„Dem Proustianer, der ich geworden war…“*

Mit Hans Mayer zum 150. Geburtstag von Marcel Proust

„Marcel Proust, zwischen dem Faubourg Saint-Germain und der Unterwelt, der alles durchschaut, auch sich selbst, indem er Charlus agieren läßt und Bloch.”[1] Mit diesen Worten hat Hans Mayer in Aussenseiter den Roman La Recherche du temps perdu / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in einem Satz zusammengefasst, der ganz und bewusst subjektiv seinen Blick auf Prousts Hauptwerk enthält. Darum geht es: Die Beschreibung der mondänen Feste in den Salons des Faubourg Saint-Germain und die Entwicklung der Personen, die die Salonkultur bestimmen, so wie die gleiche mondäne Gesellschaft auch die Entwicklung der Personen bestimmt, die Proust in der Recherche en détail nachzeichnet auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Mayer nennt in seinem Satz nur zwei Personen den Baron Charlus, dessen Homosexualität in „Sodom und Gomorrha“ aufgedeckt wird und Prousts Jugendfreund Albert Bloch, der nach einem seiner ersten Auftritte in einem Salon, dort (erstmal) nicht wiedergesehen werden will. Später, mehr oder weniger geläutert, erscheint Bloch als Dichter wieder und seine Gespräche mit Charlus schärfen ihre Charaktere.

Ende 1934 entdeckt Hans Mayer Proust: „Jetzt kaufte ich mir alle broschierten Bände mit dem scheinbar so manierierten Titel >A la Recherche du Temps perdu< und brauchte nun wochenlang kaum noch Gesellschaft, schon gar nicht Zuspruch, nur wenig Essen, was vorteilhaft war. Ich hatte Swann und Odette, die monströse Verdurin und den nicht minder monströsen Charlus, Kathedralen und Sonaten und blühende Bäume. Ich war siebenundzwanzig Jahre alt.“[2]

Marcel Proust, A la recherche du temps perdu 1987-1989.

Hans Mayer hat nur in den Aussenseitern der Recherche eine längere Passage gewidmet, aber Marcel Proust ist in seinem Gesamtwerk stets präsent, die Recherche gehörte zu seinem literarischen Grundgerüst. Immer wieder erinnert er an seine Proust-Lektüre, oft auch um erklärende Parallelen zu anderen Schriftstellern herzustellen: Als das Stück Sodome et Gomorrhe von Jean Giraudoux 1943 im besetzten Paris aufgeführt wird, erinnert Mayer an den gleichnamigen Roman von Proust, in dem beim Weltuntergang Sodom und Gomorrha im Gegensatz zu Giraudoux die Bedeutung als „bloßes Synonym für Teilaspekte der Welt: sie sind die Welt schlechthin, und die muß untergehen“[3] hat. Oder  wie Richard Lindner um 1950 als Maler von Proust den „inneren Zusammenhang alles existentiellen Außenseitertums“[4] erlebt. Und die Recherche erinnert Mayer auch an grundlegende Fragen der Ästhetik: in La Prisonnière plaudert Baron de Charlus über die Doppelmoral mit dem Sorbonneprofessor Brichot, der genau weiß, wer früher „auch so“ gewesen sei. Brichot versichert seinem Gesprächspartner: »Bei uns ist das nicht mehr wie bei den Griechen.«[5] „Chalus wird böse“, bemerkt Mayer und höhne später gegen die Päderasten und Proust macht aus Albert eine Albertine.[6] Später notiert Mayer den Gegensatz zwischen Oscar Wilde und Proust, der keinen homosexuellen Roman verfasst habe, denn es gehe nur um die Erinnerung, in der „sexuelle Vollziehung nur als vergangene“ geschildert wird.[7]

Im längsten Absatz von Hans Mayer über Marcel Proust, wieder in den Aussenseitern geht es, wie eingangs bereits angedeutet, u. a. um den Baron Charlus und Albert Bloch, sind doch ihre Gespräche so emblematisch für die ganze Recherche: Es geht um das Wiedersehen nach einigen Jahren: „Bloch war im Sprung eingetreten, wie eine Hyäne.“[8] Ein Wiedersehen nach zwanzig Jahren, eine Gelegenheit, jetzt über seinen künstlerischen und offenbar auch gesellschaftlichen Aufstieg zu sprechen, über den der Erzähler nachdenkt, zumal Blochs Start in diesem „Roman-fleuve“ einer mit Hindernissen war. Natürlich interessiert sich Mayer für Bloch, weil dieser so viel und auch irgendwie schön über die Literatur erzählt, und Mayer ist wohl auch ein wenig enttäuscht: „in einem Tonfall, der einerseits an den Polizeibericht gemahnt…“ In Bezug auf de Musset sagt das „Vernehmungsprotokoll“ „Hochstapler“: Alles ist gewollt und stilisiert,“ notiert Mayer: „Die vollkommene Konvention der Unkonvention.“ Und dann Blochs Manieren: Nochmal „Perfekte Konvention der Unkonvention“, mit Blochs wunderbarer Entschuldigung, als er sich zum Mittagessen um eineinhalb Stunden verspätet: „Ich lasse mich niemals durch den Trubel der Atmosphäre oder die herkömmlichen Zeiteinteilungen beeindrucken. Gern würde ich die Opiumpfeife oder den malaiischen Kris wieder zu Ehren bringen, aber ich ignoriere die viel gefährlicheren, und übrigens platt bourgeoisen Instrumente: die Uhr und den Regenschirm.“ (S. 403). Bloch der perfekte Außenseiter, den man nicht wiedersehen will. Was Charlus betrifft: „Übrigens ist Charlus‘ Argumentation zugunsten von Dreyfus schlimmer als die nackte antisemitische Negation,“ (S. 403) erklärt Mayer, Charlus meint der Landesverrat von Dreyfus richte sich höchstens gegen „Judaea“. Unmittelbar fechten er und Bloch ihre Unterschiede nicht aus, aber Mayer erkennt deren besondere Stellung ihrer Konfrontation im Roman: „In der Gesamtkomposition des großen Romans aber ist die als wichtiges Bauelement verarbeitet.“ (ebenda) Präzise gibt Mayer die Entwicklung der beiden Figuren wieder: „Im Maße wie Bloch in die Gesellschaft der aristokratischen Salons hineinwächst, wird Charlus unaufhaltsam von ihr ausgeschieden.“ (S. 405)

Im zweiten Band von Ein Deutscher auf Widerruf erinnert Hans Mayer an eine der berühmtesten Stellen in der Recherche: Der Erzähler tunkt seine »Madeleine« in seinen Tee und nimmt sogleich – seiner unwillkürlichen Erinnerung folgend – alle Düfte des Gartens war, die aus der Tasse aufsteigen. So beginne seine Suche nach der verlorenen Zeit, notiert Mayer: „Den zeremoniell servierten Kräutertee in Frankreich konnte ich niemals ausstehen.“[9] Und im Gespräch über Paul Celan erinnert sich Mayer unwillkürlich an Proust: „Wer sich erinnert, hat damit zugleich die Möglichkeit, sich nicht zu erinnern. Wer plötzlich, wie bei Proust nachzulesen, eine Kindheitserinnerung an die Großmutter wiederfindet, oder jäh die kleine musikalische Wendung aus einer Sonate von Vinteuil erinnert, hat lange im Zustand eines intermittierenden Vergessens gelebt. Nun ist das Damalige ins Bewusstsein zurückgekehrt.[10]

Die immer wiederkehrende Begegnung mit Proust unter verschiedenen Vorzeichen im Werk von Hans Mayer verführt zum Lesen oder Wiederlesen der Recherche du temps perdu.

Marcel Proust wird am 10. Juli 1871 in Paris geboren. Er war Schüler im Lycée Condorcet und hat an der École des Sciences Politiques studiert und an der Sorbonne Vorlesungen von Henri Bergson gehört. 1888 begann er in literarischen Zeitschriften zu publizieren, die er mit Freunden gegründet hatte, wie die Revue lila oder die Le Banquet. Ab 1893 schrieb er auch für die Revue blanche, wo auch Mallarmé und Gide ihre Texte veröffentlichten. Die Welt der Salons des Faubourg Saint-Germain wird ihm sehr vertraut, indem er Berichte über ihre Feste schreibt, erste Vorübungen zu den langen Kapiteln über die Soirée in der Recherche. 1896 erscheint Les plaisirs et les jours (dt. Tage der Freuden 1926) mit einer Sammlung von Aufsätzen und Rezensionen. Danach begann er einen Roman, Jean Santeuil, den er aber unvollendet ließ, der erst 1952 (dt. 1965) aus seinem Nachlass erschien. 1899 übersetzt er John Ruskin Sesame and the Lilies. Contre Sainte-Beuve (dt. Gegen Sainte-Beuve, 1954) entsteht 1908-1910. Um 1908 begann Proust mit der Imitation großer Schriftsteller und erzählte in Pastiches et mélanges, 1919 (dt. Pastiches; 1969) die Diamanten-Affäre Lemoine aus der stilistischen Sicht von Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, sogar aus der Feder von Sainte-Beuve, der den Roman von Flaubert über diese Affäre rezensiert, Michelet, Émile Faguet oder Saint-Simon und schärft mit diesen Übungen sein stilistisches Können. 1909 begann er mit den ersten Arbeiten für seinen Romanzyklus A la recherche du temps perdu (15 Bände, 1913-1927) (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1953-1957). Der Start war schwierig, die ersten drei Verlage, denen er das Manuskript schickt, lehnten es ab. Dann erschien 1913 der erste Band bei Grasset, wofür Proust alle Kosten übernahm. Die begeisterten Kritiken gaben ihm Recht. 1916 übernahm die Nouvelle Revue française alle Rechte und veröffentlichte 1919 A l’ombre des jeunes filles en Fleur (dt. Im Schatten junger Mädchenblüte). Für diesen Band erhielt er im gleichen Jahr den »Prix Goncourt«.

