Gegen den Affront der extremen Rechten

Heute erreichte uns ein Brief von Mona und Kim, der Enkel Walter und Dora Benjamins aus London. In dem nachfolgenden Statement nehmen sie Stellung zu der geplanten Initiative des neuen rechten Bürgermeisters (RN) in Perpignan das Kulturzentrum “Walter Benjamin” für seine Strategie der Entdiabolisierung zu instrumentalisieren:[1]

“Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung bei unserer Kontaktaufnahme mit Ihnen bezüglich der Angelegenheit Louis Aliot und seines Vorschlags zur Wiedereröffnung des Centre d’Art Contemporain Walter Benjamin in Perpignan unter seinem Mandat als Bürgermeister.
Es hat einige Zeit gedauert, darauf zu antworten, weil es uns, ehrlich gesagt, die Sprache verschlagen hat. Es ist eher eine Untertreibung zu sagen, dass die Vorstellung, dass der Name unseres Großvaters benutzt wird, um die Ideale und Ideen der extremen Rechten zu fördern, uns mit Schrecken erfüllt.
Aliot und das Rassemblement National stehen für alles, wogegen unser Großvater, aber auch unsere Großmutter Dora Benjamin und unser Vater Stefan emotional, politisch und intellektuell waren.
Allein die Vorstellung, dass unser Familienname benutzt werden könnte, um die Überzeugungen der extremen Rechten zu zelebrieren und zu propagieren, ist ein Affront gegen die Geschichte unserer Familie und gegen die kollektive Geschichte all jener, die für eine bessere Welt, für Fairness und für die Rechte aller gekämpft haben und weiterhin kämpfen.
Das macht uns krank. Seien Sie versichert, dass wir in Ihrem Protest gegen diesen Vorschlag an Ihrer Seite stehen, und wenn es irgendetwas gibt, was wir tun können, irgendeine Maßnahme, die wir ergreifen können, ob klein oder groß, würden wir gerne helfen. Wir müssen das.
Unser Vater wäre voll Zorn und Verzweiflung über diese jüngsten Entwicklungen gewesen und hätte dafür gekämpft, den Namen seines Vaters davor zu schützen, auf diese Weise benutzt zu werden.”

(Übersetzung: HB)

[1] Siehe den Beitrag vom 7. Juli auf dieser Seite


“Please accept our apologies for the delay in getting in touch regarding the matter of Louis Aliot and his proposal to re-open the Centre d’Art Contemporain Walter Benjamin in Perpignan under his mayorship.
It has taken us some time to reply because, in all honesty, we are at a complete loss for words. To say that the thought of our grandfather’s name being used to promote the ideals and the ideas of the far right fills us with horror is an understatement.
Aliot and the Rassemblement National stand for everything that our grandfather, as well our grandmother, Dora Benjamin, and our father, Stefan, were against, emotionally, politically and intellectually.
The very notion that our family name might be used to celebrate, and propagate, the beliefs of the extreme right is an affront to our family’s history and to the collective history of all those who have fought, and who continue to fight, for a better world, for fairness and for the rights of all.”
It sickens us. Please know that we stand with you in your protest against this proposal and if there is anything that we can do, any action that we can take, small or large, we would like to help. We must.
Our father would have been filled with anger and distress at these latest developments and would have fought to protect his father’s name from being used in this way.”

»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein«

Es ist nie endgültig geklärt worden, aber in seiner schwarzen Aktentasche, die Walter Benjamin auf der Flucht aus Frankreich nach Portbou mit sich trug, hatte er wohl ein Manuskript seiner Thesen »Über den Begriff der Geschichte« bei sich. Der Inhalt dieser Thesen, geschrieben vor 80 Jahren, reicht bis in die aktuelle Gegenwart und Benjamin zeigt sich als brillanter Analytiker der Vorgänge, die sich vor unseren Augen abspielen.

Gedenkstein für Walter Benjamin auf dem Friedhof in Port Bou – Foto: H. B.

Die Ergebnisse der Kommunal-Wahlen in Frankreich kritisieren die herrschende Politik des Präsidenten Macron nachhaltig. Unerwartet werden wesentliche Städte von fortschrittlichen Bündnissen mit Grünen gewonnen oder auch wie in Paris von den Sozialisten gehalten. In Lyon, Marseille, Bordeaux, Straßburg und Grenoble sind Grüne und andere linksgerichtete Kandidaten und Kandidatinnen an der Spitze. Die Regierung tritt zurück und Macron versucht, mit Jean Castex als neuem Premierminister seine geschwächte Position zu festigen. Seine Hauptgegnerin von der „Rassemblement National“ (RN) kann nicht an vielen Orten Fuß fassen, aber als einzige größere Stadt gewannen die Rechten das südfranzösische Perpignan. Dort hat sich Louis Aliot, an der Spitze eines Rechtsbündnisses durchgesetzt. Er präsentiert und repräsentiert in Auftreten und Konzeptionen ein anscheinend in der Mitte der Gesellschaft sich bewegendes „Rassemblement National“.

Seit 2013 gibt es in Perpignan ein Kulturzentrum mit dem Namen Walter Benjamin, der die Stadt wohl in der Endphase seines Exils passiert hat, um nach Port-Vendre zu kommen wo er seine Fluchthelferin Lisa Fittko getroffen hat. Dieses „Centre d´ Art“ hat sich nach einem glorreichen Start 2014 allerdings nicht zu einem renommierten Museum für zeitgenössische Kunst entwickelt. Louis Aliot hat, als neuer Bürgermeister des Ortes, bekannt gegeben, es mit einer neuen Konzeption wiederzubeleben. Er will es zu einem Ort machen, der „der Schöpfung und der Pflicht zur Erinnerung gewidmet ist, mit Einrichtung von Ausstellungen, Konferenzen, Künstlerresidenzen, Schöpfungen vor Ort.“ Zusätzlich will er es zu einem Zentrum machen, das dem jüdischen Gedächtnis, dem Schicksal der Zigeuner und der tragischen Geschichte der spanischen „Retirada“ dient. Das klingt irreal und ist nicht zu glauben, wenn das RN tagtäglich Ausländer und Migranten in all ihren Formen stigmatisiert.

Ein berechtigter Aufschrei der Empörung kommt von linken Intellektuellen, die die Weichwasch-Strategie des RN nur zu klar durchschauen.[1] Es setzt sich fort, was Walter Benjamin in seiner VII. These formuliert hat. „Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die jemals gesiegt haben. … Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter.“[2] Es gilt also, die Vereinnahmungs-Strategie des Herrn Aliot genau zu verfolgen und „gegen den Strich zu bürsten“ um „das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“.[3] Benjamins Thesen sind, um mit Hans Mayer zu sprechen, keine Absage an das utopische Denken. Der Engel der Geschichte blickt zurück. „Die Hoffnung liegt im Vergangenen“ mit dessen Kenntnis der Aufbruch in die Zukunft erfolgen muß.[4]

[1] Siehe den nachstehenden Aufruf: Offener Brief vom 30. Juni 2020.
[2] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, GS, Bd I. 3, S.696
[3] A.a.O., S.702
[4] Hans Mayer, Der Zeitgenosse Walter Benjamin, Frankfurt am Main 1992, S.77


Nachtrag 1:

Die Akademie der Künste wendet sich nachdrücklich gegen die Vereinnahmung des Gedenkens an Walter Benjamin durch die französische Rechte. Sie erklärt sich solidarisch mit dem Brief der französischen Intellektuellen, der am 30. Juni in “Le Monde” veröffentlicht worden ist:

Pressemeldung der Akademie der Künste vom 03.08.2020:

Akademie der Künste protestiert gegen die Vereinnahmung des Gedenkens an Walter Benjamin durch die französische Rechte

AdK_PM_2020.08.03_PRAES_Benjamin(1)
_____________________________________________________

Nachtrag 2:

Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten
hat sich auch mit einer Stellungnahme zu dem Thema geäußert:

Berlin, 08.07.2020

Verkehrte Welt?
Gegen den politischen Missbrauch des Gedenkens an Walter Benjamin

Wer zur Zeit nach Perpignan blickt, muss mit Verblüffung erleben, dass ein wichtiger Vertreter der extremen Rechten, Louis Aliot, neu gewählter Bürgermeister der Stadt, ehemaliger Lebensgefährte von Marine LePen und Vizepräsident des Rassemblement National (RN) das gegenwärtig geschlossene Walter-Benjamin-Zentrum für zeitgenössische Kunst möglichst bald wiedereröffnen will. Was verbindet Louis Aliot und den RN mit dem deutsch-jüdischen Schriftsteller und Emigranten Walter Benjamin? Kurz gesagt: Nichts!

