, man mußte die Augenblickskrise überwinden, dann würde man weitersehen.“[1]

Doch der im ganzen Reich mit Fackelzügen der »SA« und des »Stahlhelms« gefeierte „Befreier Hitler“[2] zögerte keinen Moment seine Machtposition zu festigen. In der 1. Kabinettssitzung noch am 30. Januar machte er deutlich, dass allein ein Generalstreik den Machterhalt gefährden könne. „Wenn man jedoch die Frage aufwerfe, was für die Wirtschaft eine größere Gefahr bedeute, die mit Neuwahlen verbundene Unsicherheit und Beunruhigung oder ein Generalstreik, so müsse man nach seiner Ansicht zu dem Ergebnis kommen, daß ein Generalstreik für die Wirtschaft weit gefährlicher sei. Es sei schlechterdings unmöglich, die 6 Millionen Menschen zu verbieten, die hinter der KPD ständen.“[3]

Für den Abend des 30. Januar hatte die KPD zu einer Massenkundgebung in die Kölner Rheinlandhalle aufgerufen. Mayer wohnte nicht weit davon und ging hin. Die Massen waren nicht versammelt, die wohnten mehrheitlich den Fackelzügen bei. Ein kommunistischer Reichstagsabgeordneter aus Berlin, Max Hirsch, ein Jude, war zu der Kundgebung gekommen. Er gab sich siegessicher. Die Nazis würden abwirtschaften und dann käme die KPD. Wie man weiß, kam es anders.

Weniger als 30 Tage später gab es für Hitler aber eine andere Chance, die KPD zu verbieten und damit die Mehrheit im Reichstag zu sichern: Den Reichstagsbrand. Mit dem Reichstagsbrandgesetz und einem Monat später mit dem Ermächtigungsgesetz hatte der braune Reichskanzler dann die Macht an sich gerissen und das Parlament ausgehebelt.

In seinem das Buch »Der Widerruf« abschließendem Beitrag »Deutsche und Juden nach dem Widerruf«, einer Rede vor dem Bundesverfassungsgericht, kommt Mayer dann noch einmal auf den Wendepunkt für das 20. Jahrhundert zurück: „Ein geschichtliches Datum wie dieser 30. Januar 1933 kann nicht aus seinem Zeitvergang losgelöst werden. Jener Tag hat den Widerruf dessen bedeutet, was man als deutsch jüdische Symbiose zu bezeichnen pflegt. Es gibt mithin ein Vorher wie ein Nachher. Zu jenem Nachher gehört auch der Staat Israel. Eines scheint mir sicher zu sein: eine Deutsch-Israelische Juristenvereinigung im heutigen Sinne wäre undenkbar ohne jenes Vorher des 30. Januar: ohne den Tag des Widerrufs. Wer die jeweilige Gegenwart nicht als ein Gewordensein verstehen und überdenken will, abhold aller Geschichtsbetrachtung, wird mit Notwendigkeit auch als Deuter der Gegenwart scheitern.“[4]

Im Folgenden skizziert Mayer dann den Gang der Aufklärung von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn über Heine, Marx und Börne sowie andere bis in die 90er Jahre hinein. „Am Ende unseres zwanzigsten Jahrhunderts ist der Widerruf vom 30. Januar 1933, der von vornherein eine »Endlösung« der Judenfrage vorbereiten sollte, als Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitig in einem zu interpretieren.“ Für die Zukunft käme es darauf an, nicht ohne Hoffnung zu leben. Notwendig sei aber dafür wie Adorno zu Recht bemerkt habe ein Leben in Wahrheit.

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer, Der Widerruf Über Deutsche und Juden, Frankfurt am Main 1994, S. 14
[2] So die Nazizeitung „Westfälischer Beobachter“ am Tag nach der Machtübergabe.
[3] Zitiert nach: Internationaler Militärgerichtshof, Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946, Nürnberg 1947, Bd. XXV, S. 374-376.
[4] Hans Mayer, Der Widerruf, S.430

„Wenn dieses Land je so etwas wie ein Herz gehabt haben sollte, lags da wo der Rhein fließt“

50 Jahre Literaturnobelpreis für Heinrich Böll

Es war die Zeit als Böll nach seinem im Januar 1972 erschienenen Spiegelartikel über Ulrike Meinhof von der Springer-Presse aber auch von anderen Publikationen und Medien als „geistiger Wegbereiter der Gewalt“ und RAF-Sympathisant wochenlang angegriffen und verleumdet wurde. Da erreichte ihn ein von Hans Mayer am 20. April geschriebener Brief, in dem dieser u.a. schreibt: »…vielleicht wird es Sie freuen, daß ich zu Beginn des Jahres vom Nobel Komitee in Stockholm um den Vorschlag eines Kandidaten gebeten wurde. Ich habe Ihren Namen genannt. Später erfuhr ich, daß sich zwei andere deutsche Empfänger solcher Briefe genauso entschieden.«[1]