Die Recherche ist ein großartiger Romanzyklus, der das mondäne Leben im Faubourg Sait-Germain und u.a. die Urlaubsfreuden in Balbec an der Küste vorstellt. Es geht um Liebe und viel Eifersucht, es geht um die Imagination, überhaupt darum wie Literatur Ideen transportiert, wie Erinnerung entsteht, was die Vergangenheit für uns bedeutet, wie sich im Kopf der Leser, in unseren Köpfen die Realität zusammensetzt. Kunst und Technik (Telefon, Auto, Eisenbahn), menschliche Beziehungen in allen ihren Formen, die Empfindlichkeiten jeder Art, wie das ästhetische Gefühl entsteht, wie Literatur wirken kann, wie eine Gesellschaft sich über Jahrzehnte hinweg verändern kann, das sind die großen Themen der Recherche. Es ist ein Kompendium der (Literatur-) Ästhetik, in dem der Autor uns immer wieder von Neuem grundlegende Einsichten präsentiert.

Die vier Pléiade-Bände der Recherche du temps perdu (1987-1989) enthalten jeder jeweils auf seinen letzten Seiten auf mehreren Seiten ein Résumé des jeweiligen Bandes.

Marcel Proust ist am 18.11.1922 in Paris gestorben.

Heiner Wittmann

* Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. I, Frankfurt 21985, S. 234.

[1] Mayer, Aussenseiter, Frankfurt 1975, S. 379.
[2] Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. I, Frankfurt 21985, S. 189.
[3] Mayer, Aussenseiter, S. 137.
[4] Mayer, Aussenseiter, S. 162.
[5] Mayer, Aussenseiter, S. 177.
[6] Vgl. Mayer, Aussenseiter, S. 182.
[7] Vgl. Mayer, Aussenseiter, S. 266.
[8] Vgl. Mayer, Aussenseiter, S. 401 und im Folgenden, S. 401-406.
[9]  Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. II, Frankfurt 1984, S.267.
[10]  Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Bd. II, S.321f .

„Und Shakespeare weint.“

Hans Mayer und Georg Lukács – Eine kritisch-respektvolle Beziehung

Mit Datum vom 7. Juni 1957 ging bei dem „Lieben Kollegen Mayer“ ein Brief mit folgendem Wortlaut ein: „Entschuldigen Sie, dass ich mich mit einer Bitte an Sie wende. Seit früher Jugend sind mir die folgenden Zeilen im Gedächtnis geblieben: Meister Arouet sagt: Ich weine / Und Shakespeare weint. Ich habe immer geglaubt, dass diese Zeilen von Mathias Claudius sind. Als ich sie aber unlängst irgendwo zitieren musste, habe ich die Stelle bei Claudius nicht gefunden. Hier konnte ich nicht erfahren, von wem sie stammen, wenn mich mein Gedächtnis wirklich getäuscht hatte. Für Sie ist es sicher eine Kleinigkeit, mich darin aufzuklären.
Im voraus herzlichen Dank. Bitte grüßen Sie meine Leipziger Freunde herzlichst
Ihr ergebener Georg Lukács.“[1]

Der nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes von 1956 in der Sowjetunion, Ungarn und der DDR verfemte Kulturminister aus der Regierung des zum Tode verurteilten und 1958 hingerichteten ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy[2] wusste, dass er sich mit seiner Anfrage an den Richtigen wandte. Für den jungen Studenten Hans Mayer war der Autor des 1923 erschienen Buches »Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien zur marxistischen Dialektik« einer seiner wichtigsten Lehrer.[3] In seinen »Erinnerungen« schreibt er: „Der gelb broschierte Band aus dem Malik Verlag hat in meinem Leben eine beträchtliche Rolle gespielt. Bei der ersten Emigration konnte ich ihn noch mitnehmen, verlor ihn dann, er war auch nicht zu ersetzen, denn der Autor Lukács verleugnete sein Buch, wollte es nicht wieder publizieren, gab den Neudruck erst im Jahre 1968 für die Gesamtausgabe frei.“[4]

Um 1930 veranstalteten die Philosophen Helmuth Plessner, Erwin von Beckrath und Alfred Müller (-Armack) an der Universität Köln ein Marxismus-Seminar. Der erste Referent war Hans Mayer mit dem Thema „Was ist orthodoxer Marxismus?“ Das entsprach dem gleichlautenden ersten Kapitel des Lukács-Buches. Zum Ende des Vortrages meinte Plessner etwas belustigt aber auch nachdenklich: „Wenn man das akzeptiere, was soeben vorgetragen wurde, so laute die Folgerung, daß man orthodoxer Hegelianer sein müsse, um orthodoxer Marxist zu werden.“[5]

Der junge Lukacs (Foto: OSZK)

Lukács’ Buch und Anderson Nexös »Pelle der Eroberer« bewirkten, dass Hans Mayer zum „Roten Kämpfer“ wurde. Mit der Marxistischen Arbeiterzeitung »Der Rote Kämpfer«, die Mayer mit anderen Genossen ab 1930 herausgab, versuchte man die politische Debatte – insbesondere zwischen KPD und SPD – zu beeinflussen.  »Geschichte und Klassenbewußtsein« war nicht nur für den jungen Hans Mayer ein „Erweckungsbuch“. 1970 erschien es als eine Sonderausgabe im Luchterhand-Verlag als Taschenbuch. Noch kostengünstiger war der in Studentenkreisen erhältliche Raubdruck des Werkes in den siebziger Jahren. In dem zur Wiederauflage geschriebenen kritisch reflektierenden Vorwort weist Lukács darauf hin, dass das Kapitel über die „Verdinglichung“ sowie die Kategorie der „Vermittlung“ zentrale Themen des Buches ausmachen. In seiner Spiegelrezension beim Wiedererscheinen des Buches stellt Hans Mayer unter dem Titel „Widerruf des Widerrufs“ fest: „Es gibt kaum eine aktuelle Diskussion über die heutigen Perspektiven von Kapitalismus und Sozialismus. bürgerlichem und marxistischem Denken falschem und richtigem Bewußtsein, Selbstentfremdung und Warencharakter des Kulturbetriebes, die nicht zuerst von Georg Lukács und diesem Buch hier angeregt worden wäre.“[6]

Natürlich hat der „Kollege Mayer“ den „Lieben, verehrten Georg Lukács“ 1957 nicht lange auf seine Antwort warten lassen. Ein am 14.6.1957 aus der Tschaikowskystraße 23 in Leipzig abgesandter Brief enthielt folgende Mitteilung: „Ihr Gedächtnis hat Sie auch diesmal nicht betrogen. Die erwähnten Zeilen sind in der Tat von Matthias Claudius. Sie stehen im “Wandsbeker Boten“ in Nr. 200 vom Jahre 1771, und zwar unter dem Titel „Vergleichung“. Sie lauten genau:

Voltaire und Shakespeare: der eine
Ist was der andere scheint.
Meister Arouet sagt: ich weine;
Und Shakespeare weint.

Auch ich halte den Vierzeiler für eine meisterhafte Prägung, weshalb ich ihn in einer Studie über „Schillers Vorreden zu den ‘Räubern’ gleichfalls zitiert und analysiert habe. Meine Studie … habe ich dann in meinen Essayband „Deutsche Literatur und Weltliteratur“ aufgenommen, … Mit der gleichen Post schicke ich Ihnen das Buch zu und hoffe, Sie mögen aus dem Ganzen wie den Einzelheiten entnehmen, wie sehr dies alles Ihnen und Ihrem Werk verbunden ist.“[7]

In seinem Beitrag zu „Schiller Vorrede“ reflektiert Mayer das Claudius-Zitat in Bezug auf den Ausdruck von Empfindung in einer theatralischen Handlung, die eine Demonstration in vermittelter gespiegelter Form sei.[8] Vielschichtiger und dezidierter geht Lukács in seiner „Eigenart des Ästhetischen“ auf dieses Claudius-Zitat ein. Im Kapitel zum „Entstehen der ästhetischen Kategorien aus der magischen Mimesis“ schreibt er: „Da die mimetischen Gebilde vor allem Gefühle, Leidenschaften etc. zu evozieren berufen sind, muß jener, der sie direkt (im Tanz, Schauspiel) oder indirekt (Dichtung, bildende Kunst etc.) hervorrufen will, diese Gefühle und Leidenschaften denkbar intensiv erleben;…“ Kritsch reflektiert er dann im Folgenden: „Die Direktheit muß in den rezeptiven Beziehungen zu den Widerspieglungsbildern schon darum fehlen, weil die Art der Reaktion auf das vom Leben erweckte echte Gefühl eine völlig andere ist.“[9]

Für den Essayband „Deutsche Literatur und Weltliteratur“ hatte Mayer auch geplant, seinen damaligen Beitrag zum 70. Geburtstag aufzunehmen. Das Buch „Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag“ war 1955 im Aufbau-Verlag erschienen. In seinem Beitrag dafür hatte Mayer sehr klug über das Geburtstagskind und seine Bedeutung für die marxistische Literaturwissenschaft reflektiert. Dort heißt es unter anderem „ … wenn bestimmte literarische Fehlkonzeptionen für einen Menschen, der Lukács einmal richtig gelesen hat, nicht mehr diskutabel erscheinen, so zeigt sich daran, daß die Wissenschaft dieses ungarischen Ästhetikers, Philosophie- und Literaturhistorikers auch insoweit diesmal marxistischen Grundcharakter trug, als sie für die Wirklichkeit und die Diesseitigkeit ihres Denkens bloß das Kriterium der Praxis kennen ließ.“[10] Zwei Jahre später war dieser Beitrag für die SED aber absolut inakzeptabel. Lukács war seit dem Ungarnaufstand 1956 Persona non grata. Nicht einmal sein Name durfte mehr genannt werden.[11] Für Hans Mayer war das aber keinesfalls ein Grund, mit Georg Lukács keinen Kontakt mehr zu haben. Am Ende des Geburtstagsbeitrages schrieb er: „Ich habe Georg Lukács unendlich viel zu verdanken und weiß nicht, wo ich heute stünde, wäre ich ihm und seinem Denken nicht begegnet. Dafür möchte ich danken, und ich möchte dem verehrten Manne noch viele reiche Lebens- und Schaffensjahre wünschen.“