Walter Benjamin, der als deutscher Jude und Antifaschist schon 1933 nach Frankreich fliehen musste, konnte dank der Unterstützung der antinazistischen Emigration in Frankreich überleben. Als der deutsche Faschismus Polen überfiel, wurde er gemeinsam mit mehreren tausend deutschen Emigranten als „feindlicher Ausländer“ von der konservativen Regierung knapp drei Monate in Frankreich interniert. Im November 1939 aus dem Internierungslager entlassen flüchtete Benjamin nach Lourdes, von wo er zunächst weiter nach Marseille reiste, bevor er im September 1940, nach dem deutschen Überfall auf Frankreich und der Etablierung des Vichy-Regimes im „unbesetzten Teil“, versuchte, über Spanien nach Portugal zu fliehen und von dort mit einem USA-Visum auszureisen. Zwar gelang ihm mit Hilfe von französischen Antifaschisten bei Portbou der Grenzübertritt nach Spanien. Aus Angst vor einer Auslieferung an die Deutschen nahm er sich jedoch in der Nacht vom 26./ 27. September 1940 das Leben.

Walter Benjamin repräsentiert damit das genaue Gegenteil der politischen und kulturellen Positionen und der historischen Bilder, für die französische Rechte in Form des Rassemblement National (RN) bis heute steht.

Vollmundig kündigte Louis Aliot an, aus dem Kulturzentrum solle ein Dokumentationszentrum über Flucht und Vertreibung werden. Jüdische Flüchtlingsschicksale sollten hier genauso beschrieben werden wie die der spanischen Republikaner, die gegen Franco kämpften und nach Frankreich fliehen mussten. Auch der Sinti und Roma solle gedacht werden. Was so respektabel klingt, hat nur einen einzigen Zweck: Der RN solle salonfähig werden und den „rechtsradikalen, antisemitischen, fremdenfeindlichen Mief“ loswerden, wie Jürgen Ritte, Literaturwissenschaftler an der Sorbonne-Nouvelle, betont.

Die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) – Bund der Antifaschisten, die Dachvereinigung von Organisationen ehemaliger Widerstandskämpfer, Partisanen, Angehörigen der Anti-Hitler-Koalition, Verfolgten des Naziregimes und Antifaschisten heutiger Generationen aus mehr als zwanzig Ländern Europas und Israels verurteilt dieses unwürdige Schauspiel des RN und die Instrumentalisierung von Walter Benjamin.

Die FIR setzt sich mit ihren Mitgliedsverbänden in Frankreich und anderen Ländern seit Jahrzehnten für ein angemessenes Gedenken an alle antifaschistischen Kämpfer und Verfolgte der faschistischen Terrorregime ein. Sie fordert von der französischen Regierung, ein würdiges Gedenken an Walter Benjamin zu gewährleisten. Dabei unterstützt sie den Appell französischer Intellektuelle, die sich in der Tageszeitung „Le Monde“ in einem offenen Brief gegen die Pläne von Louis Aliot und dem RN positioniert haben.

Dr. Ulrich Schneider
Generalsekretär

Die französische Originalfassung: http://www.hans-mayer-gesellschaft.de/wp-content/uploads/2020/08/2020-Verkehrte-Welt-Benjamin-fr-1.pdf

_____________________________________________________

»Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.«
Für Walter Benjamin

Offener Brief

Knapp 80 Jahre trennen uns von diesen Worten, die heute unheilverkündend klingen.

Nach dem „escape game“ (Fluchtspiel) Portbou’s getreu dem Motto “Rettet Walter Benjamin”  – einem obszönen Rollenspiel, das die Teilnehmer einlud, seine letzten Tage noch einmal zu erleben –  folgt nun die dunkle, viel ernstere Zeit einer ganz anderen Ordnung, die Zeit einer neuen Instrumentalisierung des Schicksals des deutschen Philosophen, der sich umgebracht hat, um dem Nationalsozialismus zu entkommen. Ein Verrat ganz anderen Ausmaßes.

In der Tat entdecken wir an der Wende im Programm von Louis Aliot, Abgeordneter des „Rassemblement National“( Nachfolgeorganisation des Front National, CWA) und Kandidat “ohne Etikett” für das Rathaus von Perpignan, – nicht ohne Schaudern -, seinen erklärten Willen, das “Kunstzentrum Walter Benjamin”, das derzeit geschlossen ist, wieder zu eröffnen, um es zu einem Ort zu machen, der „der Schöpfung und der Pflicht zur Erinnerung gewidmet ist (Einrichtung von Ausstellungen, Konferenzen, Künstlerresidenzen, Schöpfungen vor Ort…)“. Werden wir es zulassen, dass Walter Benjamin zur Beute, zur Trophäe, zur Kriegsbeute wird, in dem gewaltigen Versuch der Entdämonisierung des „RN“, der zu diesem Zweck nicht zögert, sich zusätzlich zum jüdischen Gedächtnis, des Schicksals der Zigeuner und der tragischen Geschichte der spanischen „Retirada“ (Der Flüchtlinge des spanischen Bürgerkriegs. CWA) zu bemächtigen?

Erinnerung und Geschichte verpflichten. Sie verpflichten uns, und erinneren daran, dass sich die Partei von Herrn Aliot im Erbe der nationalistischen, politischen Bewegungen befindet, vor denen Benjamin in den 1930er und 1940er Jahren zuerst in Deutschland, dann in Frankreich und in Europa gezwungen wurde zu fliehen, die ihn verfolgten und gegen die er immer wieder aufstand. Einer unter vielen anderen „Namenlosen“, der für sie Zeugnis ablegen muß.

Es ist dringend notwendig, sich ihrer und ihrer Kämpfe zu erinnern und in unserer Gegenwart dieses schreckliche Urteil in vollem Umfang zu ermessen: »Auch die Toten werden, vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.« [W.B. Über den Begriff der Geschichte, (1940) GS I.1, S. 695]

Es ist dringend notwendig ihnen den Namen Walter Benjamin zu entreißen – um ihn zu schützen – vor den Händen der äußersten Rechten und all derjenigen, die die Geschichte der Unterdrücker von gestern umschreiben wollen, während sie Ausländer und Migranten in all ihren Formen stigmatisieren.

Wir sind davon überzeugt, dass die Erinnerung an das, was sich in Port Bou, nur einen Steinwurf von Perpignan entfernt, abgespielt hat, für Walter Benjamin wie für so viele andere, uns dazu verpflichtet, mit größter Eindeutigkeit zu reagieren. „No pasaran!“ [„Sie kommen nicht durch“: Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg. CWA)]

In diesem Geist des Widerstands gegen alle Formen des Vergessens und der Manipulation unseres kollektiven Gedächtnisses, widersetzen wir uns entschieden und mit allen verfügbaren Mitteln, dagegen, dass der Name Walter Benjamins während der Legislaturperiode eines Bürgermeisters des „Rassemblement National“ im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung eines Kunstzentrums in Perpignan in Verbindung gebracht wird.

(Übersetzung Claudia Wörmann-Adam)

  1. Juni 2020

Liste der ersten Unterzeichner und Unterzeichnerinnen:

Michael Löwy, Philosoph
Enzo Traverso, Philosoph
Eric Fassin, Soziologe
Anatoli Wassiljew, Regisseur
Natacha Isaeva, Übersetzerin, Dramatikerin
Pippo Delbono, Regisseur
Mari-Mai Corbel, Schriftstellerin
Jean-Marc Adolphe, Journalist, Essayist
Marie José malis, Regisseurin, Theaterregisseurin
David Bobée, Regisseur, Theaterregisseur
Ronan Chenaud, Schriftsteller, Dramatiker
Benjamin Stora, Historiker
Etienne Balibar, Philosoph
Yves Chemla, Literaturprofessor
Katerina Thomadaki, Filmemacherin, bildende Künstlerin, ehemalige außerordentliche Professorin an der Universität Paris I-Sorbonne
Loc Touzé, Choreograf
Michael Riot-Sarcey, Historiker
Maurizio Gribaudi, Historiker
Ludivine Bantigny, Historiker
André Gunthert, Historiker
Patrick Boucheron, Historiker
Paul B. Preciado, Philosoph
Eliane Baumfelder, pensionierte Lehrerin
Francoise Morvan, Übersetzerin, Schriftstellerin
Nicole Lapierre, Anthropologin, Soziologin
André Markowicz, Übersetzer, Dichter
Marie José Mondzain, Philosophin
Jean-Louis Comolli, Filmemacher, Schriftsteller
Francoise Armengaud, Philosophin
Nathalie Raoux, Historikerin
Madeleine Claus, Lehrerin, Schriftstellerin
Bruno Tackels, Philosoph
Emmanuel Faye, Philosoph
Maria Maillat, Schriftstellerin
Anne Roche, Philosophin
Marc Berdet, Philosoph
Héléne Peitavy, Künstlerin
Olivier Moulai, Videofilmer.