Heinrich Böll selbst erhielt die Nachricht zur Verleihung des Nobelpreises am 19. Oktober per Telegramm in Athen. Ein paar Tage vorher hatte er einen zweiten Brief von seinem Freund Max Tau aus Oslo erhalten. Der schreibt: »Vor einigen Tagen hatte ich Besuch von unserem gemeinsamen Freund Hans Mayer und er war ganz sicher, dass du diesmal den Literatur Nobelpreis bekommst. (…) Er war seiner Sache ganz sicher, aber ich hoffe, weil ich weiß, daß bei der Preisverleihung immer noch was passieren kann. Aber mein Instinkt sagt mir, dass Du diesmal dran bist.«[2]

Bölls Nobelpreisurkunde (Foto: HB)

Kennengelernt hatten sich Hans Mayer und Heinrich Böll schon kurz vor einer Tagung in Wuppertal im Herbst des Jahres 1957. Diese aber bedeutete für Mayer, wie seine Frühjahrsreise nach Griechenland „eine Erweckung“.[3] „Der Ort des Geschehens war kaum poetisch zu nennen, trotz der Else Lasker-Schüler. Es war das Wuppertal, Stadtteil Elberfeld.[4] Das Thema der Tagung der Wuppertaler Vereinigung „Bund – Gesellschaft zur geistigen Erneuerung“ vom 11. bis zum 13. Oktober: »Literaturkritik – kritisch betrachtet«. Vertreten waren Schriftsteller, Germanisten, Kritiker, Vertreter des Buchhandels und öffentlicher Büchereien. Die Mischung der hochkompetenten Teilnehmer*innen und die Leitung der Tagung durch den souveränen Hans Jürgen Leep, Kulturreferent von Wuppertal, machten die Tagung zu einem außerordentlichen Erfolg. Ingeborg Bachmann Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Walter Jens sowie Heinrich Böll, Peter Huchel und auch namhafte ausländische Gäste waren vertreten.

Alle Debatten, Kontroversen und Gespräche zielten auf Austausch über Zustand und Veränderung der Gesellschaft nach 1945; vermittelt in diesem Fall über die Fähigkeit der deutschen Sprache, das in geeignete Worte zu fassen. Es ging dabei auch um die „Einheit der deutschen Literatur“. In Anknüpfung an diese Tagung zielt darauf auch Celans Gedicht »Weißgeräusche«, das Hans Mayer gewidmet ist.[5] Bei dem Treffen kam es zur erneuten Liebesbeziehung zwischen Celan und Bachmann. Es entstanden Celans Gedichte »Rheinufer« und »Köln, Am Hof«.[6]

Um die deutsche Sprache ging es Böll auch in seiner Nobelpreisrede am 10. Dezember 1972. Er beendet sie mit den Worten: „Ich danke der Schwedischen Akademie und dem Land Schweden für diese Ehre, die wohl nicht nur mir gilt, auch der Sprache, in der ich mich ausdrücke und dem Land dessen Bürger ich bin.“[7] Zuvor schon hatte er es deutlich ausgesprochen: „Wenn dieses Land je so etwas wie ein Herz gehabt haben sollte, lag´s da, wo der Rhein fließt. Es war ein weiter Weg in die Bundesrepublik Deutschland.”

Es war auch die Heimatstadt Köln, die eine zusätzliche Nähe zwischen Mayer und Böll vermittelte. In seiner Rede über die »Einheit der deutschen Literatur« hat Hans Mayer auch den Dank an Heinrich Böll in diesem Sinn ausgesprochen: „… Heinrich Böll ist ein großartiges Beispiel für die These, daß das scheinbar bloß Lokale und Regionale in Wirklichkeit am besten verstanden wird in ganz fremden Welten: vorausgesetzt, daß es genau ist und wahr.“[8] Nicht verwunderlich also, dass Hans Mayer seine Dankrede für die Verleihung des Kölner Literaturpreises Heinrich Böll gewidmet hat.[9]

Ehrenbürger Böll                     (Foto: HB)

50 Jahre nach der Verleihung des Nobelpreises an ihren Ehrenbürger Böll hat die Stadt Köln in zwei Veranstaltungen an dieses Ereignis erinnert. Zum einen bei einer Tagung des Archivs, dass seinen Nachlass verwaltet und nach der Bergung und Rettung desselben wieder zugänglich macht. Zum anderen durch eine Tagung im Rathaus. Dort wies Oberbürgermeisterin Henriette Reker noch einmal auf die strittige Debatte hin, die es damals bei der Ernennung Heinrich Bölls zum Ehrenbürger gegeben hatte. Einleitend zu ihrer Berichterstattung hält Annika Müller im »Kölner Stadtanzeiger« vom 26.11.2022 fest: „Heinrich Bölls Verhältnis zur Stadt Köln war „ambivalent“, wie es Oberbürgermeisterin Henriette Reker am Donnerstag vorsichtig ausdrückt. Und auch das Verhältnis Kölns zu Böll war nicht immer positiv.“ Es scheint allerdings, als hätte man sich inzwischen mit dem berühmten Sohn der Stadt ausgesöhnt. Sowohl mit dem kritischen und widerständigen Schriftsteller der Nachkriegszeit als auch dem politischen und engagierten Bürger Kölns.