Er korrespondiert weiter mit ihm und sendet ihm seine Publikationen zu. Bei ihren Einschätzungen zu Brecht und E.T.A. Hoffmann sowie Kleist gibt es durchaus Differenzen. Bei Joyce und Kafka klaffen Welten. Die kontroversen Anschauungen werden z.T. in den Briefen benannt oder finden sich in einschlägigen Passagen in den Erinnerungen von Hans Mayer. Sehr konkret auch in der Publikation von Mayer über „Bertolt Brecht und die Tradition“.[12]

Im Oktober 1962 – ein Jahr vor seinem Weggang aus der DDR – konnte Mayer den verehrten Lehrer in Budapest noch einmal besuchen. „Er hatte sich wohl, nach so vielen Wandlungen und Gefahren, mit Ernst Bloch zu reden ‘zur Kenntlichkeit verändert’. Das war ein leiser, gütiger, zuhörender, gesprächsbereiter Mann von 77 Jahren. Er kommentierte damals, die Stimme zur Vertraulichkeit dämpfend, warum er zweimal offizielle Selbstkritik übte, ohne jemals daran zu glauben. Jetzt aber sei es abgetan. Selbstkritik gleich welcher Art könne von ihm nicht mehr erhofft werden.“[13]

In der Folgezeit versäumt Mayer nicht, dem verehrten Lehrer jedes Jahr zum Geburtstag zu gratulieren. Am 30. Juni 1970 schickt er aus Hannover ein Einschreiben nach Budapest, um dem „Lieben Meister“ zur Verleihung des Frankfurter „Goethepreises“ zu gratulieren. Er hoffte, ihn zur Preisverleihung in Frankfurt wiederzusehen. Die hat aber dort nicht stattgefunden. Aus gesundheitlichen Gründen konnte Lukács nicht an der Feierstunde zur Preisverleihung teilnehmen. Am 31.8.1970 überreichte ihm daher der Oberbürgermeister Walter Möller mit einer Frankfurter Delegation, der auch Iring Fetscher als Laudator für Lukács angehörte, den Preis in Budapest. Die Auszeichnung des marxistischen Literaturästhetiker war heftig umstritten. Ablehnung gab es auch, weil Lukács ein Drittel des Preisgeldes von insgesamt 50.000 Mark dem Vietcong zur Verfügung stellte, bzw. das Preisgeld für die Aktion zur Rettung von Angela Davies erwägte.

Statue von Georg Lukacs (wikimedia)

Gut ein halbes Jahr später starb Georg Lukács am 4. Juni 1971 in Budapest. Ein Jahr später wurde in seiner Wohnung das öffentlich zugängliche Georg-Lukács-Archiv eröffnet. Nicht weit davon wurde zu seinen Ehren 1985 ein Statue aufgestellt. Doch für die rechte Orban-Regierung in Ungarn ist der Marxist und Jude Lukács ein Ärgernis. Trotz weltweiter Proteste wurde das Archiv 2016 geschlossen und ausgelagert. Die Statue im Szent-István-Park wurde laut Beschluss des Budapester Stadtrates auf Antrag der rechtsradikalen Jobbik-Partei 2017 entfernt.

Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung.

In Brasilien ist jüngst das Lukács-Buch »Die Zerstörung der   Vernunft« veröffentlicht worden und die Debatte um seine Inhalte befördert dort Aufschlüsse über die ideologischen Inhalte der aktuellen politischen Entwicklung dort. Außerdem gibt es eine zweite Lukacs-Renaissance in China. Weitere Informationen finden sich auch über neue Publikationen in Deutschland auf der Seite der Internationalen Lukács-Gesellschaft. Ein bei Suhrkamp erschienenes neues Buch mit ausgewählten Texten zur Ästhetik, Marxismus und Ontologie gibt einen guten Einblick in die immer noch lesenswerten Texte von Lukács.

[1] Zitiert nach dem Typoskript MTA Budapest Lukács Archiv.
[2] Siehe Dalos, György: „Der Prozess gegen Imre Nagy, Ungarn 1956–1958“, in: Groenewold/ Ignor / Koch (Hrsg.), Lexikon der Politischen Strafprozesse, https://www.lexikon-der-politischen-strafprozesse.de/glossar/nagy-imre/, letzter Zugriff am 4.06.2021. ‎
[3] Siehe Hans Mayer, Einige meiner Lehrer, Die Zeit, Nr. 13/1977 vom 5. März.
[4] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf- Erinnerungen, Frankfurt am Main 1982, S. 96.
[5] A.a.O., S. 105.
[6] Der Spiegel 36/1970 vom 30.08.1970, S. 127.
[7] Zitiert nach dem Typoskript MTA Budapest Lukács Archiv. Abgedruckt in: Hans Mayer, Briefe 1948-1963, herausgegeben und kommentiert von Mark Lehmstedt, Leipzig 2006, S. 330.
[8] Siehe: Hans Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze, Berlin 1957, S. 420.
[9] Georg Lukács, Die Eigenart des Ästhetischen Band 1, Berlin und Weimar 1981, S. 404.
[10] Georg Lukács zum siebzigsten Geburtstag, Berlin 1955, S. 168.
[11] Siehe dazu auch die Erläuterungen Lehmkuhls zum Brief Mayers an Johannes R. Becher vom 25. März 1957, in: Hans Mayer, Briefe 1948-1963, herausgegeben und kommentiert von Mark Lehmstedt, Leipzig 2006, S. 323.
[12] Hans Mayer, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961.
[13] Hans Mayer, Einige meiner Lehrer, Die Zeit, Nr. 13/1977 vom 5. März.

„Alles war auf Widerruf angelegt“

Der 20. Todestag Hans Mayers fällt in ein besonderes Jahr. Es wird der 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland gedacht. Beleg hierfür ist ein Edikt, das der römische Kaiser Konstantin am 11. Dezember 321 erlassen hat. Das Gesetz besagt, dass Juden städtische Ämter in der Kurie, dem Stadtrat Kölns, bekleiden dürfen.
In diesem Festjahr „#2021JLID“ wird es am 8. Juni eine Veranstaltung geben, in der an den aus einer jüdischen Familie stammenden Hans Mayer erinnert wird. Nachfolgend ein Beitrag zu Hans Mayers Judentum, der auch auf der Seite »Literatur in Köln« unter der Rubrik „Aktuelles“ dokumentiert ist. Siehe: https://literaturinkoeln.de/

Hans Mayer über Köln und sein Judentum

„Wenn die kleinen Judenkinder in Köln im Herbst zu den großen jüdischen Feiertagen des Neujahrsfestes und des Versöhnungsfestes in die Synagoge gingen, standen draußen, zu Anfang der zwanziger Jahre, die kleinen katholischen Kinder, um die ungläubigen Judenkinder zu verspotten. Lachend plärrten sie ihre Beschimpfungen, die so begannen: »Jud! Jud! Jud!, Hep! Hep! Hep!, Steck de Nas inne Wasserschepp«.“

Mit dieser “Kindergeschichte“ in seinem Buch »Reisen nach Jerusalem« erinnert sich der am 19. März 1907 in der Genter Straße 30 geborene Hans Mayer an seine jüdische Herkunft. Der Spottruf „Hep“, den die Kinder nicht hätten erklären können, erinnerte an die Eroberung Jerusalems im Jahr 70 durch den römischen Feldherrn und Kaiser Titus. Der Tempel wurde zerstört und die heiligen Geräte als Siegesbeute nach Rom gebracht. Nach der Vertreibung der Juden in eine Welt der Diaspora verhöhnten die Sieger die geschlagenen Juden mit dem Spottruf: »Hierosolyma est perdita. Jerusalem ist verloren! Hep!«[1] Dieser Ruf, so Hans Mayer, galt immer noch, auch am Ausgang eines zweiten Jahrtausends im römisch-katholischen Köln.

„Alles war auf Widerruf angelegt. In der ehemals freien Reichs- und Hansestadt Köln konnte das bürgerliche Judentum mit viel Duldung und keiner ernsthaften Gleichberech­tigung rechnen.”[2] in dem Kapitel »Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens« stellt Hans Mayer dann fest: „Das bürgerliche Judentum jedoch vermochte sich auf niemand zu stützen: nicht auf den reichen und einflussvollen bürgerlichen Katholizismus, ebenso wenig auf die diffusen und in sich uneinigen Neinsager. Als Bürger konnten die Kölner Juden nicht gemeinsame Sache machen mit der Arbeiterschaft. Als Juden verfielen sie der theologischen Verurteilung. Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens. Sie hatten nichts für sich anzuführen, als die Gleichheit vor dem Gesetz. Das war zu wenig.”[3] Das jüdische Bürgertum so konstatiert Mayer, „durfte dabei sein, ohne irgendwo mitbestim­men zu können.“[4]

[1] Hans Mayer, Reisen nach Jerusalem, Frankfurt am Main 1997, S. 11
[2] Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf Erinnerungen I, Frankfurt am Main 1982, S. 53
[3] ebenda, S. 55
[4] a. a. O., S. 56

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HM_Repräsentant und Aussenseiter

 

„Vermittler zwischen den Sektoren und auch den Sektierern“ [1]

Claudia Wörmann-Adam

Erich Fried und Hans Mayer eine Freundschaft –
Zum 100. Geburtstag Erich Frieds am 6. Mai 2021

Hans Mayer erinnert sich nicht genau, wann er Erich Fried das erste Mal traf, nur dass dies schon kurz nach 1945 gewesen sein muss, als sich in rascher Folge Antifaschist*innen und Schriftsteller*innen auf unterschiedlichen Kongressen begegneten. Er ist sich aber ganz sicher, dass er vor Erich Fried gewarnt wurde: man sprach negativ über ihn, bezichtigte ihn von kommunistischer Seite der Zusammenarbeit mit der englischen BBC; das galt als Verrat!