Wer den offenen Brief unterzeichnen möchte, wende sich bitte an die nachfolgende Adresse:

prix.europeen.walterbenjamin@gmail.com

weitere Informationen: https://prixwb.hypotheses.org/
____________________________________________________

Port Bou Der Namenlosen gedenken
Ein Blick in das Denkmal für Walter Benjamin und die “Namenlosen” am Friedhof in Port Bou, geschaffen von Dani  Karavan. – Foto: HB


Der offene Brief in französischer Fassung:

«Si l’ennemi triomphe, même les morts ne seront plus en sûreté»
Pour Walter Benjamin.

 Lettre ouverte

80 ans à peine nous séparent de ces mots – qui résonnent aujourd’hui d’une sinistre manière.

Après l’escape game de Portbou « Sauvez Walter Benjamin »  – un jeu de rôle obscène qui invitait les participants à revivre ses derniers jours –, voici venu le sombre temps, beaucoup plus grave, d’un tout autre ordre, le temps d’une nouvelle instrumentalisation du destin du philosophe allemand qui s’est donné la mort pour échapper au nazisme. Une trahison d’une toute autre portée.

En effet, au détour du programme de Louis Aliot, député du Rassemblement national, et candidat “sans étiquette” à la mairie de Perpignan, on découvre non sans frémir sa volonté de réouvrir le « centre d’art Walter Benjamin », aujourd’hui fermé, pour en faire un lieu dédié « à la création et au devoir de mémoire (mise en place d’expositions, de conférences, de résidences d’artistes, création in situ …).” Laisserons-nous Walter Benjamin devenir un butin, un trophée, une prise de guerre dans la vaste tentative de dédiabolisation, puis de normalisation du Rassemblement national, qui dans ce but n’hésite pas à évoquer, outre la mémoire juive, les gitans et l’histoire tragique de la retirada espagnole ?

Mémoire et histoire obligent. Elles nous obligent à rappeler et à nous rappeler que le parti de Monsieur Aliot se situe dans l’héritage des mouvements politiques nationalistes qui, dans les années 1930 et 1940, en Allemagne d’abord, puis en France en Europe, ont contraint Benjamin à fuir, l’ont persécuté et contre lesquels il s’est toujours dressé. Un parmi tant d’autres « sans nom » et qui doit témoigner pour eux.

Il est urgent de se souvenir d’eux, de leurs combats, et de prendre la pleine mesure dans notre présent de cette phrase terrible : « Si l’ennemi triomphe, même les morts ne seront pas en sûreté. Et cet ennemi n’a pas fini de triompher. »

Il est urgent d’arracher le nom de Walter Benjamin – pour le mettre en sûreté – des mains de l’extrême-droite et de tous ceux qui réécrivent l’histoire, une fois encore, à l’encre des oppresseurs d’hier tandis qu’ils stigmatisent, sous toutes ses formes, l’étranger et le migrant.

Nous sommes convaincus que la mémoire de ce qui se joua à Portbou pour Walter Benjamin comme pour tant d’autres, à quelques encablures de Perpignan, nous oblige à réagir avec la plus grande netteté. No pasaran. C’est dans cet esprit de résistance à toutes les formes de l’oubli et de la manipulation de notre mémoire collective que nous nous opposons fermement , et par tous les moyens disponibles, à ce que le nom de Walter Benjamin soit associé à la réouverture d’un centre d’art à Perpignan, sous la mandature d’un maire appartenant au Rassemblement national.

Zum Tod eines unbeirrt Eigensinnigen

Rolf Hochhuth ist tot. Er war ein unbequemer, widerspruchsvoller Geist. Seit seinem großen Erfolg »Der Stellvertreter« widmete er sich für Jahrzehnte der Aufklärung von Naziverbrechen und der Benennung der Täter. Mit seiner 1978 erschienen Erzählung »Eine Liebe in Deutschland« löste er eine umfassende Debatte über negative Vergangenheitsbewältigung aus, die zum Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, führte. Der von Hochhuth als »Hitlers Marine-Richter« bezeichnete Filbinger hatte im März 1945 den Matrosen Walter Gröger wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Ein durch Filbinger gegen Hochhuth eingeleiteter Rechtsstreit, der mit großer Resonanz in der Öffentlichkeit und den Medien begleitet wurde, führte schließlich am 7. August 1978 zum Rücktritt des Ministerpräsidenten.

Das als »Filbinger-Affäre« bezeichnete Kapitel bundesdeutscher Vergangenheitsbewältigung ist ein Lehrstück von gleicher Qualität wie die Auseinandersetzungen um den »Stellvertreter«. Mit den einschlägigen Prozess- und Mediendokumenten versehen, kann man dies in dem Buch »In Sachen Filbinger gegen Hochhuth«[1] nachlesen. Eingeleitet wird dieses Buch mit einem im Mai 1978 geschriebenen Essay von Hans Mayer. Dieser stellt „das Grundprinzip allen Schreibens bei Hochhuth heraus: das Ernstnehmen individueller Lebensentscheidungen. Davon aber hatte man allzu lange in der Literatur absehen wollen.“[2] Hochhuth, so Mayer, möchte „demonstrieren, wie das aussieht: Handeln nach der jeweiligen Norm; ohne Mitleid und Furcht. Was heißen soll: ohne Mitleid mit den Mitmenschen, ohne Furcht vor sich selbst. So konnte einer, Hans Filbinger, wie Hochhuth meint, ein «furchtbarer» Jurist werden: mitten im Krieg, also im allgemeinen Töten.“[3]

Als studierter und promovierter Jurist stellt Mayer dann den „schrecklichen Rechtspositivismus des Satzes «Was damals Rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein», dar. Und kommt anschließend zu den „politischen Irrtümern des Dr. Filbinger …. Eines Politikers der Irrtümer, doch des guten Gewissens“. [4]

Nachdem er seinen Essay mit Shakespeare begonnen hat schließt Mayer mit dem Verweis eines „deutschen Märchen“ schlechthin, mit Wilhelm Hauffs »Das kalte Herz«. Wer den Fall Filbinger neu lesen möchte sei verwiesen auf den spannenden wissenschaftlichen Doku-Roman von Jacqueline Roussety »Wenn das der Führer sähe…«[5]

[1] In Sachen Filbinger gegen Hochhuth – Die Geschichte einer Vergangenheitsbewältigung, herausgegeben von Rosemarie von Knesebeck, Reinbek bei Hamburg 1980
[2] A.a.O., S. 9
[3] ebenda
[4] A.a.O., S. 10f
[5] Jacqueline Roussety, Wenn das der Führer sähe… von der Hitlerjugend in die Fänge Filbingers, Hamburg 2016

 

NDR auf dem Weg zur Selbstliquidierung

Mit dem „Aus“ für das »Bücherjournal« zum Dezember 2020 legt der NDR die Axt an die Wurzel seiner Legitimation. Was den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk vom Privatrundfunk unterscheidet, ist sein Bildungs- und Kulturauftrag. Die Realisierung dieses Auftrages sichert dem Rundfunk über die Gebührenzahlung der Bürgerinnen und Bürger seine Existenz.

Öffentlich-rechtlicher Rundfunk wird im Auftrag der Gesellschaft veranstaltet. Die Bürgerinnen und Bürger sind es, die mit ihren Gebühren den Rundfunk finanzieren, damit er seinen Auftrag erfüllt. In seinem Urteil vom 4.11.1986 hat das Bundesverfassungsgericht erneut eine essentielle Funktion des Rundfunks für das kulturelle Leben in der Bundesrepublik festgestellt. Es ist also nicht der Rundfunk, der aus seiner Aufgabe heraus eine Mäzenatenfunktion wahrnimmt, sondern, wenn überhaupt, ist es die Gesellschaft, sind es die Bürgerinnen und Bürger, die sich einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten. Programme, wie sie der öffentlich-rechtliche Rundfunk zur Wahrnehmung seines Kulturauftrages veranstaltet, sind also keine freiwilligen Leistungen eines Mäzens, sondern eine Pflichtleistung im Auftrag der Gesellschaft.