 

[1] zitiert nach Heinrich Böll, Werke Kölner Ausgabe Band 18 Seite 579
[2] zitiert nach Heinrich Böll, Werke Kölner Ausgabe Band 18 Seite 580
[3] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Erinnerungen Band II, Frankfurt am Main 1984, S. 223
[4] Ebenda
[5] Siehe: http://www.hans-mayer-gesellschaft.de/weissgeraeusche-in-wuppertal/
[6] Siehe: Herzzeit Ingeborg Bachmann- Paul Celan Der Briefwechsel, Frankfurt am Main 2008, S. 57ff
[7] zitiert nach Heinrich Böll, Werke Kölner Ausgabe Band 18 Seite 178
[8] Hans Mayer, Wendezeiten Über Deutsche und Deutschland, Frankfurt am Main1993, S. 159
[9] Hans Mayer, Aufklärung heute Reden und Vorträge 1978-1984, Frankfurt am Main 1985, S. 125ff

»Das Geschehen und das Schweigen«

Zum 30. Todestag von Willy Brandt am 8. Oktober 2022

Das letzte Buch Hans Mayers ist im Jahr seines Todes erschienen: »Erinnerungen an Willy Brandt«[1]. Beide waren, so heißt es im Klappentext, „linke Abweichler“. Persönlich haben sich die beiden erst 1964 in der Wohnung von Günter Grass getroffen. Doch der Lebensweg und die politische Einstellung von ihnen weisen schon in ihrer Jugend erstaunliche Parallelen auf. So vermerkt Mayer in dem Buch: „Bei späteren wirklichen Gesprächen mit ihm erlebte ich die Überraschung, daß es ihm mit mir ähnlich ergangen war. Auch er hatte von meiner Zugehörigkeit zu den Leuten um Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld gewußt. Auch er hatte Arbeiten von mir mit Interesse verfolgt.“[2]

Hans Mayer, Jahrgang 1907, und Willy Brandt, geboren 1913, gehörten in der Weimarer Zeit zu den Linken in der Sozialdemokratie. Nach den Reichstagswahlen vom September 1930, erreichten die Nazis einen erdrutschartigen Sieg. Von 12 stieg ihre Stimmenzahl im Parlament auf 107 Mandate und sie wurden zweitstärkste Partei. Sowohl der gerade promovierte Jurist und „Rote Kämpfer“ Hans Mayer in Köln als auch der Gymnasiast Willy Brandt bei den Jungsozialisten in Lübeck kritisierten die Politik der SPD und verlangten eine gründliche Überprüfung der politischen Strategien und Zielsetzungen. Sie erfolgte nicht und führte zu einer linken Abspaltung von der Sozialdemokratie in die 1931 von Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz gegründeten »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD)«. Brandt ging in deren sozialistischen Jugendverband (SJV) und Mayer wurde Vorsitzender der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands in Köln im Bezirk Mittelrhein. Sozialisten sind beide bis an ihr Lebensende geblieben.

Bei dem Treffen im Frühjahr 1964 in der Wohnung von Günter Grass ging es um politisch strategische Überlegungen zwischen Führungsleuten der SPD und mit der Partei respektive mit Willy Brandt sympathisierenden Schriftstellern zu einem Machtwechsel in der Bonner Republik. „Das Jahr 1964 bedeutet heute – im Rückblick – den Anfang vom Ende des Adenauer-Staates. … im Jahre 1964 wurde offensichtlich, daß der achtundachtzigjährige Bundeskanzler sich auch im Bundespräsidenten Heinrich Lübke getäuscht hatte. Denn Lübke, das sollte sich bald herausstellen, wünscht mit einer großen Mehrheit der Kanzlerpartei den Wandel.“[3] Fritz Erler, der Stellvertreter Brandts, erläuterte an jenem Abend die vorgesehene Strategie der SPD. Brandt selbst beschränkte sich auf die Gesprächsleitung.  „Er saß da, trank seinen Rotwein, erteilte das Wort. Seine innere Anteilnahme schien weitgehend der Nachbarin Ingeborg Bachmann zu gelten, die wunderschön war an jenem Abend.“[4]