In der Tat arbeitete Erich Fried eine Zeitlang als Rundfunksprecher beim BBC in London, seiner 2. Heimat, in die er als kritischer junger Wiener Jude vor den Nazifaschisten fliehen musste. Mayer erinnert sich, dass er auch schon früh auf dessen literarische Arbeit aufmerksam gemacht wurde, die sei interessant. Das war kurz nachdem Mayer seine Professur in Leipzig angetreten hatte.

Über Mayer ist häufig geschrieben worden, er sei in seinen Reaktionen harsch, aufbrausend und manchmal auch arrogant gewesen. Wenn man die Texte liest, die Mayer über Fried geschrieben hat, bekommt man einen ganz anderen Blick auf Hans Mayer: er schreibt sehr freundschaftlich, warmherzig, liebevoll fast zärtlich über Erich Fried, der ihm sehr viel bedeutet hat.

Erich Fried wurde am 5. Mai 1921 als einziges Kind von Hugo und Nellie Fried in Wien geboren. Die Familie war jüdisch; der Vater von Beruf Spediteur, die Mutter Grafikerin. Im Mai 1938 kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland wurde Hugo Fried bei einem Verhör durch die Gestapo zu Tode getreten. Der Mörder wurde nie verurteilt, sondern lebte nach dem Krieg in Düsseldorf und bezog eine Pension als Oberzollrat.[2] Dieser Mord führte dazu, dass Erich Fried als 17-Jähriger über Belgien nach London emigrierte wo er bis zu seinem Tod bleiben sollte. Es gelang ihm noch seine Mutter nach London zu retten, alle übrigen Verwandten wurden durch die Nazi-Faschisten verfolgt und umgebracht.

Erich Fried hatte schon als Kind begonnen zu schreiben und wurde einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er übersetzte kongenial Autor*innen englischer Sprache ins Deutsche darunter William Shakespeare, T. S. Eliot, Graham Green, Sylvia Plath und Dylan Thomas. Er mischte sich wie kaum ein anderer in politische Diskussionen ein, vertrat Positionen der damaligen außerparlamentarischen Opposition; demonstrierte und trat als Redner bei politischen Kundgebungen auf. Es heißt über ihn, dass er sich „in konservativen und rechten Kreisen einen Ruf als „Stören-Fried“ erwarb“.[3] Fried engagierte sich gegen den Vietnam-Krieg, für Frieden und Abrüstung, gegen Ausgrenzung und Rassismus, für Menschenrechte, gegen jede Form von Unrecht und er schrieb, neben vielen engagierten sehr politischen Gedichten, viele der schönsten modernen Liebesgedichte deutscher Sprache.

Erich Fried beim Antikriegstag 1979 in der Dortmunder Westfalenhalle     (Foto: HB)

Mayer sah in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts in Westberlin das von Erich Fried übersetzte Theaterstück »Unter dem Milchwald« von Dylan Thomas „dem genialischen Dichter aus Wales“. Er schreibt dazu: „Ich sah die Aufführung, dann las ich das Stück, dann hatte ich für mich zwei Autoren entdeckt: den Dylan Tomas, dem ich leider nie begegnen sollte, und den Erich Fried.“[4]

Er beschreibt, wie sich langsam eine Beziehung zwischen ihnen aufbaut, vor allem durch die regelmäßigen Treffen im Rahmen der „Gruppe 47“, der beide angehörten. Schon früh stellte sich bei Mayer ein Gefühl der Freundschaft für Erich Fried ein: „Seitdem bleibt bei mir der Eindruck vorherrschend, dass ich ihn immer schon kannte, und dass er immer schon mein Freund war.“[5]

Und weiter: „Es geht wohl noch auf jene mittleren fünfziger Jahre zurück, dass ich Erich Fried, dem Kind eines jüdischen Elternhauses zu Wien, von meinem jüdischen Elternhaus in Köln am Rhein erzählte. Von meiner Schulzeit, den albernen Schulaufsätzen, darunter einem mit dem besonders albernen Titel »Was ist uns Deutschen der Wald?«. Erich Fried lachte, als ich davon erzählte, dann verging ihm das Lachen. Man begreift, wenn man sein berühmt gewordenes Gedicht liest, das eben den Titel meines Primaneraufsatzes als Überschrift trägt: »Was ist uns Deutschen der Wald?«. Er hat mir das Gedicht gewidmet.“[6]

Hans Mayer beschreibt auch Dissonanzen, die es zwischen den beiden gab, die aber der Freundschaft nicht dauerhaft schaden konnten.

In seiner Rede anlässlich des 65. Geburtstages von Fried beginnt Mayer: „Eine Rede auf Erich Fried, sogar eine Geburtstagsrede? Noch dazu in seiner Anwesenheit? Da sollte man auf der Hut sein. Ich kenne ihn. Dann sitzt er da, und dichtet heimlich.“[7] Er beschreibt, wie er immer wieder beobachtet hat, dass Fried bei Vorträgen und Lesungen Gedichte schrieb, ihm die manchmal rüber schob, damit er sie begutachten sollte; gleichzeitig hörte Fried aber aufmerksam dem Gesagten zu und meldete sich voll konzentriert zu Wort. Für Mayer war es faszinierend, diesen Dichterprozess zu verfolgen: „Hier saß einer und schien überzuströmen vor Wörtern und Worten, Wortspielen und Wörtlichkeiten.“[8]

Er spricht von den „vier großen Begabungen“ Erich Frieds: die dichterische, die für den großen Zorn, die eines großen Clowns, und, wie er schreibt, „die vielleicht größte neben dem poetischen Ausdruckszwang: seine Begabung für Freundschaft“. Und weiter: „Ich habe selten einen Menschen gefunden, noch dazu in der Welt der Literaten, der so unzugänglich wäre für die beiden Todsünden Geiz und Neid. Erich Fried praktiziert das neidlose Lob, und seine Warnungen sind Freundeswort.“[9]

Die zweite und letzte Rede, die Hans Mayer zu Ehren von Erich Fried hielt, war die auf der Trauerfeier nach seinem Tod 1988: „Vom Dichter Erich Fried soll zuerst gesprochen werden, aus diesem Anlass und an dieser Stelle. Von ihm her ist nämlich alles gekommen, was wir erlebt haben mit ihm und durch ihn: vom unablässigen Strömen der Sprache, genauer noch: Strömen der zärtlich geliebten Wörter, denen Erich Fried ihr Geheimnis ablauschte, ihren Nebensinn, ihre Widersprüche.“ Er beendet seine Rede mit: „Erich Fried: Ehre seinem Andenken.“[10]
Am 22. November 1989, genau ein Jahr nach Erich Frieds Tod, wird die Internationale Erich Fried Gesellschaft für Literatur und Sprache durch den Gründungspräsidenten Hans Mayer ins Leben gerufen. (Siehe: http://www.literaturhaus.at/index.php?id=6538.)

Der Band „Hans Mayer über Erich Fried“ endet mit einem weiteren Gedicht, das Erich Fried Mayer widmete: „Exkurs: Paul Celan für Hans Mayer“[11]; darin heißt es in den letzten Zeilen:

Du
hast das festgehalten
in deinen Worten
stark und behutsam
als hättest du so
ihn
festhalten können

Man wird es dir
und man wird dich
ihn und dich
nicht vergessen

Diese Zeilen sollten Hans Mayer und Paul Celan ehren. Hans Mayer hat in wenigen Tagen seinen 20. Todestag, Paul Celan hatte letztes Jahr seinen 100. Geburts- und 50. Todestag; Erich Fried am 6. Mai dieses Jahres seinen 100. Geburtstag. Es lohnt sich, der drei zu erinnern: am besten, indem man sie liest.

Claudia Wörmann-Adam

[1] Hans Mayer, Über Erich Fried, Hamburg 1991, S. 11
[2] Gerhard Lampe, „Ich will mich erinnern an alles was man vergißt“ Erich Fried Biographie und Werk, Köln 1989, S.11
[3] Wikipedia zu Erich Fried, aufgerufen am 4.5.2021
[4] H.M., über E.F., S. 10
[5] Ebenda, S. 10
[6] Ebenda, S. 12
[7] Ebenda, S. 29
[8] Ebenda, S. 31
[9] Ebenda, S. 32 ff
[10] Ebenda, S. 39 ff
[11] Ebenda, S. 56

Einheit von Geist und Tat – Leitmotiv der literarischen und öffentlichen Wirksamkeit

Zum 150. Geburtstag von Heinrich Mann
„Seinen höchsten Augenblick hat er wohl am 21. Juni 1935 erlebt und natürlich in Paris. Damals hatte Heinrich Mann sein 64. Lebensjahr vollendet; …einem sicheren Tod durch die neuen deutschen Machthaber hatte er sich lebensklug immer wieder in entscheidenden Augenblicken, rechtzeitig entziehen können.“ Mit diesen Worten beginnt Hans Mayer seinen Vortrag »Die Größe Heinrich Manns« am 24. April 1988 in der Akademie der Künste in Berlin.[1]

1950 für die Büchergilde vom Autor mit dem Filmtitel autorisierte Ausgabe des Professor Unrat (Foto HB)