Der Verfassungsrechtler Prof. Dieter Grimm hat bereits 1983 in einem Vortrag zum „Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen“ exemplarisch für den Rundfunk folgendes ausgeführt: „Aus der Zugehörigkeit des Rundfunks zur Kultur folgt die Notwendigkeit einer kultur-rechtlichen Interpretation der Rundfunkfreiheit….Als kulturelle Freiheit bezieht sich Rundfunkfreiheit auf das Programm und seine spezifisch publizistische Ausdrucksform. Dagegen sind kulturelle Freiheiten weder wirtschaftliche Freiheiten noch garantieren sie regelmäßig private Strukturen. Eine den kulturrechtlichen Anforderungen entsprechende Rundfunkordnung muss ein kulturell angemessenes Programm gewährleisten. Dazugehört sowohl die Vermittlung kultureller Grundlagen von Person und Gesellschaft als auch ein zugänglicher Anteil kultureller Sendungen im engeren Sinne“.

Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und auch ehemalige Rundfunkredakteur Hans Mayer hat in weit über 100 Literatursendungen des NDR zum kulturellen Profil des Senders wesentlich beigetragen. Neben dem literarischen Lebenswerk als Autor und dem pädagogischen Lebenswerk als Hochschullehrer kann man die rundfunkpolitische Tätigkeit als drittes Lebenswerk Hans Mayers bezeichnen.

Im Dezember 1991 hat Hans Mayer zur 150. Veranstaltung der Traditionsreihe »Autoren lesen im Funkhaus«, als Jubiläumsredner gesprochen. Fast vorausschauend formulierte er zum Schluss seiner Rede sinngemäß über den Zerfallsprozess der einstmals produktiven Kulturen in Deutschland: der Adelskultur, die sich bereits im neunzehnten Jahrhundert in Relikten verlor; der jüdischen Kultur, die nach 1933 vertrieben und vernichtet wurde; der proletarischen Kultur, die sich nie von den Schlägen erholte, die Hitler ihr zufügte; schließlich der bürgerlichen Kultur, die teils zustimmend, teils ohnmächtig ihre Selbstzerstörung erlebte und deren letzte Reste unter den heutigen Bedingungen einer Wegwerfgesellschaft kaum noch kenntlich sind.

In einem Brief an den Intendanten des Norddeutschen Rundfunks, Joachim Knuth, fordert Heinrich Bleicher-Nagelsmann, der Vorsitzende der Hans-Mayer-Gesellschaft, diesen auf, von der Abschaffung des »Bücherjournals« Abstand zu nehmen.
_______________

Der Verband der Schriftstellerinnen und Schriftsteller in ver.di hat eine Aktion auf change.org gestartet: eine virtuelle Unterschriftenliste. Den Aufruf kann man hier unterschreiben und auch weiterverbreiten. Link http://chng.it/WpvXJWVn

_____________________________________________________

Im Auftrag des Intendanten Joachim Knuth hat Herr Beckmann vom NDR geantwortet:

Sehr geehrter Herr Bleicher-Nagelsmann,

vielen Dank für Ihre E-Mail vom 14. Mai 2020, in der Sie Ihr Bedauern darüber äußern, dass das „Bücherjournal“ eingestellt wird. Herr Knuth hat mich gebeten, Ihnen zu antworten, was ich gerne mache. Auch uns ist diese Entscheidung nicht leicht gefallen. Der Norddeutsche Rundfunk muss jedoch in den kommenden Jahren Einsparungen und Kürzungen in bisher nicht gekanntem Ausmaß vornehmen und gleichzeitig in die digitale Zukunft geführt werden. Dazu muss auch die Kultur einen Beitrag leisten, der übrigens – auch prozentual betrachtet – wesentlich geringer ist als zum Beispiel der Beitrag der Unterhaltung.
Es ist jedoch nicht unsere Absicht, durch die Einstellung der Sendung „Bücherjournal“ Ende dieses Jahres den Stellenwert der Literatur im NDR zu mindern. Das Gegenteil ist der Fall. Unser Ziel ist es aber, dass Literatur-Angebote zukünftig von mehr Menschen gesehen, gehört und gelesen werden, als dies jetzt der Fall ist. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass das „Bücherjournal“ als lineare Fernsehsendung, sechsmal im Jahr ausgestrahlt, zu wenig Menschen erreicht, mit fallender Tendenz. Deshalb haben wir entschieden, diese Form des Angebots künftig bleiben zu lassen und uns auf neue Wege der Kultur- und Literaturvermittlung zu begeben.
Dafür wird es in der Sendung „DAS!‘ einmal monatlich einen Buchtipp für Belletristik geben, in dem auch Bücher jenseits von Bestsellerlisten vorkommen. Darunter werden auch solche Beiträge sein, die bisher noch im „Bücherjournal“ laufen. Diese Rubrik wird auch bei NDR 2 und online zu finden sein. Außerdem wird „DAS!“ einmal pro Woche ein Buch und den*die Autor*in in den Mittelpunkt der Sendung stellen. Damit erreicht der NDR pro Ausstrahlung ungefähr eine halbe Millionen Menschen. In der von Julia Westlake moderierten Sendung „Kulturjournal“ wird es weiterhin auch um Bücher und Literatur gehen. Inhalte wie „Das Buch des Monats“ werden multimedial verbreitet und sind in der Mediathek jederzeit auffindbar.
Zudem wird der NDR dieses Jahr erstmalig einen großen Büchertag in Hörfunk, Fernsehen und Online anbieten, orientiert an der Idee der erfolgreichen Veranstaltungsreihe „Der Norden liest“. Bekannte und unbekannte Autor*innen stellen dabei ihre Bücher vor.
Außerdem entwickelt der NDR in seinem Innovationslabor THINK RADIO derzeit einen neuen Bücher- und Literaturpodcast, der ab dem 12. Juni 2020, ab 16:00 Uhr abrufbar sein wird. Das Format soll aktuelle Bücher sowie deren Auto*rinnen mit ihren Themen auf innovative Weise einem breiten Publikum nahebringen.
NDR Kultur beschäftigt sich täglich mehrmals mit Literatur in den Sendungen „Am Morgen vorgelesen“, werktags, 8:30 – 9:00 Uhr, „Am Abend vorgelesen“, werktags, 22:00 – 22:30 Uhr und der „Sonnabend-Story“, sonnabends, 8:30 – 9:00 Uhr.
Die Rubrik „Neue Bücher“ läuft werktags, 12:40 Uhr. „Stoltenberg liest“ dienstags um 7:20 Uhr und 12:40 Uhr. Jeden ersten Sonnabend im Monat präsentiert NDR Kultur von 18:00 bis 19:00 Uhr „BücherLeben“. Auch im „Sonntagsstudio“ von 20:00 bis 22:00 Uhr bringt NDR Kultur die Literatur in den Norden.
Zurecht verweisen Sie – Ihrem Stiftungsauftrag folgend – auf die Hervorbringungen von Hans Mayer für den Hörfunk. Gerne gebe ich Ihren Hinweis an die Kolleg*innen weiter.

Ich hoffe, dass Sie für unsere Entscheidung Verständnis haben, auch wenn Sie sie nachvollziehbar bedauern.

Mit freundlichem Gruß
Frank Beckmann

»Hell aus dem dunklen Vergangnen …«

Arbeiterbewegung und 1. Mai

„In Deutschland nahmen die Arbeitslosigkeit und die Streiks dramatisch zu, es häuften sich die Straßenkrawalle. Knapp zwei Monate vor Nexös Geburtstag hatte Berlins SPD-Polizeipräsident Karl Zörgiebel die Maidemonstrationen untersagt. Als sich die Kommunisten über das Verbot hinwegsetzten, ließ Zörgiebel auf die demonstrierenden Arbeiter schießen. 31 Tote, auch zufällige Passanten, Hunderte Verletzte und Verhaftete waren die traurige Bilanz. Bald nach dem Geburtstag entschloß sich Nexö, seinen Wohnsitz am Bodensee aufzugeben und nach Dänemark zurückzukehren.“[1] Dort hatte man den 60. Geburtstag des „verlorenen Sohnes“ und ehemaligen Sozialdemokraten von Seiten der regierenden dänischen Sozialdemokratischen Partei mit großem Aufwand gefeiert. Auch aus Rußland trafen Glückwünsche ein und Alexandra Kollontai, die sich gerade in Oslo aufhielt, meldete sich ebenfalls. Im September 1931 reiste Nexö auf Einladung des Staatsverlages für Belletristik nach Moskau.

Bereits im Juni 1912 hatte Lenin die »Prawda« aufgefordert, den Roman „der aus der Feder des bekannten dänischen Schriftstellers Nexö, den die ernste sozialistische Presse den skandinavischen Gorki nennt“ zu veröffentlichen. Beim Besuch in Leningrad wandelte man den Vergleich Lenins um und behauptete, die Stärke und Bedeutung des Romans »Pelle«[2] verdanke der Autor „einzig und allein dem Einfluß Gorkis, der den proletarischen Entwicklungsroman geschaffen habe.“[3] Diese Behauptung erbitterte den Dänen ebenso wie die, er habe im wesentlichen Werke der Autobiographie geschrieben.