Ein Jahr später hielt Hans Mayer am 9. November 1965 seine Antrittsvorlesung als Professor an der Universität in Hannover unter dem Titel »Sprechen und Verstummen der Dichter«. Gegen viele Widerstände hatte er die Berufung auf den Lehrstuhl auch Willy Brandt zu verdanken und damit „seine Bestallung als deutscher Beamter auf Lebenszeit.“ Die Rede über »Sprechen und Verstummen der Dichter« wurde 1969 in einem kleine Essayband der edition Suhrkamp mit dem Buchtitel »Das Geschehen und das Schweigen« veröffentlicht.[5] Diese etwas ungewöhnliche Titelformulierung findet sich identisch wieder in den 1989 erschienen Erinnerungen von Willy Brandt.[6] In Brandts Buch wird die antithetische Formulierung Mayers zweigeteilt. „Die Überschrift »Das Geschehen« steht über Brandts Bericht zur Affäre um den Ostspion Günter Guillaume. Dann wird der Hergang berichtet, der zur Demission Brandts vom Amt des deutschen Bundeskanzlers führen sollte. Überschrift des Erinnernden »Das Schweigen«.[7] Die Erinnerungen Brandts sind allerdings mariginal, was die wirklichen Gründe und Diskussionen in der SPD und der damaligen Koalition mit den Freien Demokraten anbetrifft. Eine der besten Schilderungen und historischen Einschätzungen findet sich in dem hervorragenden Dokudrama Heinrich Breloers »Wehner – Die unerzählte Geschichte. Die Nacht von Münstereifel«.

In dem Kapitel »Im Dickicht der Städte« seines Brandt-Buches geht Hans Mayer auf den Fall Guillaume ein. „Vielleicht ist die Lösung so vieler unklar gehaltener und gebliebener Fragen dadurch zu erklären, daß zur Zeit des Fall Guillaume nicht nur, wie verständlich, christlich-demokratische Politiker entschlossen waren, die Macht zurückzugewinnen, sondern auch ein tiefer Konflikt zwischen Herbert Wehner und Willy Brandt entstanden war. Es ging um eine Grundfrage künftiger deutscher Politik. Willy Brandt verstand die Aussichten bundesdeutscher Politik als »Wandel durch Annäherung«. Er wünschte eine positive und friedliche Koexistenz der beiden deutschen Staaten…. War Wehner … ein entschiedener Gegner eines weitgehenden Wandels durch Annäherung zwischen BRD und DDR? So scheint es der späte Willy Brandt gesehen zu haben.“[8] Diese Sichtweise teilt auch Hans Mayer, wie in dem Kapitel über Herbert Wehner deutlich wird.

Schon als Außenminister in der Regierung Kiesinger hatte Willy Brandt seine zukünftige Ostpolitik vorbereitet. Ein in den gängigen Publikationen oder Kommentaren wenig genanntes Ereignis war eine Tagung zur »Exil-Literatur 1933-1945« vom 17.-19. Januar 1968 in Luxemburg. Dort trafen sich Schriftsteller, Wissenschaftler und Politiker, die aus politischen Gründen 1933 bis 1945 im Exil leben mussten. Die Schirmherrschaft hatten Pierre Grégoire, Außen- und Kultusminister von Luxemburg und Willy Brandt als Außenminister der BRD. In seiner Begrüßung stellte er fest: „Unsere auswärtige Politik ist am Generalnenner der Friedenssicherung orientiert. Deshalb sagen wir illusionslos ja zur Entspannung und stellen dafür keine Vorbedingungen. Wir haben erkannt: nur durch eine europäische Friedensordnung kann die Spaltung und Schwächung unseres Kontinents überwunden werden. Nur so werden auch die beiden Teile Deutschlands wieder zueinander finden können. In dieser Überzeugung bleiben wir bei dem, was einige von uns schon vor 1945 sagten, als wir gegen ein »deutsches Europa«, aber für ein »europäisches Deutschland« eintraten.“[9] Der luxemburgische Außenminister, der fünf Jahre im KZ verbracht hatte, begrüßte die zahlreichen Gäste zu denen auch Golo Mann, als Vortragender, sowie Walter Fabian, Max Horkheimer und viele andere gehörten.Horkheimer, Richard Friedenthal und viele andere gehörten. Er stellte deutlich die Bedeutung des Widerstandes und die Leistung der deutschen Menschen im Exil heraus. Hans Mayer, der einen umfangreichen Vortrag über Thomas Mann, u.a. als die Stimme der deutschen Kultur im Exil hielt, fasst in seinem Willy Brandt-Buch zusammen: „Mit Recht erkannte der neue Außenminister, daß zum Zerstäuben ideologischer Residuen vor allem auch eine neue und deutliche Abgrenzung von den Untaten des Dritten Reiches gehörte. Willy Brandt selbst war als Emigrant aus Norwegen in die ersehnte deutsche Freiheit zurückgekehrt. Man hat es ihm nicht gedankt: er habe »gegen uns gekämpft in der Stunde unserer Not«. Nun sollte ein Emigrant von einst die deutsche Außenpolitik verantworten. Es war, gerade weil weite Teile der Bevölkerung Vergesslichkeit vortäuschten, vor allem wichtig, klar über die deutsche Politik seit 1933 zu sprechen. Also auch über das Widerstandsrecht. Auch über politisches Dissidententum. Nicht zuletzt über einen demokratischen Alltag in der Bundesrepublik Deutschland. … damals in Luxemburg durfte man, im Grunde zum ersten Mal nach den lange zurückliegenden frühen Nachkriegsjahren, von neuem Hoffnung schöpfen: in beiden deutschen Staaten. Die Achtundsechziger in der Bundesrepublik Deutschland machten deutlich, daß Schluss sein müsse mit dem Verschweigen und Verdrängen und den Redensarten wie »in jenen schrecklichen Jahren…«.[10]