Als Heinrich Mann am 21. Juni 1935 beim internationalen Schriftsteller-Kongress auf der Tribüne des großen Saals der Mutualité in Paris erschien, „erheben sich die 5000 oder 6000 Anwesenden, ohne daß jemand ein Zeichen gegeben hätte. Sie erhoben sich schweigend zu Ehren des großen deutschen Exilierten Heinrich Mann. In ihm ehrten sie das Deutschland, das der Welt unverlierbare Werte der Kultur und Gesittung überantwortet hat.“[2] Ludwig Marcuse, so stellt Hans-Albert Walter fest, beschreibt Mann 1935 bereits als „das (noch ungekrönte) Haupt nach dem Zusammenbruch des Milleniums“.[3] Heinrich Mann war seit dem Oktober 1933 Ehrenpräsident des (wiederbegründeten) „Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil“ (SDS) und Ehrenmitglied des britischen PEN-Clubs. Er vertrat die Angelegenheit der Exilierten vor dem Völkerbund und war Vorsitzender des Ausschusses zur Schaffung einer deutschen Volksfront. In seiner Rede vor dem Schriftstellerkongress stellte Mann fest: „Widerstand ist geboten. Man muß sich wappnen, nicht mit Geduld, sondern mit gefestigten Überzeugungen. … Zu verteidigen haben wir eine ruhmreiche Vergangenheit und was sie uns vererbt hat, die Freiheit zu denken und nach Erkenntnissen zu handeln.“[4] Mann formuliert hier erneut sein Leitmotiv, die „Einheit von Geist und Tat“. In seinem Erinnerungsband „Ein Zeitalter wird besichtigt“ fixiert Mann mit dem 1910 geschriebenen Essay „Geist und Tat“ den Beginn seiner Tätigkeit, die nicht nur auf Erkennen und Wiedergabe sondern auch auf Verändern gerichtet ist.[5] Dort schaut er auf Frankreich das (seit der Revolution) bereit ist, für den Geist zu streiten als die „Ratio militians selbst“. In Deutschland aber „Kein großes Volk: nur große Männer.“[6] Das Volk allerdings diskreditiert Mann nicht. Die „abtrünnigen Literaten …haben das Leben des Volkes nur als Symbol genommen für die eigenen hohen Erlebnisse.“ Mann fordert, dass sie „sich dem Volk verbünden gegen die Macht, daß sie die ganze Kraft des Wortes seinem Kampf schenken, der auch der Kampf des Geistes ist.“[7]

Das Grab Heinrich und Nelly Manns auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof (Foto HB)

In einem Vortrag an der Tübinger Universität zu den Brüdern Mann geht Hans Mayer auf das Leitmotiv Heinrich Manns ein, dass dieser, den Essay von 1910 fortschreibend, in seinem großen Beitrag zu Emile Zola 1915 formuliert hat. Es ist „die Vision einer demokratischen (und nicht mehr kapitalistischen) Gesellschaft. Die Verbindung von imperialistischem Krieg und imperialistischer Wirtschaft und wird klar denunziert.“[8]

Schon am Beginn des Krieges, dessen Ende vorausschauend, formuliert Heinrich Mann mit Blick auf das Ende der zweiten Französischen Republik aber dabei auch das Ende des deutschen Kaiserreichs meinend: „Demokratie aber ist hier ein Geschenk der Niederlage. Das Mehr an allgemeinem Glück, die Zunahme der menschlichen Würde, Ernst und Kraft, die wiederkehren, und eine Geistigkeit bereit zur Tat: Geschenke der Niederlage.“[9] Heinrich Mann spricht äußert zutreffend über Zola, dessen Leben, dessen Texte und dessen Handeln. Aber permanent liest man dabei auch Manns eigenes Denken und seine Handlungsintentionen. Sein Hoffen und Wünschen, den Sinn und Zweck seiner Arbeit und seines Handelns. In seinem Nachwort zu dem von ihm herausgegebenen Text formuliert Kantorowicz diesen Zola-Text auch als „Selbstbekenntnis Heinrich Manns“[10].

Die konsequente Fortführung dieser Überlegungen und Forderungen finden sich dann im Schreiben und Handeln Manns während seiner Exilzeit in Frankreich. Dorthin musste er nach der Machtübernahme durch die Nazifaschisten als einer ihrer prominentesten und nachhaltigsten Kritiker fliehen. Im Juni 1932 hatte er gemeinsam mit Albert Einstein, Käthe Kollwitz und anderen einen „Dringenden Appell“ unterzeichnet, der Aufbau einer einheitlichen Arbeiterfront und das Zusammengehen von SPD und KPD forderte.[11] Er endete mit dem Satz: „Sorgen wir dafür, daß nicht Trägheit der Natur und Feigheit des Herzens uns in die Barbarei versinken lassen!

Außerordentlich groß ist im französischen Exil die publizistische Tätigkeit Heinrich Manns. Nach einer Untersuchung von Karl Pawek in seiner Dissertation von 1972 sind es über 330 Aufsätze, Aufrufe und Vorworte. Hierbei sind die Sammelbände »Der Haß«, »Es kommt der Tag« und »Mut« noch nicht berücksichtigt.[12] Er ist in nahezu allen relevanten Zeitschriften des Exils vertreten. Eine besondere Tätigkeit Heinrich Manns in den Jahren 1935-1939 liegt in seiner Tätigkeit für die Volksfront. Er ist also nicht nur literarisch, sondern auch politisch tätig. Getreu seinem Leitmotiv der Einheit von Geist und Tat. Das Scheitern dieser Bemühungen wird in der Literatur unterschiedlich gesehen und bewertet. Dabei geht es nicht nur um den Blick westlicher Forscher*innen oder (ehemaliger) DDR-Forscher*innen, sondern auch um die jeweilige politische Perspektive in Bezug auf das Handeln der partei-politisch einzuschätzenden Personen.[13]

Viele Schriftsteller im Exil wandten sich der Verfassung sogenannter historischer Romane zu. Hans Mayer stellt in seinem Beitrag »Heinrich Manns „Henri Quatre“« fest: „Die meisten Emigrationsschriftsteller suchten sich Themen und Gestalten woran sie Gegenwartskonflikte zwischen Humanität und Antihumanität sozusagen auf dem „neutralen“ geschichtlichen Terrain abhandeln konnten. Die meisten Schriftsteller waren und blieben bürgerliche Autoren. Für sie wurde plötzlich, trotz der ironischen Warnung eines Friedrich Hebbel, der Schriftsteller zum „Auferstehungsengel der Geschichte“.[14] Über das Sujet des historischen Romans hat es umfangreiche, spannende Auseinandersetzungen gegeben. In diesem Kontext zu nennen sind insbesondere die Betrachtungen Lion Feuchtwangers und Georg Lukács auf den sich Hans Mayer – nicht das Buch, aber andere Analysen kennend – unausgesprochen bezieht.[15]

Heinrich Manns zweibändiges Romanwerk ist nach Mayers Auffassung ein echter historischer Roman, der nicht mit zwanghaftem Vergleichsblick auf die aktuelle Entwicklung geschrieben ist. Wie der berühmte »Untertan«, der das kaiserliche Deutschland betrifft, aber schon die Perspektive auf den kommenden Faschismus hat, zielt auch der »Henri Quatre« auf die Gegenwart. Quasi in Form eines Gegenentwurfs. Die Politik des französischen Königs zielt auf „Respekt vor dem Leben und Glück der Mitmenschen, (sowie) die Sorge für das Glück des Volkes.“

Der “Henri Quatre” als Kopfstütze (Foto HB)

Explizit am Ende des Buches, in der „Moralité“ aus einer Wolke, die von einem Blitzstrahl erhellt wird, spricht Henri Quatre und mit ihm auch Heinrich Mann in die Gegenwart: „… ich bin nicht tot. Ich lebe, und doch nicht auf eine übernatürliche Weise. Ihr setzt mein Werk fort. Bewahrt euch all euren Mut, mitten im fürchterlichen Handgemenge, in dem so viele mächtige Feinde euch bedrohen. Es gibt immer Unterdrücker des Volkes, die habe ich schon zu meiner Zeit nicht geliebt; kaum, daß sie ihr Kleid gewechselt haben, keineswegs aber ihr Gesicht (ihre Grundhaltung, HM) … Fürchtet euch nicht vor den Messern, die man gegen euch zückt. Ich habe sie grundlos gefürchtet. Macht es besser als ich.“[16]

Sehr zu Recht hat Jeanine Meerapfel, die Präsidentin der Akademie der Künste, in ihrer Video-Ansprache zum 150. Geburtstag Heinrich Manns die Bedeutung des »Henri Quatre« herausgestellt. Zu danken ist ihr und anderen Einrichtungen, die das literarische Erbe Heinrich Manns hüten, dass alle Quellen nun digital zugänglich gemacht werden.[17] Den ersten Eindruck gibt eine virtuelle Ausstellung (siehe: https://www.heinrich-mann-digital.net/HMD/). Wen es mehr zum gedruckten Buch zieht, sei auf die Neuausgabe des »Professor Unrat« mit Bildern von Martin Stark erschienen in der Büchergilde Gutenberg verwiesen.