In seinem Essay »Martin Andersen Nexö, Pelle der Eroberer«[4] stellt Hans Mayer fest: „Anderson Nexö hatte Recht. Nur eine Betrachtung, die sich mit der bloßen Romanfabel, der Stoffwelt in einem engen Sinn, zu begnügen pflegt, konnte den Dänen … zum »Schüler« Gorkis machen. … Nur scheinbare Übereinstimmung der Themen bei beiden: die Entwicklung der dänischen und der russischen Arbeiterbewegung um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert. … Streiks und Aussperrungen, kraftlose Ohnmacht von Erniedrigten und Beleidigten, dann aber Genossenschaft, Organisation, siegreiche Vereinigung. “[5]

Umfassend, über Jahrzehnte und detailliert erzählt Nexö das Werden der Arbeiterbewegung mit Niederlagen und Siegen, dem Leiden und Kämpfen. Prägend und eindringlich werden auch beispielhafte Handlungen, Charaktere und identifikationsstiftende Artefakte wie die traditionsreiche „Rote Fahne“ geschildert. „Die Jungen standen schweigend da und starrten die Fahne an, die soviel mitgemacht hatte und gleichsam das heiße rote Blut der Bewegung war. Vor Pelle entrollte sich eine ganz neue Welt. … Wenn er es nun gewesen wäre, der das glühende Tuch gegen die Unterdrücker geschwungen hätte – er.“[6]

Die Kongruenz der Themen, Kämpfe und Entwicklungen betreffen sowohl den 1907 erschienen Roman Gorkis »Die Mutter«, als auch das in diesem Zeitraum geschriebene Buch Nexös »Pelle der Eroberer«. Dass Nexö kein Schüler Gorkis ist – im Geburtsjahr liegen sie nur ein Jahr auseinander – zeigt nach Mayers Darstellung deutlich die „literarische Herkunft“ der Schriftsteller. Die frühe Entwicklung Gorkis sei undenkbar ohne Tschechow. Martin Anderson Nexös Entwicklung müsse in der geistigen Korrelation zu Henrik Pontoppidan[7] gesehen werden. 1917 erhielt dieser den Nobelpreis für Literatur, insbesondere auch für seinen Roman »Hans im Glück«, den sowohl Bloch[8] als auch Lukács[9] schätzten. Übersetzt wurde er für den Leipziger Kippenberg-Verlag durch Mathilde Mann, die für den gleichen Verlag 1912, zwei Jahre später, den zwischen 1906 bis 1910 geschriebenen Roman »Pelle der Eroberer« übersetzte.

Hans Mayer stellt über formale Nachfolge die Frage, worin Nexös Roman dem Vorbild Pontoppidans treu blieb – und worin er sich ihm entzog. „Auch diese Geschichte des Hans im Glück beginnt, wie später jene des kleinen Pelle, in Lebenszuversicht und Erobererstimmung.“ Pelle ist allerdings mehr Typ als Charakter, wie Gorkis »Mutter«. „Er ist dann weit weniger der Knabe und Junge und Mann Pelle, als der “Repräsentant einer langsam und schwerfällig sich emanzipierenden Arbeiterklasse.“[10]

Nach einer Parallelreflektion zum Romanmosaik von Marcel Prousts »Suche nach der verlorenen Zeit« kommt Mayer zu der Schlussfolgerung: „Andersen Nexös Buch bedeutet eine Weiterführung -und gleichzeitig eine Umkonzipierung – der Geschichte vom »Hans im Glück«. Bei Pontoppidian erwies sich der Titel am Ende als traurige Ironie. Pelle wird wahrhaft als Glückskind und Eroberer dargestellt.“[11]

In »Morton der Rote« schreibt Nexö die Geschichte von Pelle und seinem Freund Morton fort. Dort allerdings hat sich Pelle zu einem sozialdemokratischen Minister entwickelt, der nicht mehr mit des Autors Sympathie für »Pelle« versehen und entwickelt wird. Als vom Übergang zum Kommunismus geprägter, auf eine andere Geschichte zurückblickender Mann, gelingt es dem Autor 40 Jahre später nicht, eine organische Verbindung der beiden Romanwerke herzustellen. Mayer stellt fest: „Man muß von einem sonderbaren Vorgang einer Zurücknahme und Umfunktionierung des eigenen Jugendwerkes sprechen.“ Das allerdings tut dem Stellenwert und der Qualität des »Pelle« als eines ausgezeichneten literarischen Werkes über das Werden und den Durchbruch der schwedischen Arbeiterbewegung vor dem 1. Weltkrieg keinen Abbruch.[12]

Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Dänemark und auch in Deutschland nach dem 1. Weltkrieg war natürlich, wie auch die Spaltung der Arbeiterbewegung zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zeigt, eine historisch völlig andere Situation als die Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Der stark reformistische Charakter der Sozialdemokratie trieb auch die zwischen SPD und KPD stehenden Sozialisten in der Weimarer Zeit um. In der Zeitschrift »Der Rote Kämpfer – Marxistische Arbeiterzeitung«, die der junge Hans Mayer mit anderen Linkssozialisten in den Jahren 1930 und 1931 herausgab, heißt es in einem Artikel zum 1. Mai 1931: „ Das Erstarken reformistischer Gesinnung in den Reihen des Proletariats, das Anwachsen des kleinbürgerlichen Elements in der SPD verändert völlig den Charakter der Maifeier…. Aus dem Kampftag wurde ein kleinbürgerlicher Festtag. … 1. Mai 1931. Das darf und kann kein Tag sein der beschaulichen Erinnerung und der behaglichen Festesfreude. Eine solche Feier ist ein Hohn auf die wirkliche Lage der Arbeiterschaft.“[13]

[1] Aldo Keel, Der trotzige Däne. Martin Andersen Nexö, Berlin 2004 S. 188f
[2] Martin Andersen Nexö, Pelle der Eroberer, Gesammelte Werke Band 1 und 2, Berlin 1951
[3] Keel, Der trotzige Däne, S.193
[4] In: Hans Mayer, Weltliteratur, Frankfurt am Main 1997, S. 310-324
[5] A.a.O., S. 311
[6] Martin Andersen Nexö, Pelle, S. 100
[7] Henrik Pontoppidan (24. Juli 1857-21. August 1942), dänischer Schriftsteller, der vor allem als Erzähler hervortrat. Mit »Hans im Glück«, zunächst zwischen 1898 und 1904 in acht Bänden veröffentlicht, schuf er einen der umfangreichsten und bedeutendsten Romane der dänischen Literatur. Siehe: Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Henrik_Pontoppidan (Zugriff: 28.4.2020)
[8] Siehe: Ernst Bloch, Literarische Aufsätze, Frankfurt am Main 1965, S. 83-88. Im Netz unter: http://www.henrikpontoppidan.dk/text/seclit/secartikler/bloch.html (Zugriff 29.4.2020)
[9] Siehe: Georg Lukács, Theorie des Romans, Darmstadt 1965, S. 96-113 http://www.henrikpontoppidan.dk/text/seclit/secartikler/lukacs.html (Zugriff 29.4.2020)
[10] HM, Martin Andersen Nexö, S.315
[11] A.a.O, S.317
[12] Dass dieses Thema auch heute noch Zuwendung und sogar renommierte Preise gewinnen kann, zeigt der 1987 von Bille August produzierte Film, mit dem er 1989 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhielt.
[13] Peter Friedemann / Uwe Schledorn (HG), Aktiv gegen Rechts. Der Rote Kämpfer – Marxistische Arbeiterzeitung 1930-1931, Dezember 1994, S. 94

WEISSGERÄUSCHE in Wuppertal

Erinnerungen an Paul Celan zu seinem 50. Todestag

Zu seinem 60. Geburtstag im März 1967 erhielt Hans Mayer eine von Walter Jens und Fritz Raddatz herausgegebene Festschrift.[1] In ihr enthalten war auch als Erstdruck ein Gedicht von Paul Celan. Es begann mit den Worten

„WEISSGERÄUSCHE, gebündelt,
Strahlen-
gänge
über den Tisch
mit der Flaschenpost hin.“[2]

Hans Mayer verstand das Gedicht als Erinnerung an die erste gemeinsame Begegnung in Wuppertal im Oktober 1957. Es war auf einer Tagung zu dem Thema »Literaturkritik – kritisch betrachtet«, auf der er nicht nur Celan und Ingeborg Bachmann sondern auch Hans Magnus Enzensberger und Walter Jens kennenlernte; Heinrich Böll kannte er schon von einer früheren Begegnung. Er interpretierte es, bezogen insbesondere auf den letzten Vers, als „ein Gedicht wo zwei Juden einander erkennen an den – im geistigen Sinne – Verschlüssen der Gebetsriemen, an den Gelenken.“[3] Die zitierten Anfangszeilen blieben ihm aber verschlossen. Bei einem späteren Treffen in Paris fragte er Celan und der antwortete: „Aber wir haben damals doch in Wuppertal über das Gedicht als Flaschenpost gesprochen. Sie haben da die These von Adorno ʹKann ein Gedicht eine Flaschenpost sein?ʹ diskutiert. Die ʹWeißgeräuscheʹ sind die Papiere, die dort auf dem Tisch hin und her gingen.“[4] Im weiteren Verlauf des Interviews erläutert Mayer dann, dass Celan unter gar keinen Umständen ein „hermetischer“ oder „monologischer“ Dichter sei.