In seinen Erinnerungen stellt Brandt fest, dass er die Studentenrevolte aufmerksam beobachtet habe, auch außerhalb der deutschen Grenzen. Er hält fest, daß sein Rat an die Regierung und auch an die Partei der er angehörte, war, der kritischen Jugend gut zuzuhören. Doch selbstkritisch stellt er fest: „… was die junge Generation, und zwar nicht ihren schlechtesten Teil, umtrieb, hab ich nicht gut genug verstanden, vielleicht auch nicht verstehen wollen; abgestandener Wortradikalismus machte den Zugang schwer.“[11] Sein großer Verdienst aber ist tatsächlich das, was er im Schlußsatz seiner Erinnerungen festhält: „Mitgetan zu haben, daß der deutsche Name, der Begriff des Friedens und die Aussicht auf europäische Freiheit zusammengedacht werden, ist die eigentliche Genugtuung meines Lebens.“[12]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer, Erinnerungen an Willy Brandt, Frankfurt am Main 2001
[2] A.a.O., S.30f
[3] A.a.O., S.32-34
[4] A.a.O., S.36
[5] Hans Mayer, Das Geschehen und das Schweigen, Frankfurt am Main 1969, S. 11-34
[6] Willy Brandt, Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989, Seite 315-341
[7] Hans Mayer, Erinnerungen an Willy Brandt, S. 49
[8] A.a.O., S. 53f
[9] Exil-Literatur 1933-1945, Inter Nationes Bad Godesberg 1968, S. 8
[10] Hans Mayer, Erinnerungen an Willy Brandt, S. 41-45
[11] Willy Brandt, Erinnerungen, S. 274
[12] A.a.O., S. 500.

Jean Améry als Aufklärer

Vortrag Professor Susan Neimans bei der Hans Mayer Lecture 2022

Mit einer eindrücklichen Liebeserklärung für den anderen Hans Mayer startete die Direktorin des Einstein Forums, Professor Susan Neiman, ihren furiosen Vortrag über den Aufklärer Jean Améry im Brechtbau der Uni Tübingen: Améry ist einer meiner Helden, der vermutlich mehr als jeder andere meine eigene Schriftstellerei beeinflusst hat. Doch über ihn zu schreiben ist so einschüchternd wie nur irgendetwas, denn kaum jemand schreibt so wunderbar wie er. Seine Klarheit, seine Leidenschaft, seine Ironie, sein Mut und sein untrüglicher Geschmack machten aus ihm einen Meister deutscher Prosa.“[1]

Jean Améry wurde am 31. Oktober 1912 unter dem Namen Hans Mayer in Wien geboren. Nach der Besetzung Österreichs durch die Nationalsozialisten ging er nach Belgien ins Exil. Als dieses besetzt wurde, trat er einer Widerstandsgruppe bei. Im Juli 1943 wurde er beim Verteilen von Flugblättern gegen die Besatzer verhaftet und in der Festung »Fort Breendonk« interniert und schwer gefoltert. Im Januar 1944 wurde er ins Konzentrationslager Ausschwitz eingeliefert. Es folgten weitere Verschleppungen ins KZ Mittelbau Dora und anschließend in das KZ Bergen-Belsen. Nach der Befreiung durch die Engländer am 15. April 1945 ging er zurück nach Belgien. [2] Über seine Verhaftung und die Zeit in den Konzentrationslagern veröffentlicht er 1966 eines seiner beeindruckendsten Bücher: »Jenseits von Schuld und Sühne«.