[1] Hans Mayer, Die Größe Heinrich Manns, in: Abend der Vernunft, Frankfurt am Main 1990, S. 179-195
[2] Alfred Kantorowicz, Heinrich Manns Vermächtnis, in Sonderheft Text und Kritik Heinrich Mann, München 1971, S. 15-33, hier S.30
[3] Zitiert nach Sonderheft Heinrich Mann, S. 123
[4] Heinrich Mann, Verteidigung der Kultur – Antifaschistische Streitschriften und Essays, Berlin und Weimar 21973, S. 126 und 128
[5] Heinrich Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, Berlin 1973, S. 181
[6] Heinrich Mann, Geist und Tat, in: Essays Erster Band, herausgegeben von Alfred Kantorowicz, Berlin 1954, S. 7-14, hier S. 8 und 11
[7] A.a.O., S.13
[8] Hans Mayer, Französisch-deutsche Spannungen: Thomas und Heinrich Mann Tübinger Universitätsvortrag 1985, in: Bürgerliche Endzeit – Reden und Vorträge 1980 bis 2000, Frankfurt am Main 2000, S. 43-63, hier S. 48f
[9] Heinrich Mann, Zola, in: Heinrich Mann, Essays – Erster Band, Berlin 1954 herausgegeben von Alfred Kantorowicz, S. 197
[10] A.a.O., S. 487
[11] Heinrich Mann, Essays und Publizistik Band 5 1930 bis Februar 1933, herausgegeben von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel, Bielefeld 2009, S.456f. Der Aufruf erschien zuerst in der von Willi Eichler herausgegebenen Zeitschrift »Der Funke« und wurde dann auch als Plakat verbreitet. Es wurde für die Reichstagswahlen am 5. März 1933 erneut verbreitet. Das Plakat wurde der Anlass für den am 15. Februar erzwungenen Austritt Heinrich Manns aus der Akademie der Künste.
[12] Siehe Karl Pawek, Heinrich Manns Kampf gegen den Faschismus im französischen Exil 1933-1940, Hamburg 1972, S. 35 ff
[13] Differenzierte Darstellungen finden sich bei Pawek in der genannten Publikation und Gerd Bauer/ Peter Stein in ihrem Beitrag „Heinrich Mann im Exil. Standort und Kampf für die deutsche Volksfront“, in: Lutz Winkler (Hrsg.) Antifaschistische Literatur – Programme Autoren Werke Band 1Kronberg Taunus 1977, S. 53-141. Siehe auch Willi Jasper im Nachwort zu der Ausgabe Heinrich Manns Mut vom März 1991 bei Fischer, S. 305ff und Willi Jasper, Heinrich Mann und die Volksfrontdiskussion, Bern 1982
[14] Hans Mayer, Heinrich Manns „Henri Quatre“ in: ders. Deutsche Literatur und Weltliteratur, Berlin 1957, S. 682-689, hier, S. 682
[15] Lion Feuchtwanger, Das Haus der Desdemona, Rudolstadt 1969 und Georg Lukács, Der historische Roman, Berlin 1955
[16] Übertragung der französischen Texte ins Deutsche im Anhang der von Alfred Kantorowicz herausgegebenen Ausgabe des „Henri Quatre“, Berlin 1952
[17] Siehe https://www.adk.de/de/programm/?we_objectID=62124

Karola Bloch und Hans Mayer: Eine spannungsreiche persönlich-politische Freundschaft

Zum 114. Geburtstag von Hans Mayer am 19. März 2021

Im Kreis der Freunde der Blochschen Philosophie hielt sich in Tübingen lange Jahre eine humorvoll-tiefgründige Anekdote, die sich im Weitererzählen immer wieder wandelte. Mal trug sie sich Mitte der sechziger Jahre zu, dann wieder ein Jahrzehnt später, mal waren die Beteiligten zu Fuß unterwegs, mal im Auto. Doch immer ging es um Hans Mayer und Walter Jens. Der Überlieferung nach waren beide auf dem Weg zur Wohnung von Ernst und Karola Bloch. Der Pfeife rauchende Philosoph mit den weißen Haaren hatte eingeladen. Da habe – so ging es von Mund zu Mund – kurz vor der Ankunft an der Wohnung Walter Jens zu Hans Mayer gesagt: „Karola ist heute auch da.“ Dieser nüchternen Botschaft setzte Hans Mayer erschrocken entgegen: „Da kommen wir ja wieder nicht zu Wort.“ Mayers vermeintlicher Schrecken gründete dabei explizit nicht in einem oberflächlichen Vorwurf, dass da eine Frau zu viel redete. Nein, es war eher die geringe Anzahl der Worte jener selbstbewussten Architektin, der es immer wieder gelang, kurzen Bemerkungen eine ungewöhnliche Schärfe beizugeben. Sie hatte es gelernt, sich im Beruf als Frau durchzusetzen. Sie nahm kein Blatt vor den Mund und konnte sehr direkt sein. Diese Schärfe war es, die die beiden geladenen Gäste so fürchteten.

Mit Hans Mayer verband Karola Bloch eine besondere, sich immer wieder anfeuernde und danach entspannende persönlich-politische Freundschaft. Beide waren sich in ihren Leipziger Zeiten begegnet, als es noch Hoffnungen auf ein anderes, besseres Deutschland gab. Sie schätzten sich und kritisierten den politischen Kurs sowie die mangelnde Sachkompetenz der SED-Führung. Als die Blochs 1961 nach dem Mauerbau von einem Aufenthalt in Bayreuth nicht mehr nach Leipzig[1] zurückkehrten, war Mayer entsetzt und in tiefem Maße enttäuscht. Die Freundschaft war plötzlich zerrissen. Mayer wollte seine Opposition vor allem innerhalb der DDR fortsetzen und solidarisierte sich mit dem von der SED hart bedrängten Bloch-Assistenten Jürgen Teller. In einem Brief schrieb Teller an die Blochs, wie der „Literaturfreund“ – gemeint war Hans Mayer – sich für ihn stark machte.[2] Doch schon zwei Jahre später gab Mayer auf und wechselte in die BRD. Die Mischung aus Enttäuschung und der erlittenen Einsicht, doch dem Blochschen Weg gefolgt zu sein, beeinträchtigten das Verhältnis zwischen ihm und Karola Bloch.

In den sechziger Jahren setzte sich die engagierte BRD-Kritikerin für Hans Mayer ein und verschaffte ihm Zugang zu weiteren Verlags- und Buchhandelsaktivitäten. Zu einem bitteren Bruch kam es nach dem Tode von Ernst Bloch am 4. August 1977. Karola Bloch entschied, dass bei der Trauerfeier Helmut Fahrenbach, Walter Jens, Oskar Negt, Rudi Dutschke und Peter Huchel sprechen sollten, nicht aber Hans Mayer. Mayer war tief verletzt und zog sich zurück. Das Verhältnis zwischen beiden kühlte stark ab. In einem heimlichen Brief an Jürgen Teller in Leipzig schrieb sie noch 1987: „Zum großen Verdruss von Hans Mayer, der so erzürnte, dass er den Verkehr mit mir und Jensens abbrach. Aber das habe ich überwunden. So klug H. M. ist, so unerfreulich ist er charakterlich.“[3]

Karola Bloch gratuliert Hans Mayer zur Verleihung des Ernst-Bloch-Preises 1988                           (Foto: Welf Schröter)

So spitz Karola Bloch in ihrer Wortwahl manchmal war, so sehr konnte sie mit großer Herzlichkeit auf jemand zugehen. Sie brach das Eis zu Hans Mayer, in dem sie ihm mit einer besonderen Geste entgegen kam. Sie hatte als Architektin ihren Beruf aufgegeben, als die Blochs 1961 nach Tübingen wechselten. Nur einmal noch nahm sie ihre berufliche Tätigkeit auf: Sie bot Hans Mayer, nach dessen Umzug in die Neckarstadt, an, ihm mit dem Blick einer dem Bauhaus verbundenen Architektin sein neues Zuhause in Tübingen einzurichten. Das Eis schmolz dahin. Als weitere Geste hatte sich Karola Bloch, dafür ausgesprochen, Hans Mayer den Ernst-Bloch-Preis der Stadt Ludwigshafen zu verleihen. Zur Preisverleihung an ihn im Jahr 1988 reiste sie persönlich an. Der Schlusssatz seiner Dankesrede, mit der er den Ernst-Bloch-Preis entgegen nahm, lautete in Mayerscher Klarheit: „Karola, wir danken Dir für dein Leben mit Ernst Bloch.“[4]

Als schließlich Hans Mayer Karola Bloch zu ihrem 84. Geburtstag am 22. Januar 1989 persönlich in ihrer Wohnung gratulierte, war die Freundschaft endgültig wieder hergestellt. Das Gespräch zwischen beiden an diesem Tag verlief allerdings etwas einseitig. Mit Leidenschaft erzählte Hans Mayer von seinen Büchern, Aufsätzen, Reden und Auftritten. Karola Bloch hörte ihm gelassen und lächelnd zu. Sie kam gar nicht zu Wort. Sie wollte ihn aber auch gar nicht unterbrechen, denn sie genoss es, dass er ihr und Julie Gastl[5] sowie mehreren anderen Gäste so große Aufmerksamkeit schenkte.

Als Karola Bloch am 31. Juli 1994 starb griff Hans Mayer seinerseits zu einer außerordentlichen Geste. Nach seiner Abschied nehmenden Rede neben dem Sarg der Toten, in der er auch Kritik nicht aussparte, ging er einige Schritte vor den Sarg, verharrte mehrere Momente still und verbeugte sich tief. Eine große Würdigung. Auf keine andere Weise hätte er Karola Bloch jenen Respekt erweisen können, den er ihr trotz aller vergangener Turbulenzen bezeugte. Hans Mayer verneigte sich vor einer Frau, die ihm solidarisch eng verbunden geblieben war.