Ausführlich macht Mayer dies in seiner »Erinnerung an Paul Celan«[5] an mehreren Gedichten deutlich. Zur Zeit Mayers als Hochschullehrer in Hannover kam Celan dorthin zu einer Lesung aber auch zur Arbeit mit Studenten bei der Interpretation seiner Gedichte. In seinen Texten suchte er auch immer die Anrede mit Formulierungen wie „hörst du“ oder „weißt du“. Mayer stellt fest: „Celan liebte Genauigkeit.“

Das herausragendste Beispiel dafür ist Celans Büchnerpreis-Rede von 1960.[6] Sie ist nicht leicht zu lesen, aber im Vergleich mit anderen Preisträger-Reden eine der präzisesten Darlegungen über Büchners Verständnis von Kunst sowie über Celans Theorie von Kunst und Dichtung. Den inhaltlichen Anstoß dazu hatte Mayer für Celan im Frühjahr 1960 gegeben, als er vor französischen Germanisten der »École Normale Supérieure« ein Büchner-Seminar gehalten hatte.[7] Zu dem Zeitpunkt war noch nicht bekannt, einer der Teilnehmer, Paul Celan, den Büchnerpreis bekommen sollte. In seinem Artikel »Paul Celans Büchnerpreis-Rede« macht Mayer wunderbar einleuchtend den Ablauf, Inhalt und Bezug zu Büchners ästhetischer Auffassung deutlich. Darüber hinaus erklärt Mayer überzeugend, dass Celans Rede eine explizite Gegenposition zu der des ersten Büchnerpreis-Trägers Gottfried Benn ist, dessen Namen in der Rede aber überhaupt nicht erwähnt wird. „Wer Celans Ablehnung alles Redens von »monologischer Lyrik« kennt, mitsamt der Marburger Rede Gottfried Benns über Probleme der Lyrik wird die obstinate Wiederholung der Anrede [der Zuhörerinnen und Zuhörer Celans] als folgerichtig empfinden bei einem Lyriker, der auch im Gedicht stets das Du sucht, das Gespräch: Adressaten und Partner.“[8]

Zum letzten Mal hat Mayer Celan bei der Hölderlin-Tagung am 22. März 1970 in Stuttgart gesprochen. Warum der Dichter bald darauf ins Wasser ging, weiß Mayer nicht. Er zitiert aus dem Nachruf des ehemaligen Feuilletonchefs der »Neuen Züricher Zeitung« Werner Webers, zu Celan: »Jetzt hat er das Leben verlassen. Sein Weggehen hat Entsprechungen in seinen Gedichten, wo das Umgangsreden abschwinden mußte, damit die Sprache buchstäblich >zu Wort< kommen kann. Zum letzten Wort an der Grenze des Verstummens.«[9]

Heinrich Bleicher

[1] Hans Mayer zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift herausgegeben von Walter Jens und Fritz Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1967
[2] Ebenda, S.105
[3] Hans Mayer Interview zu Paul Celan im Gespräch mit Jürgen Wertheimer am 11. März 1997 in: arcadia / Volume 32 (1997) Heft 1 S. 298-300
[4] Ebenda S.298
[5] Dieser Aufsatz findet sich im Band II der Erinnerungen von Hans Mayer (S. 312-328) und textgleich in HM, Zeitgenossen, Frankfurt am Main 1998, S. 122-141
[6] https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/georg-buechner-preis/paul-celan/dankrede
[7] HM, Paul Celans Büchnerpreis-Rede 1960. »Der Meridian«, in: HM, Zeitgenossen S.142-157
[8] A.a.O., S. 144
[9] HM, Erinnerungen II, S. 327

 

 

Jost Hermand
Ehrenmitglied der HMG

Zu seinem 90. Geburtstag hat die Hans-Mayer-Gesellschaft (HMG) Professor Jost Hermand die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Die erste persönliche Begegnung zwischen Hans Mayer und Jost Hermand war für letzteren im ersten Moment etwas irritierend. In seinen Erinnerungen an Hans Mayer schildert er sie so:

„Ich konnte es daher kaum erwarten, Mayer endlich persönlich kennenzulernen. Und das geschah unerwarteter Weise bereits am 27. dieses Monats [September 1971, HB], also kurz nach seiner Ankunft in Milwaukee, als es an meiner Haustür klingelte und er plötzlich dastand. Obwohl wir uns noch nie begegnet waren, gaben wir uns – wohlvertraut mit unseren Schriften – die Hände, als würden wir uns schon lange kennen. Er kam sofort herein und sagte ohne jeden Umschweif: „Herr Hermand, da ist vor kurzem ein Buch über die Zeitschrift »Der Rote Kämpfer« (1) erschienen, die ich und Richard Friedenthal 1931/32 in Berlin als KPO-Blatt herausgegeben haben. Das müssen Sie sofort lesen. Wissen Sie, der junge Hans Mayer, sehr interessant!“ Erst war ich über so viel Eitelkeit etwas pikiert, aber dann begriff ich, dass Mayer mit mir nicht über den Herflug, das Wetter oder derlei Belanglosigkeiten reden wollte, sondern dass ihm das Politische als das Wichtigste erschien – und fühlte mich eher geehrt als überrumpelt.“(2)

Urkunde für Jost HermandIn den Schriften von Jost Hermand – die Deutsche Nationalbibliothek weist auf über 200 Publikationen hin – finden sich in seinen Publikationen seit den 70er Jahren häufig Hinweise auf Hans Mayers Publikationen und Positionierungen. Bei manchen Verweisen heißt es „…von Hans Mayer im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser“.

Hans Mayer hat sich 1969, Anfang der 70er Jahre und nach seiner Emeritierung in Hannover längere Zeit in den USA aufgehalten. Dort finden sich auch die Anfänge und Fundierungen seines Buches »Aussenseiter« das er zu großen Teilen am »Lake Michigan« geschrieben hat. Zu den Personen, die ihm dabei mit „Ratschlägen wie Warnungen“ dienten, gehört neben anderen Freunden auch Jost Hermand. Der hat Mayer zu verschiedenen Tagungen an der Universität von Wisconsin als Referenten eingeladen. Zahlreich waren auch die Gespräche u.a. mit George L. Mosse und Reinhold Grimm sowie Jack Zipes, dem amerikanischen Übersetzer von Hans Mayer.

Ausgiebiger Diskussionsstoff zwischen den beiden im Kontext des »Aussenseiter«-Buches war natürlich Heinrich Heine. Dass beide ihn außerordentlich schätzten, war ohne Frage; aber es gab auch Differenzen. Eine davon war die unterschiedliche Einschätzung des berühmten Skandals »Heine contra Platen«. Hans Mayer hat dem in seinem »Außenseiter«-Buch einen längeren Abschnitt gewidmet(3), den er später in seinem Buch »Der Weg Heinrich Heines«(4) wieder aufgenommen hat. In einem Sammelband „Literatur im Historischen Prozess“ mit dem Titel »Signaturen – Heinrich Heine und das 19. Jahrhundert«(5) hatte sich Jost Hermand diesem Thema gewidmet.(6) Literarische Streitigkeiten waren in jenem Jahrhundert uptodate, aber der Heine-Platen-Streit „einmalig“. Das lesende Publikum konnte sich in solchen Fällen auf die eine oder andere Seite stellen, „nicht so in diesem Fall…. Schließlich wurden in diesem Fall zwei Tabus angerührt, für die es damals überhaupt noch keine »Öffentlichkeit« gab(7). Hans Mayers Einschätzung des Streites im »Aussenseiter« fasst Hermand dann als eine der wenigen »aufgeklärten« Positionen zusammen: „Mayer fällt daher keine Urteile. Im Gegenteil. Er sieht in dem Ganzen den geradezu tragischen Zusammenprall eines »Outsiders der Abkunft« mit einem »Outsider« der Geschlechtlichkeit.“(8)