Skizze Amérys von Pieke Biermann im Februar 1970 in Hans Mayers Seminar in Hannover (© Biermann)

Lassen wir dazu Susan Neiman zu Wort kommen: Über ein Leben, das in den Provinzromantik begann und ihn durch Exil, Widerstand, Folter und Auschwitz geführt hat, wird man sicherlich sagen können, es sei von allem, was im 20. Jahrhundert entscheidend war, ergriffen worden. Erst recht, wenn sich dieses Leben durch eine ungeheure Belesenheit auszeichnet: Seine Kenntnis des modernen Denkens kann man im wahrsten Sinne des Wortes „intim“ nennen. Dass Améry sich mit großem Erfolg in Selbsterkenntnis übte, lag nicht allein daran, dass sein Leben als archetypisch gelten darf oder er es mit großer Intelligenz bewältigte, wovon der ständige Dialog zwischen Konkretem und Theoretischem zeugt. Vor allem seine ätzende Selbstkritik hat Anteil daran. Da er das Wort „luzide“ schätzte, konnte er auf das modischere „authentisch“ verzichten; was man zeigen kann, muss man nicht sagen.“

Diese Formulierung steht in seltsamer Kongruenz zu dem berühmten Schlusssatz von Ludwig Wittgensteins »Tractatus logico-philosophicus«. Mit dessen Schriften und dem Denken Kants war Améry sehr vertraut. Sie, aber auch die Schriften von Jean-Paul Sartre, haben sein Denken und Schreiben nachhaltig beeinflusst. Außer dem bestechenden Stil seiner Formulierungskünste ist sein Schreiben laut Neiman durch Wesen und Bedeutung des Subjekts und Verhältnis subjektiver Erfahrung zur Wirklichkeit geprägt. „Amérys Selbsterkundung nahm ihren Ausgang von der Erfahrung der absoluten Verneinung des Selbst. Lange nach Kriegsende erschütterte ihn jeden Morgen von Neuem jenes Brandmal, das in Auschwitz aus Hans Mayer den Häftling 172364 gemacht hatte und nun auf seinem Wiener Grabstein steht. Mit der Behauptung seiner Subjektivität reiht sich Améry in die altehrwürdige philosophische Tradition des Strebens nach Selbsterkenntnis ein; es ist auch ein Akt der Auflehnung.“

Das Thema des Buches »Jenseits von Schuld und Sühne« sind die „Grenzen des Geistes“. Zwanzig Jahre lang hatte Améry keine ihm geeignet erscheinenden Worte gefunden, um über 12 Jahre des Naziterrors zu sprechen. Mit dem Ausschwitzprozess von 1964 drängte sich ihm dann die Frage der Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager auf. Im „Vollzug der Niederschrift“ auch mit welcher Methode er das Thema bewältigen konnte. Nicht in distanzierter wissenschaftlicher Betrachtung, sondern durch die Erzählung der eigenen „Opfer-Existenz“. Mit dieser Darstellung wendet er sich an die Deutschen, die „von den finsteren und kennzeichnenden Taten des Dritten Reiches nichts wissen wollen oder sich nicht mehr betroffen fühlen. Die Tortur, Schuld und Sühne sowie der Zwang und die Unmöglichkeit, Jude zu sein sind Themen des Buches.

Für Neiman die vernichtendste Anklage gegen die Vernunft, die sie gelesen hat: „Mit seinen Überlegungen zur Haltung der Intellektuellen in Auschwitz will Améry beschreiben, was geschieht, wenn sich die reine Vernunft dem absolut Bösen gegenübersieht. Seine Antwort fällt düster aus. Nicht allein, dass das absolut Böse den Sieg davontrug, es vernichtete den Intellekt in kürzester Zeit. Der Trost der Philosophie mag in einem römischen Gefängnis gewirkt haben, in Auschwitz blieb er nur ein paar Wochen. Dort, wie auch unter Folter der Gestapo wurde, was ein Mensch war, in bloßes Fleisch verwandelt. »Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewehrten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen.«[3] Die Leichtigkeit mit der sich alles, was wir Verstand, Seele oder Geist nennen, zerstören ließ, erstaunte Améry sein Leben lang. In Auschwitz ließ ihn die Vernunft vielfach im Stich.“

Im weiteren Verlauf ihres fesselnd-kämpferischen Vortrags ging Susan Neiman dann über zu Amérys Auseinandersetzung mit Adorno. Sie spannte dabei den Bogen von dem berühmten Zitat, dass „nach Ausschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch ist“[4], bis zur Kritik an Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung«. Dieses 1949 formulierte und 1951 erstmals veröffentlichte Verdikt Adornos hat eine vielfältige Debatte hervorgerufen. Einen guten Überblick dazu gibt Peter Stein in seinem Beitrag “Darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.”[5] Die Kritik Amérys hat Adorno wohl mehr zu einer Revision gebracht, als das immer wieder zitierte Gegenbeispiel von Celans »Todesfuge«. In der 1966 erschienen »Negativen Dialektik« schreibt Adorno: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. Sein Weiterleben bedarf schon der Kälte, des Grundprinzips der bürgerlichen Subjektivität, ohne das Auschwitz nicht möglich gewesen wäre: drastische Schuld des Verschonten. Zur Vergeltung suchen ihn Träume heim wie der, daß er gar nicht mehr lebte, sondern 1944 vergast worden wäre, und seine ganze Existenz danach lediglich in der Einbildung führte, Emanation des irren Wunsches eines vor zwanzig Jahren Umgebrachten.“[6]