Welf Schröter, März 2021

[1] Welf Schröter: „Sonst ist es fein still auf dem schneebedeckten Brachland Pachulkistans“ – Widerstehen durch die Mauer hindurch. Der deutsch-deutsche Briefwechsel von Johanna & Jürgen Teller (Leipzig) mit Ernst & Karola Bloch (Tübingen). Zum 20. Todestag von Jürgen Teller. In: Heidi Beutin, Wolfgang Beutin, Heinrich Bleicher-Nagelsmann, Michael Walter, Claudia Wörmann-Adam (Hg.): „Widerstand ist nichts als Hoffnung“. Widerständigkeit für Freiheit, Menschenrechte, Humanität und Frieden. Mössingen 2021,
S. 301–317.
[2] Brief von Jürgen Teller aus dem Januar 1963. In: Jan Robert Bloch, Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Briefe durch die Mauer. Briefwechsel (1954 – 1998) zwischen Ernst & Karola Bloch und Jürgen & Johanna Teller. Talheimer Verlag, Mössingen 2009, S. 64.
[3] Brief Karola Blochs an Jürgen und Johanna Teller vom 19.6.1987. In: Irene Scherer, Welf Schröter (Hg.): Etwas, das in die Phantasie greift.“ Briefe von Karola Bloch an Siegfried Unseld und Jürgen Teller. Talheimer Verlag, Mössingen 2015,
S. 312.
[4] Hans Mayer: Ernst Bloch in der Geschichte. Für Karola Bloch. In: Anne Frommann, Welf Schröter (Hg.): Karola Bloch. Die Sehnsucht des Menschen, ein wirklicher Mensch zu werden. Reden und Schriften. Talheimer Verlag, Mössingen 1989, S. 155.
[5] Die Buchhändlerin Julie Gastl (1908-1999) gehörte zum Freundeskreis von Ernst und Karola Bloch in Tübingen. Sie ermöglichte das Verbleiben der Blochs in Tübingen 1961 maßgeblich.

Forderung der Enkelinnen Benjamins akzeptiert

In der vergangenen Woche erreicht uns durch Dr. Madeleine Claus die Nachricht, dass das Zentrum für zeitgenössische Kunst“ in Perpignan nicht mehr den Namen Walter Benjamins tragen wird. Die Mehrheit im Stadtrat hatte dies in einer Sitzung am 16. Februar beschlossen. Damit wurde der Forderung der Enkelinnen Mona und Kim Benjamin entsprochen. Sie hatten in einem Brief vom 7. September 2020 an den Bürgermeister Aliot gegen die Neueröffnung und weitere Nutzung des Zentrums unter dem Namen Walter Benjamin Einspruch erhoben. Geschickt nutze Aliot in der Rats-Sitzung Teile des Briefes, um den schwarzen Peter seinen Vorgängern in die Schuhe zu schieben. Was er nicht thematisierte, waren die eigentlichen Gründe für den Brief nämlich die Vereinnahmung des Namens Walter Benjamins für seine Strategie der “Entdiabolisierung” des »Rassemblement Nationale«. Siehe hierzu den Beitrag „Gegen den Affront der extremen Rechten“.

Der Kulturdirektor, Jordi Vidal, der damals 2013 mit anderen den Namen Walter Benjamin durchgesetzt hatte, verschweigt in seiner Stellungnahme in der Zeitung die im Wahlprogramm Aliots 2020 angeführte Konzeption eines nach seinen Vorstellungen geplanten Museums im Zentrum für zeitgenössische Kunst“. (siehe hierzu den Beitrag »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein«)

Die Ausstellungen in diesem Museum hätten mit Sicherheit einer Konzeption rechten Denkens entsprochen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach der Amtszeit Aliots weitergewirkt.

Das Kulturzentrum noch mit dem Namen Walter Benjamin (Foto: Josiana Ferranti)
Das Kulturzentrum noch mit dem Namen Walter Benjamin                (Foto: Josiana Ferranti)


Nachfolgend der Beitrag aus L ´ Independent vom 8. März 2021:

Perpignan: Walter Benjamin ist nicht mehr der Name des Zentrums für zeitgenössische Kunst“

L ´ Independent, publiziert am 08/03/2021

Die Familie des deutschen Philosophen, der im September 1940 nahe der spanischen Grenze auf der Flucht vor dem Nazi-Regime starb, hat ihre Forderung durchsetzen können. Der RN-Bürgermeister wird den Namen Walter Benjamin entfernen.

Die Ankündigung erfolgte durch den RN-Bürgermeister Louis Aliot während der Gemeinderatssitzung am 16. Februar. Auf die Frage eines Oppositionspolitikers bestätigte er, dass der Name “Walter Benjamin verschwinden wird”. Bereits im Juli 2020, wenige Wochen nach seiner Wahl, nahmen eine Vereinigung von Intellektuellen und die Familie von Walter Benjamin Anstoß an einer möglichen Wiedereröffnung des 2013 eingeweihten Etablissements am Place du Pont-d’en-Vestit. Sie erklärten “die Dringlichkeit, den Namen Walter Benjamins den Händen der extremen Rechten und all derer zu entreißen, die die Geschichte umschreiben.

Diese Positionen wurden zunächst von Louis Aliot beiseite gewischt, bevor ein Brief der rechtmäßigen Eigentümer, der Enkelinnen des Philosophen, Mona und Kim Benjamin, im September, in dem sie erneut um die Rücknahme des Namens baten, die städtische Mehrheit schließlich davon überzeugte, dieser Forderung zuzustimmen.

Aber um dies zu rechtfertigen, beschuldigte Louis Aliot die ehemalige Gemeinde. In der Stadtratssitzung Auszüge aus diesem Brief aufgreifend, wollte er die Verantwortung für ein so symbolträchtiges Ereignis nicht übernehmen, indem er die Angriffe, denen er durch Mitglieder des Vereins und der Familie ausgesetzt war, nicht erwähnte. “Dass der Name von Walter Benjamin verschwindet, liegt seiner Meinung nach nicht am Rathaus, sondern an der Arroganz des früheren Rathauses, das diesen Namen vergeben hatte, ohne die Familie um Erlaubnis zu fragen”.

Dieses Argument wurde von den beiden Enkelinnen Walter Benjamins verspottet, die sagten, sie fänden “die Wendung der Ereignisse interessant, und insbesondere die Tatsache, dass Louis Aliot die Dinge umdreht, indem er beschließt, die ganze Affäre seinem Vorgänger in die Schuhe zu schieben.

Der Name Walter Benjamin war noch nie Konsens. Zu der Zeit, im Jahr 2013, wird bereits über den Namen debattiert und es ist der damalige Bürgermeister Jean-Marc Pujol, der zwischen seinem konservativen Flügel vermitteln wird, der den Namen von Pierre Restany, einem engagierten Kunstkritiker und gebürtigen Amélie-les-Bains, will, während der Kulturdirektor Jordi Vidal und der Abgeordnete Maurice Halimi für den Namen des deutschen Philosophen streiten. Zu dieser Zeit begann außerdem der Rechtsdienst der Gemeinde mit der Suche nach den rechtmäßigen Eigentümern.

“Inakzeptable Neubenennung”

Zehn Jahre später und nach dieser neuen Wendung verbergen diese beiden Persönlichkeiten ihre “Wut” und “Traurigkeit” vor dieser zukünftigen Neubenennung nicht. Sie bleiben kritisch gegenüber der Wahl der Familie, die in einer Zusammenstellung, “ohne den Ort besucht zu haben”, den Bürgern von Perpignan die Symbolik der Namensgebung für das Gebäude vorenthält. “Es ging darum, die Bedeutung des Philosophen im Kontext der Krisen zu zeigen, die wir gerade durchleben, und wo seine Reflexion über die Geschichte mit der Gegenwart in Resonanz steht”, erklärt Jordi Vidal. Es war das erste Mal in der Welt, dass ein Kunstzentrum seinen Namen trug. Wir sind es ihm schuldig, das 20. Jahrhundert ein wenig besser zu verstehen. Aber es stimmt, dass in Perpignan die Benennung eines Zentrums für zeitgenössische Kunst nach Walter Benjamin bedeutet, die Stadt aus der Last des Lokalismus zu befreien und sie für einmal dem Universellen zuzuwenden.

Was die Wahl der Familie betrifft, so hält Jordi Vidal sie, wie mehrere Intellektuelle aus Perpignan, für “unzulässig und widersprüchlich zum Denken Walter Benjamins und der Art und Weise, wie er gegen Barbarei und Ignoranz kämpfte. Walter Benjamin wird länger bleiben als Louis Aliot. Dass sich die Familie mit dieser Entscheidung, den Namen zu entfernen, schmeichelt, ist mehr als problematisch. Es ist das Zeichen eines Parisianismus, der auf dem Territorium operiert und der nicht versteht, dass nur weil Perpignan einen rechtsextremen Bürgermeister hat, das nicht bedeutet, dass die ganze Stadt rechtsextrem ist.

Das Kunstzentrum wurde in ein Geschäft transformiert: Das Rathaus spricht von einem Missverständnis

Hatte der erste Beigeordnete Charles Pons in den Spalten des L ´Independent noch das gemeinsame Interesse der Stadtverwaltung und eines italienischen Konfektionshauses erwähnt, “sich im Kunstzentrum Walter Benjamin anzusiedeln”, so scheint es nun, dass die Schlichtungen von Louis Aliot auf einen Erhalt des zeitgenössischen Kunstzentrums hinauslaufen, das allerdings keinen neuen Namen tragen soll. Das bestätigt auch der Kulturdezernent André Bonet, der auf Missverständnisse und Fehlinterpretationen in dieser Sache hinweist. “Wir werden versuchen, den Ort zum Strahlen zu bringen. Es bleibt ein Zentrum für zeitgenössische Kunst mit durchdachten Kooperationen mit verschiedenen Partnern, wobei man weiß, dass Brücken zum nur einen Steinwurf entfernten Museum Hyacinthe-Rigaud geschlagen werden können”. Was Bürgermeister Louis Aliot betrifft, so ist er vorsichtiger und sagt, dass “eine Diskussion im Mehrheitsrat, um die verschiedenen Möglichkeiten für die Zukunft des Ortes zu prüfen, bald stattfinden wird.”

 Julien Marion

Link zu der Ausgabe vom 9.3.2021, in der der Printbeitrag veröffentlicht ist.