Neben der moralischen und psychologischen Sichtweise macht Hermand dann eine in den späteren Jahren in der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten zu Tage tretende „dritte, eher von politischen Gesichtspunkten ausgehendes Interpretation dieses Skandals“ aus, das heißt eine „Adelskritik im Zeichen der von der französischen Revolution proklamierten Freiheits– und Gleichheitskonzepte“.(9)

Laudation auf Jost Hermand, 2010


> Die Laudatio auf Jost Hermand, die Heinrich Bleicher-Nagelsmann im Namen der Vorbereitungsgruppe der Tagung »Literatur und Politik« im Jahr 2010 gehalten hat, beruht auf einem Text, den im wesentlichen Wolfgang Beutin, ebenfalls Mitglied der Vorbereitungsgruppe, geschrieben hat. >>>


Um den politischen Heinrich Heine ging es dann auch bei dem Heinrich-Heine Kongress im Dezember 1972 in Düsseldorf zum 175. Geburtstag des seinerzeit ungeliebten Sohnes der Stadt. Sowohl Jost Hermand als auch Hans Mayer waren bei dem Kongress mit dabei. Für den Rias in Berlin hatte letzterer einen Rundfunkbeitrag geschrieben, der in deutscher Sprache so nicht veröffentlicht worden ist. Er erschien 1973 als Eröffnungsbeitrag für die amerikanische Literaturzeitschrift »New German Critique« (NGC) deren Geburtshelfer Hans Mayer in den USA gewesen war.(10)

Mit seinem Vortrag zu »Heines >Ideen< im Buch >Le Grand<« stieß Hermand auf Ablehnung und Kritik der zahlreich anwesenden älteren Goethe-Verehrer, denn er hatte „vor allem die links-hegelianische, das heißt gegen den goetheschen Indifferentismus gerichtete Perspektive des jungen Heine herausgearbeitet“.(11) Hans Mayer stellte in seinem NGC-Beitrag fest, dass die Ablehnung dieses Beitrags letztlich nicht auf den Professor aus Wisconsin mit seinem gut fundierten Beitrag zielte, sondern auf „den Ehrengast selbst – Heinrich Heine.“ Immer noch ein Weltphänomen und ein „deutscher Skandal“. Was das meinte formulierte Mayer so: „…es sollte nicht missverstanden werden als ein nationales oder rassistisches Symptom, sondern mehr als Ausdruck einer bürgerlichen Schulmeisterei und ästhetischen Fehlleistung beim Verständnis eines Autors, der Aufklärung nie als bourgeoise Emanzipation betrachtet hatte.“(12)

Ausführlich hat Mayer diese Bewertung des politischen Heine in seiner Einleitung zu »Heinrich Heine – Beiträge zur deutschen Ideologie«(13) entwickelt. Dort verweist er übrigens auch im Hinblick auf Heines Sozialismusverständnis auf den sehr erhellenden Vortrag von Leo Kreutzer »Heine und der Kommunismus«(14).

Ein weiteres großes Themenfeld, bei dem Hans Mayer und Jost Hermand sich trafen und ausführlich austauschten, war die Exilliteratur. Vom 22. bis 24. Oktober 1971 fand der von Jost Hermand und Reinhold Grimm veranstaltete »Third Wisconsin Workshop« zum Thema »Exil und innere Emigration« statt. Mayer, der zu dieser Zeit in Milwaukee lebte, kam des Öfteren nach Madison und sprach auf der Tagung über den 1. Deutschen Schriftstellerkongress, der 1947 auf Einladung des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung in Berlin unter dem Vorsitz von Ricarda Huch stattfand.(15) Auf dem Kongress selbst hatte Mayer über die Rolle des Schriftstellers für die Gesellschaft gesprochen. Ebenso zum Thema Antisemitismus. In seinem Bericht zum Kongress, der in den »Frankfurter Heften« erschien, hatte er das Thema »Macht und Ohnmacht des Wortes« gewählt. Sein Fazit, der Schriftsteller „ist ohnmächtig, wenn er nicht die Gewalt des >j`accuse< kennt und anzuwenden weiß, die Macht des anklagenden Wortes.«(16)

In Wisconsin sprach Mayer darüber, warum der Versuch zur Schaffung einer friedlichen antifaschistischen Literatur „wegen des zu diesem Zeitpunkt einsetzenden Beginn des Kalten Krieges zwangsläufig scheitern mußte.“(17)

Viele Gespräch zwischen Mayer und Hermand zu jener Zeit in Milwaukee/Wisconsin hatten auch Musik und Malerei zum Thema. In dem schon genannten Gespräch über Hans Mayer stellt Hermand dazu zusammenfassend fest: „Für mich war diese Zeit eine der intellektuell bereicherndsten Phasen meines Lebens. Die zum Teil langen Gespräche mit ihm, egal über welche Themen, waren trotz vieler Übereinstimmungen stets aufregend. Und zwar ging es dabei nicht nur um Politik. Da Mayer merkte, wie viel mir die „klassische Musik“ bedeutete, zogen sich unsere Unterhaltungen darüber oft lange hin. Vor allem in unserer Hochschätzung Beethovens stimmten wir Beide überein. So erzählte er mir, dass er bei seinen Lukács-Besuchen in Budapest oft nach dem Tee mit Frau Lukács eine Beethoven-Violinsonate gespielt habe und pflegte das mit dem emphatischen Ausspruch „Das ist Kultur!“ zu bekräftigen.

Was er ebenso schätzte, waren Gespräche über die gesellschaftspolitischen Beziehungen zwischen Literatur und Malerei, mit denen ich mich vor allem in den erwähnten Akademie-Bänden in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren ausführlich beschäftigt hatte. Und er war dankbar für jede Anregung auf diesem Gebiet. Als er deshalb Ende Januar 1974 Wisconsin verließ und in die Bundesrepublik zurückkehrte, fühlte ich mich fast wie ein aus der deutschen Intellektuellenatmosphäre verbannter Exilant.“(18)

Es verwundert also nicht, wenn Jost Hermand sein Buch »Sieben Arten an Deutschland zu leiden«(19) auf Basis dieser Begegnungen nicht nur Walter Grab, Felix Pollak und George Mosse, sondern eben auch Hans Mayer gewidmet hat.

Heinrich Bleicher-Nagelsmann


_____________________

1. Gemeint war das Buch “Der Rote Kämpfer” von Olaf Ihlau. Die neuste Veröffentlichung zu dem Thema mit Reprints der Ausgaben siehe Peter Friedemann / Uwe Schledorn (Hg.) Aktiv gegen Rechts Der Rote Kämpfer –. Marxistische Arbeiterzeitung 1930-1931, Essen 1994
2. Auszug aus einem Gespräch über Hans Mayer zwischen dem Vorsitzenden der HMG und Jost Hermand. Der gesamte Text wird zusammen mit anderen Gesprächen über Hans Mayer demnächst veröffentlicht.
3. HM, Aussenseiter, Frankfurt a.M. 1975, S. 277
4. HM, Der Weg Heinrich Heines, Frankfurt a.M. 1998, S.18f
5. Signaturen – Heinrich Heine und das 19. Jahrhundert herausgegeben von Rolf Hosfeld, Berlin 1986
6. A.a.O., S. 108-120
7. Hermand, a.a.O., S. 109. Es ging um Antisemitismus und Homosexualität, deren Verurteilung in der damaligen Gesellschaft gang und gäbe war
8. A.a.O., S. 111
9. A.a.O., S. 118
10. Siehe hierzu den Beitrag Hans Mayer der Schirmherr der »New German Critique« auf dieser Homepage
11. Jost Hermand, Zuhause und anderswo, Köln, Weimar, Wien 2001, S.164
12. «New German Critique« No. 1 (Winter, 1973), pp. 2-18. “…about the meaning of “German” scandal: it should not be misunderstood as a national or even racist symptom, but more an expression of the bourgeois scholarly and aesthetic failure to understand an author who never equated Enlightenment with mere bourgeois emancipation.” Übersetzung durch den Autor
13. Wieder abgedruckt in HM, Der Weg Heinrich Heines, S. 57-86
14. Leo Kreutzer, Heine und der Kommunismus, Göttingen 1970
15. Erster Deutscher Schriftstellerkongreß – 4.-8. Oktober 1947 Protokoll und Dokumente, herausgegeben von Ursula Reinhold, Dieter Schlenstedt und Horst Tanneberger, Berlin 1997. Mayers Beitrag in Wisconsin stand unter dem Thema »Innere und äußere Emigration«. Über den Kongress berichtet Mayer auch in seinem Erinnerungsband I, S.387–396
16. HM, Ein Deutscher auf Widerruf I, S. 396
17. Hermand, Zuhause, S. 163
18. Siehe Fußnote 2
19. Hermand, Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979

»Pallaksch« – Hölderlin in dürftiger Zeit

Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht, / Aufzubrechen. So komm! Das wir das Offene schauen.“[1] Mit diesem Zitat aus Hölderlins »Brot und Wein« beginnt Rüdiger Safranski seine Annäherung an Hölderlin, dessen 250. Geburtstag wir am 20. März feiern können.