Angeregte Gespräche beim Empfang nach dem Vortrag              Foto: HB

In verschiedenen Beiträgen kritisiert Améry die »Dialektik der Aufklärung«[7] von Adorno und Horkheimer, die er nach ihrem Erscheinen mit Begeisterung gelesen hatte.[8] Er konstatiert und darauf weist Neiman nachdrücklich hin: „Was hat sich ereignet, dass die Aufklärung zu einem ideengeschichtlichen Relikt wurde, gut genug allenfalls für emsig-sterile Forscherbemühtheit? Welche traurige Abirrung hat es dahin gebracht, dass zeitgemäße Denker Begriffe wie Fortschritt, Humanisierung, Vernunft nur noch unter vernichtenden Gänsefüßchen zu gebrauchen wagen?“[9] Diese Kritik findet sich in vielen anderen Aufsätzen Amérys. Die entgegen solchen Erfahrungen widerständige Haltung Amérys bringt Neiman auf den Punkt: „Im Einspruch gegen jedes der Vernunft zuwiderlaufende Vorkommnis finden wir den Wert des Menschen: Nur dank dieser Revolte gegen die Wirklichkeit sind wir fähig, Geschichte zu machen, Sinn und Würde zu schaffen. Wenn Amérys Verteidigung dieser Ideen so zu bewegen weiß, so ist der Nachweis ihrer Antithese nicht weniger schlagend. Denn kein anderer Autor hat Reflektion und Erfahrung so erfolgreich verbunden, um uns davon zu überzeugen, dass dieses Unterfangen spätestens nach Auschwitz zum Scheitern verurteilt ist.“

Amérys Ringen um die Bewältigung dieser Antinomie durchzieht sein gesamtes Werk. Damit, so Neiman, steht er auch in der Nachfolge Kants. Auf die Frage, wo er sich philosophisch verorte, bezeichnete er sich als existentialistischen Positivisten.[10] Der Blick des Aufklärers Améry war auf die Zukunft gerichtet. Wenn Améry hart mit Adorno in Gericht ging, so tut er dies noch viel nachhaltiger mit Foucault. Viele seiner Artikel über diesen und die anderen neuen Philosophen in Frankreich, mit deren Werken er außerordentlich gut vertraut war, kritisieren die neue Philosophie der Glucksmann, Lévy und anderer als alten Nihilismus.[11] Neiman pointiert: „So wie Améry es sieht, ist für Foucault und andere Strukturalisten „das System … alles, der Mensch nichts“, und dass, obwohl diese Autoren nur vage definieren, was das System ist. Wenn Struktur alles ist, wo bleibt dann noch Raum für menschliches Eingreifen? Tatsächlich, so Améry, gebe es für Foucault im historischen Prozess kaum so etwas wie Kausalität. Améry formuliert dem gegenüber: „Der Mensch als geschichtliches und moralisches Wesen ist frei nur, wenn er aus dem Panzer der Strukturen auszubrechen vermag; dass dies im Feld seines Möglichen liegt, hat er oft genug bewiesen.“[12] Foucault interessiert sich nicht für Beispiele von Befreiung, vor allem deshalb nicht, weil er glaubt, dass jede Befreiung sich bloß als eine subtilere Form der Unterdrückung entpuppt. „Mit diesem Manne ist nicht zu spaßen. Demystifikation ist sein unerbittliches Geschäft, Zerstörung humanistischer, melioristischer Illusionen sein brennendes Desiderat.“[13]

Neiman resümierte zum Schluss ihres Vortrages: „Wenn wir nicht anerkennen können, dass in der Vergangenheit, der ein oder andere Fortschritt erzielt worden ist, werden wir niemals den Willen in uns finden, weitere Fortschritte zu machen. Ein Werk, das darauf abzielt, alle früheren Fortschrittsversuche zu dekonstruieren, ist nicht bloß defätistisch – obgleich es das auch ist –, es kann vor allem nicht beanspruchen, links zu sein.“

Kein Wunder, dass in der an ihren Vortrag sich anschließenden Diskussion Amérys und auch ihr eigener kritischer Blick auf den fehlenden oder vernachlässigten Blick Adornos und Foucaults auf den Fortschrittsbegriff Thema der Debatte war.