»Das Werk lobt den Meister«

Zum 175. Geburtstag Franz Mehrings und seiner»Lessing-Legende«

Gründe für die Neuausgabe dieses Buches sind: „Die Ehrfurcht vor dem Andenken eines großen und zeitgemäßen Historikers; die Unzugänglichkeit gerade dieses Werkes infolge der Zeitumstände; die besondere Aktualität eben dieses Buches von der «Lessing-Legende» in eben diesem Augenblick.“[1] Mit diesen Worten begründet der Herausgeber Hans Mayer im Jahr 1946 die neue und revidierte Ausgabe des Buches von Franz Mehring im Mundus-Verlag Basel.

Die 1946 von Hans Mayer herausgegebene Lessing-Legende
Die 1946 von Hans Mayer herausgegebene Lessing-Legende (Foto: HB)

Der noch im Züricher Exil lebende Hans Mayer fährt fort: „Die Aktualität dieser Mehring-Schrift ergibt sich schon daraus, daß sie gleichsam den Schnittpunkt einer Reihe höchst gegenwärtiger Themen darstellt. Stärker denn je fragt sich die Welt nach den Ursachen einer immer wieder neu hervorbrechenden zynischen Rechtsfeindschaft und Eroberungsgier, deren Ahnentafel durch die Namen des Königs Fridericus, Bismarcks, Ludendorffs und Hitlers dargestellt zu sein scheint. Das Wesen dieses Fridericus-Staates mit den Augen und den unbestechlichen Kenntnissen eines Mehring zu betrachten, ist daher eine wesentliche Aufgabe unserer Zeit.“[2]

Franz Mehring wurde am 27. Februar 1846 als Sohn eines ehemaligen Offiziers und höheren Steuerbeamten und dessen Frau Henriette, geboren. Er studierte klassische Philologie in Leipzig und wurde 1882 an der Universität Leipzig über das Thema „Die deutsche Sozialdemokratie. Ihre Geschichte und ihre Lehre“ promoviert. Er arbeitete als Journalist bei verschiedenen Zeitungen und war zwischen den Jahren 1890 und 1918 der wichtigste marxistische Kulturkritiker und Historiker. 1891 trat Mehring der Sozialdemokratischen Partei bei und wurde einer ihrer wichtigsten Publizisten und Theoretiker auf dem linken Flügel.

Nach einer sehr gelobten Serie in der »Neuen Zeit« erschien die Buchausgabe der »Lessing-Legende« in erweiterter Buchfassung 1893 in erster und 1906 in zweiter Auflage mit dem Untertitel „Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur“. Gewidmet war das Buch „seiner lieben Frau Eva Mehring der treuen Gefährtin in Arbeit und Kampf.“

Nach dem Tod Mehrings am 29. Januar 1919 in Berlin (nur wenige Tage nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs) waren dessen Hauptwerke über die »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«, die »Marx-Biographie« und auch die »Lessing-Legende« noch gut verfügbar. Einer neuen Auflage der »Lessing-Legende« in der Ende der zwanziger Jahre begonnen neuen Gesamtausgabe der Werke Mehrings in der Soziologischen Verlagsanstalt mit Einleitungen von August Thalheimer und begleitet von Eduard Fuchs auf der Basis neuer marxistischer Forschungen, stellten sich die alten sozialdemokratischen Herausgeber entgegen. Nach der Zeit des Nazifaschismus und dem zweiten Weltkrieg herrschte somit Tabula rasa. Für Mayer also ein wesentlicher weiterer Grund für die Herausgabe der »Lessing-Legende«. Entschlackt allerdings von allen Auseinandersetzungen die Mehring in seiner 1. und 2. Buchausgabe mit zeitgenössischen Historikern und Literaturhistorikern geführt hatte. [3]

In wenigen kurzen Charakterisierungen bringt Mayer die wesentlichen Aspekte der »Lessing-Legende« in der Einleitung auf den Punkt. “Wie alle Legenden, zerfällt sie in kleinere Geschichtsfälschungen, aus denen dann der Mythos, der später «geglaubte» Gemeinplatz wird. Die eigentliche Lessinglegende hat drei besondere Legendenelemente – und Mehring legt sie meisterhaft auseinander. Da ist einmal die «Fredericus-Legende». … Mit Vorliebe arbeitet sie mit dem Wort vom «aufgeklärten Despotismus» des Preußenkönigs, wonach dieser Monarch seine von den Zeitgenossen als fast unerträglich empfundene Tyrannei und Willkür nicht zum Zwecke der eigenen Macht- und Herrschaftsziele ausgeübt hätte, sondern aus königlich-verkleideter Freigeisterei und Humanität. Friedrich wird … zu einer Art von gekröntem Humanisten und Freigeist, zu einer Art Lessing aus dem Hause Hohenzollern, der …insgeheim die bürgerlichen Emanzipations- und Freiheitsziele vertreten habe.
Auf der Gegenseite entspricht dem die Kennzeichnung Lessings als eines anerkannten und erfolgreichen Vertreters der deutschen bürgerlichen Ideale und Interessen, denen gerade jene Schichten, deren Ziele hier ausgesprochen wurden, von Anfang an willig und begeistert Gefolgschaft geleistet hätten.
Und aus beiden entsteht nun die dritte, die eigentliche Lessing-Legende: Friedrich und Lessing, der aufgeklärte bürgerliche Monarch und der patriotisch-preußische bürgerliche Schriftsteller hätten einander gesucht und gefunden. Der Preußenstaat Friedrichs II. als die Tat zu eines Lessings Gedanken! Aus einem sächsischen Untertan sei Lessing zum Verherrlicher dieses preußischen Staates und seines Königs geworden. Der Staat von Sanssouci als erste Form eines bürgerlich-emanzipierten Staates in Deutschland – und Lessing als sein Prophet!“[4]

Ein Band zur Literatur aus der Gesamtausgabe der 20ger Jahre (Foto HB)
Ein Band zur Literatur aus der Gesamtausgabe der 20ger Jahre

Ist einerseits also der „preußischen Despotismus“ in der Linie von König Fridericus bis Hitler an Mehrings Werk zu studieren, dient es andererseits in Bezug auf die Gegenwart zur Analyse des „unerklärlichen geistigen Absturz des deutschen bürgerlichen Humanismus, der bei Lessing sich wiederzuerkennen behauptete, auf den Geist von Weimar sich zu berufen pflegte – um in Weimars Nähe, in Buchenwald, zu landen. Was aber taugt eine Geschichtswissenschaft, die nicht diesen Verrat der bürgerlichen Schichten an Lessing und am gesamten großen Kulturerbe nicht zu erklären vermöchte!“[5]

Über Mehrings Analyse hinaus bleibt für Mayer dann noch die Frage nach der Funktion und dem Sinn dieser Legendenbildung. Wenn quasi durch Generationen von Gelehrten an dieser Legende gestrickt wird müsse damit eine „bestimmte geschichtlich-historische Aufgabenstellung“ verbunden sein. Es sind die Wurzeln der deutschen «Misere», die Friedrich Engels darin konstatiert, dass „die wirtschaftlich- politische Zusammenarbeit zwischen der deutschen Bourgeoisie des Kaiserreichs und dessen militärisch-feudalen Trägern“ der Grund des Übels ist; verbunden mit dem Machtverzicht des Bürgertums auf die politische Leitung des Staates.

In einem Brief vom 14. Juli 1893 aus London lobt Friedrich Engels das Werk Mehrings nachdrücklich: „Im übrigen kann ich von dem Buch nur wiederholen, was ich schon von den Artikeln, als sie in der „N[euen] Z[eit]” erschienen, wiederholt gesagt habe: Es ist bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staats, die existiert, ja ich kann wohl sagen, die einzig gute, die in den meisten Dingen bis in die Einzelheiten hinein richtig die Zusammenhänge ent­wickelnde. Man bedauert nur, daß Sie nicht auch gleich die ganze Weiter­entwicklung bis auf Bismarck haben mit hineinnehmen können, und hofft unwillkürlich, daß Sie dies ein andermal tun und das Gesamtbild im Zu­sammenhang darstellen werden vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm bis zum alten Wilhelm.“[6]

Die »Lessing-Legende« als eine der wichtigsten Schriften Mehrings findet – außer als Literaturhinweis – in dem einschlägigen Wikipedia-Eintrag keine Beachtung. Ein längerer Abschnitt widmet sich aber dem Verhältnis Mehrings zum Judentum. Die Mehrheit der angeführten Autoren, wie Micha Brumlik, Robert S. Wistrich und Shlomo Na’aman kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Waagschalen trotz mehrfacher einzelner Zitate, die auch Götz Aly anführt, nicht als anitisemitische Haltung Mehrings interpretiert werden können. Im Jahr der Feier von 1700 Jahre jüdischen Lebens in Deutschland könnte es interessant sein, diesen Sachverhalt auch in Bezug auf Mehrings Position zu Lessing und seinem »Nathan« näher zu betrachten. Mehrings Beitrag dazu endet mit einem Wort Herders zu Lessing: Ich sage Ihnen kein Wort Lob über das Stück; das Werk lobt den Meister.“

[1] Franz Mehring „Die Lessing Legende“ – neu und revidiert herausgegeben von Hans Mayer, Basel 1946, S. 13
[2] A.a.O., S. 17
[3] In der 1975 und dann in den Folgejahren in der DDR herausgegebenen Ausgabe der »Lessing-Legende« als Band 9 der Gesammelten Schriften findet sich auch ein Hinweis auf die Baseler Buchausgabe Hans Mayers in gekürzter Fassung.
[4] A.a.O., S. 15f
[5] A.a.O., S. 18f
[6] Der Brief, der sich auch mit weiteren inhaltlichen Fragen beschäftigt, findet sich in MEW Band 39, Dietz-Verlag Berlin, 1968 S. 96-101