„Was also ist das für ein Feuer, das in Leben und Poesie Hölderlins brennt?“ Dieser Frage geht Safranski in seinem lesenswerten und sehr informativen Buch nach. Wie bei seinen Freunden aus dem Tübinger Stift, bei Friedrich Wilhelm Hegel und Friedrich Schelling, ist es das Feuer der Französischen Revolution, der Geist der Freiheit, der ihn, Hölderlin, beflügelt.

Von der Mutter zum Theologiestudium mit dem Berufsziel Pfarrer ausersehen, wendet dieser sich der Philosophie zu und wird zum Dichter. Doch die unzureichenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sowie die nicht ausreichende Unterstützung und Förderung Schillers, Goethes und anderer wie Fichte, wollen das großartig Neue des jungen Dichters nicht anerkennen. Sein hilfesuchender letzter Brief an Schiller wird nicht beantwortet. Interessant in diesem Kontext sind die Ausführungen Hans Mayers zu Schillers Elegie »Der Spaziergang« mit Hölderlins »Archipelagus« als Gegengedicht. Der „höfisch-bürgerliche Gesellschaftskompromiß“ der Generation Goethe und Schiller ist für die Generation von 1770 nicht mehr akzeptabel. Nach Mayers Sichtweise wird Hölderlins Dichtung zur „Gegenschöpfung“.

1801 nimmt Hölderlin eine Stelle in Bordeaux an. Schreibt, bevor er sich auf den Weg dorthin macht, an seinen gleichgesinnten Freund Casimir Ulrich Boehlendorff, der genau so wenig wie Hölderlin Zustimmung fand in seinem Vaterland: „Aber sie können mich nicht brauchen.“ Beide waren Dichter in „dürftiger Zeit“. Unter dieser Chiffre aus dem Gedicht »Brot und Wein« stellt Hans Mayer seinen Exkurs über Hölderlin in dem Buch »Das unglückliche Bewußtsein«. Er präzisiert: „Dürftige Zeit? Wohl eher ein Leben und Schaffen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Utopien und verlorenen Illusionen.“ [2] Es ist, so Mayer „ein revolutionäres Zeitalter, worin die Deutschen nicht als Subjekt auftreten, sondern zum Objekt werden.“[3] Hölderlin und seine Tübinger Freunde Schelling und insbesondere Hegel ebenso aber auch Beethoven verfolgen „teilnehmend und sehnsüchtig“ den Gang und die Auswirkungen der Französischen Revolution sowie die folgenden Kriege unter Napoleon.

Zurück aus Frankreich schreibt Hölderlin im November 1802 an den Freund Böhlendorff: „Mein Lieber! ich denke, daß wir die Dichter bis auf unsere Zeit nicht commentiren werden, sondern daß die Sangart überhaupt wird einen andern Karakter nehmen, und daß wir darum nicht aufkommen, weil wir, seit den Griechen, wieder anfangen, vaterländisch und natürlich, eigentlich originell zu singen.
Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig. Sonst haben wir keinen für uns selbst; sondern er gehöret dem heiligen Bilde, das wir bilden.“[4]

Die Überlegung vom Dichter in „dürftiger Zeit“ – damals und heute führt Mayers Überlegungen zu Paul Celan und seinem Gedicht »Tübingen, Jänner«. Es geht Mayer bei der Interpretation des Gedichtes um einen Vergleich der dichterischen Möglichkeiten damals und jetzt. In einem Essay für Walter Jens hat Mayer das »Sprechen und Verstummen der Dichter«[5] u.a. am Beispiel »Tübingen, Jänner« interpretiert. Eine erhellende Lektüre sowohl in Bezug auf Hölderlin als auch Celan. Was unverständlich erscheint wird durch Mayers Interpretation klar. Bis hin zum Schlusswort des Gedichtes »Pallaksch«. In dem Hölderlin-Exkurs stellt Mayer abschließend fest: „Celans Gedicht handelt vom Dichter und der Dichtung in dieser Zeit. Es bezeichnet die Fallhöhe von Hölderlin zu Celan, die nicht als Dimensionsunterschied der Talente verstanden werden sollte, sondern als eine der Möglichkeiten, Gesehenes, Erinnertes, Verstandenes zur Sprache zu bringen. Ein Gedicht von er Dichtung, von der Sprache und dem progressiven Verstummen.“[6]

Für Hölderlin begann Ende 1802 der Weg in die „zweite Hälfte des Lebens“. Mit Unterstützung seines Freundes Sinclair wird er Hofbibliothekar in Homburg. Für den Landesvater, den Landgrafen von Hessen-Homburg, schreibt er die Hymne »Patmos«. Bekannt sind die Anfangszeilen: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“[7] Nicht allerdings für Hölderlin. Sein Freund und Unterstützer Sinclair wird wegen Hochverrat verhaftet. Statt in Kerkerhaft zu landen, wird Hölderlin in geistiger Verwirrung und mit einem entsprechend „fürsorglichem“, durch den Landgrafen veranlassten Gutachten, am 11. September 1806 gewaltsam in die Authenrit´sche Klinik nach Tübingen verfrachtet. Dort bleibt er bis zum 5. Mai 1807, 231 Tage. Dann beginnt die Turm-Zeit Scardanellis[8].

Peter Weiss hat in seinem Theaterstück »Hölderlin«[9] wieder aufgenommen, dass der Dichter am jakobinischen Traum seiner Jugend, dem „göttlichen Feuer“, festgehalten hat. Mayer stellt das Stück quasi als eine Synthese in der Nachfolge der beiden vorhergehenden Stücke »Marat« und »Trotzki« dar. Wie kann verändernde Praxis aussehen? Zwei Wege zur Vorbereitung einer grundlegenden Veränderung sind gangbar. Im Dialog zwischen Marx und Hölderlin werden sie dargestellt. Der eine Weg ist die Analyse der konkreten historischen Situation. Der andere die visionäre Formung tiefer persönlicher Erfahrung. Im Gegensatz zu Goethe, Schiller, Hegel und Schelling „als Vertretern der Alltagsvernunft“ steht Hölderlin für die utopische Permanenz der Revolution. „Die Revolution ist Hölderlins Wahn, aber damit ist sie gleichzeitig seine Vernunft.“[10] Für Hans Mayer stehen beide Wege nicht gegeneinander. Mit Thomas Mann ist er, entsprechend der Hölderlin-Interpretation von Pierre Bertaux[11] einig, dass beide Sichtweisen und Wege notwendig sind.

Heinrich Bleicher

[1] Rüdiger Safranski, Hölderlin – Komm! ins Offene, Freund, München 2019. Siehe: https://www.perlentaucher.de/buch/ruediger-safranski/hoelderlin.html

[2] Hans Mayer, Das unglückliche Bewußtsein – Zur Literaturgeschichte von Lessing bis Heine, Frankfurt am Main 1986, S. 341

[3] A.a.O., S.343

[4] Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, herausgegeben von D. E. Sattler, Band 10, S.20

[5] In: Hans Mayer, Das Geschehen und das Schweigen – Aspekte der Literatur, Frankfurt am Main 1969, S. 11-34

[6] Hans Mayer, Das unglückliche Bewußtsein, S. 354

[7] Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge, Band 10, S.15ff

[8] Das „Pseudonym“ Hölderlins, mit dem er die meisten Turmgedichte gezeichnet hat.

[9] Peter Weiss, Hölderlin – Stück in zwei Akten, Frankfurt am Main 1971

[10] Hans Mayer, Die zweifache Praxis der Veränderung, in: Der andere Hölderlin- Materialien zum >Hölderlin<-Stück von Peter Weiss, herausgegeben von Thomas Beckermann und Volker Canaris, Frankfurt am Main 1972, S. 205-216

[11] Siehe: Pierre Bertaux, Hölderlin und die Französische Revolution, in: Der andere Hölderlin- Materialien zum >Hölderlin<-Stück von Peter Weiss, herausgegeben von Thomas Beckermann und Volker Canaris, Frankfurt am Main 1972, S. 65-100