In Kenntnis der Tübinger Debatte bemerkte der gastgebende Professor Eckart Goebel, der dankenswerterweise in seinem Begrüßungsstatement kenntnisreich die Rednerin vorgestellt hatte, an, dass der Geist Foucaults in der aktuellen Uni-Debatte durchaus virulent sei.

Mit ihren versierten Antworten zeigte die Direktorin des Einstein Forums, dass sie in der Debatte auf der Höhe der Zeit ist. Die vorgebrachten Gegenargumente brachten sie nicht davon ab, ihren fortschrittsbezogenen, kritisch linken Standpunkt aufrechtzuerhalten; ganz im Sinne Jean Amérys.

Über diesen – „seinen Freund und Doppelgänger“ – hatte Hans Mayer am 29. Oktober 1978 in seinen Gedenkworten in der »Akademie der Künste« formuliert: „Von Büchern, wie sie Jean Améry schrieb, hat ein Leser, der wirklich gemeint war, stets alles zu befürchten. Hier schrieb einer, der sich auskannte. Der wußte, was mit Worten wie Unfreiheit und Folter, Ohnmacht und Terror, aber auch wie Freiheit und Solidarität nur unzulänglich beschrieben werden konnte.“[14]

Heinrich Bleicher

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Wann und wo Professor Susan Neiman ihren Tübinger Vortrag veröffentlichen wird, ist noch offen. Es besteht allerdings die Möglichkeit, ein aktuelles Interview mit ihr zu sehen. Der Stellvertretende Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft hat mit ihr ein Gespräch für den Klett-Cotta-Blog geführt. In diesem Verlag sind die Werke von Jean Améry erschienen.

Siehe blog klett-cotta: http://blog.klett-cotta.de/sachbuch/nachgefragt-susan-neiman-spricht-ueber-jean-amery/

[1] Die Zitate aus Neimans Vortrag sind im Weiteren kursiv gesetzt.
[2]Zu den englischen Soldaten, die das KZ Bergen-Belsen befreiten, gehörte auch Harold Livingston (Helmut Löwenstein). Der in Stuttgart geborene Sohn des Mitbegründers der Mössinger Pausa, Artur Löwenstein, musste 1936 aus Schwaben fliehen. In England schloss er sich dem britischen Militär an. Im Alter von 22 Jahren sah er entsetzt das Grauen der Shoah in Bergen-Belsen. – Siehe dazu: Harold Livingston: Meine Erlebnisse nach der „Machtergreifung“ der Nazis. In: Irene Scherer, Welf Schröter, Klaus Ferstl (Hg.): Artur und Felix Löwenstein. Würdigung der Gründer der Textilfirma Pausa und geschichtliche Zusammenhänge, Mössingen 2013, S. 111-132.
[3] Jean Améry, Die Tortur, in: Jenseits von Schuld und Sühne, Stuttgart 2015, S. 73f.
[4] Das vollständige Zitat lautet: »Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ist, heute ein Gedicht zu schreiben.« Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften Bd. 10/1, S. 30.
[5] Siehe Peter Stein Peter Stein, “Darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.” (Adorno) in: Weimarer Beiträge (1996), H. 4, S. 485 – 508.
[6] Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1967, S. 353f. In seiner Vorlesung zur Metaphysik geht Adorno konkret auf Jean Amérys Essay zur Tortur – erschienen damals im »Merkur« – ein. Der Herausgeber dieser Schriften, Rolf Tiedemann, fügt dann auch die konkreten Textnachweise hinzu. Siehe: Theodor W. Adorno, Metaphysik -Begriffe und Probleme, Frankfurt 1998, S. 274 und 276f.
[7] Die erste gedruckte Auflage erschien 1947 im Querido-Verlag in Amsterdam. In leicht überarbeiteter Fassung wieder 1969 und 1971 als Taschenbuch. In den 60er Jahren als begehrter Raubdruck.
[8] Jean Améry, Aufklärung als Philosophie perennis, in Werke Bd. 6, S. 554.
[9] A.a.O., S. 549.
[10] Siehe dazu Jean Améry, Rückkehr des Positivismus? In Werke Bd. 6, S. 359- -373, insbesondere 363-365.
[11] Siehe Jean Améry, Neue Philosophie oder alter Nihilismus – Politisch-Polemisches über Frankreichs enttäuschte Revolutionäre (1978), in: Werke Bd. 6, S. 232-254.
[12] Jean Améry, Wider den Strukturalismus, in: Werke Bd. 6, S.105.
[13] Jean Améry, Michael Foucaults Vision des Kerker-Universums, in: Werke Bd. 6, S.211.
[14] Hans Mayer, Gedenkworte für Jean Améry, in Werke Bd. 9, S. 568f.